Mathias Jeschke

Phoenicurus ochruros

Der fidele Hausrotschwanz umgibt dich mit
Geknickse und Gewippe. Sein Gesicht unter
der schwarzen Haube meinst du schon lange
zu kennen. Es wirkt vertraut wie ein alter
Brief, den du im Leben nicht mehr vergisst.

Was sagen die Zeilen, die Zeichen, das Zittern?
Es riecht nach blühenden Linden, das Laken
der Nacht, es flattert wie eine knatternde
Flagge, ein Hoheitszeichen. Doch wo ist
das Land, wo der Boden, auf dem du stehst?

Welcher Verheißung fällst du anheim und wo
sind die Erlöse der Unruh? Du wanderst
im Garten umher und wirst von dem Vogel
umlagert, als wüsste er, dass es nicht gut wär,
dich in diesem Zustand alleine zu lassen.

Lange dachtest du nicht mehr an jenen Brief
Nun kniest du vor der knarrenden Truhe und
wühlst dich durch die vergessenen Schichten.
Da fällt dir ein Auge ins Auge und eine Brust
in die Hand, du fühlst einst verheißenes Land.

23. Juli 2014 19:38










Sylvia Geist

Charl-Pierre Naudé

Der weißeste Strand

Man kann sehen, wie der Fluss
mit der Zeit den Kurs geändert hat;
die Trennlinie zwischen hier und da.

Das Ufer, an dem ich gerade stehe,
war sonst immer die andere Seite.
Und in die beiden Gegenrichtungen gestreckt,
ist alles, was du siehst, makellosester Strand.

Nicht weit von hier auf offener See
schmetterte so um Fünfzehnhundert herum
ein Sturm Bartholomeu Dias‘
kleine kristallene Karavelle,
(völlig durchschaubar bis auf den heutigen Tag),
gegen widrige Klippen.
Das Schicksal übergab das klirrende
Seewägelchen mit seiner Takelung, gewirkten,
an Kreuze genagelten Zierdeckchen,
dem Grund des Ozeans.
Das Wasser heulte wie Wölfe,
die durch die Tülle einer Teekanne geschüttet werden.

Das “Hier-Sein” und das “Da-Sein” …
Die Strandlopers* sind längst darauf gestoßen.

Und späterhin, welcher Abschnitt unserer Küste
entging diesen Teilungen?
Hier: “Nur Weiße”. Da drüben, verbannt (irgendwo): “Nicht-Weiße”.
Die allerersten Linien wurden an den Stränden gezogen:
Auf einer Seite Kolonistenbanden, zusammengeschweißt in einer Art
Club wie in einer Tüte, aus der Pulverfürze knallten;
und auf der anderen Seite die Versenkten,
die menschlichen Wachteln, die: wandernder Sand.

Scherben einer Kanne.
Komplotte der Väter. Vielgeliebte
Ferien am Strand. Der anderen.

Dabei ist doch ganz klar,
wie die Ufer die Plätze tauschten.

Jahrelang dachte ich immer wieder zurück
an einen schmerzlichen Vorfall zwischen mir und meinem Vater
– der inzwischen, wie man so sagt, “hinüber gegangen” ist -,
mit Groll, sogar Hass;
voller Selbstgerechtigkeit.
Eines schönen Morgens aber wachte ich auf
und versuchte mich ein letztes Mal
mit Sturheit vollzusaugen.
Vergeblich.
Was stattdessen übrigblieb,
war Sanftmut, die Nieselregensanftmut
ersten Begreifens.
Und das
durchtränkte alles.

Genau dann entdeckst du dich
auf der anderen Seite;
während du schon immer auf dieser Seite warst.
So wie die Toten,
geblendet
vom endlosen, nahtlosen, makellosesten Strand.

Vielleicht ist es dies,
was man Vergebung nennt.

*

* Die Bezeichnung bezieht sich auf die Khoisan, die zur Zeit der ersten Kolonisten am Kap eine der wichtigsten Bevölkerungsgruppen in Südwestafrika darstellten. (Anm. d. Ü.)

21. Juli 2014 22:26










Mathias Jeschke

Erythromma lindenii

Die Pokaljungfer begibt sich zur Paarung
an eines der Schilfrohre, die senkrecht aus
dem Karpfenteich ragen. Du identifizierst
dich mühelos mit dem Azur des Männchens
und findest auch den Ort sehr gut gewählt.

Die Karpfen betätigen sich währenddessen
als Unruhestifter am Grund des Teichs, vier
sind es an der Zahl und kapitale Exemplare.
Die dreihundert Kinder, denen du gestern
deine Geschichten erzählt hast, vor Augen,

denkst du an die dreihundert Menschen, die
über der Ukraine abgeschossen wurden von
einer Rakete russischer Bauart. Von der
Theodizee ganz zu schweigen, was bleibt
nach Tränen, Trauer, Ohnmacht und Tod?

Was für ein Gott, der sich Paarung und Tod
zugleich ausgedacht haben soll! Solch ein
Sommertag stimmt dich versöhnlich, jedoch
wie kommst du klar mit diesem und dem
nächsten Abschuss, Krebstod, Herzinfarkt?

21. Juli 2014 21:18










Christine Langer

Der Kopf

Einer Krähe

Streckte sich
Für den Bruchteil
Einer Sekunde
Vor dem Abflug
Nach vorne:
Hinauslehnen
Ins Offene
Nach oben fallen
Grenzen verlassen
Die Luft hinter sich
Im schwerelosen Hinauf

Wo Erdaugen nur noch
Kreischende Wege kreuzen
Himmel sehen lernen

19. Juli 2014 15:32










Andreas H. Drescher

LINDERUNGSBAUM

Wer ihn zuerst gelebt hat
Den Riss der die Erde ist
Als Partikel vor der Iris

Sonnentag zwischen Gewittern
Das trinkende Schwarz als Opal

Wer das zuerst gelebt hat
Das Klaffen zwischen Ich und Ding
Atmet sich ein Blatt entgegen im

17. Juli 2014 23:04










Hendrik Rost

Kleistsche Bewerbung

I
Wenn Sie mich häuten und an die Wand
hängen, dann entweder als asiatischen
Dämon oder als Papiertiger.

II
Sie können mich als abschreckendes
Beispiel einsetzen: Erfahrung wird
überschätzt. Was wirklich zählt,
ist Trotz und Gedenken.

III
Sie werden mich in dieser Welt
nicht kriegen.

17. Juli 2014 14:29










Mathias Jeschke

Emberiza citrinella

Die Goldammer kommt übers weizenblonde
Feld, das glänzt wie das hochsommerliche
Haar einer lang Verflossenen, die plötzlich
daliegt, als sei die Zeit ein Nichts und dieser
Weg zur Arbeit ein Steg aus warmem Holz.

Sie installiert sich selbst in einem Busch als
Leuchte der Beteuerung: Wie, wie, wie hab
ich dich lieb! Und richtet ihren Strahl auf dein
Gedächtnis. Es kracht in den Synapsen und
Erloschenes kommt unverhofft zum Vorschein.

Du ziehst dir die Sandalen aus und sprichst:
Hier bin ich. Es umfängt dich dieser Sommer
mit feuchter Erde, mit Honig verheißendem
Klee und einer Idee vom zügellosen Leben,
das nackt in die sirrenden Nächte hinausläuft.

Fang dich, die Goldammerlampe erhellt dein
Gesehne, Verlangen, sie scheint dir zur Zier.
Nicht wie ein brennender Dornbusch, doch
wie in der Kapelle das ewige Licht den Raum
erfüllt als Herz und Kern und Gnadensame.

16. Juli 2014 20:28










Mathias Jeschke

Volucella zonaria

Was macht die Hornissenschwebfliege auf
dem weißblütigen Schmetterlingsflieder so
anziehend, als sei sie eine der einnehmend
langmähnigen Spielerfrauen, gewinnendes
Lächeln, schwarz-rot-goldener Stringbikini.

Du gehst vor der wippenden Blütendolde in
die Knie, von der sie den süßen Nektar saugt,
starrst auf das Insekt, als handele es sich um
eine edle Peepshow, wie das Tiki-taka der
Spieler bei dieser Copa do mundo no Brasil.

Jenes Samba-Strandereignis, von dem du dir
ein schickes Häppchen erhoffst, denn springt
nicht immer noch was raus, ja, kommt nicht
immer noch was rum, wenn es mal irgendwo
Gewinner gibt auf dieser überregulierten Welt.

Sogar für den, der sonst nichts zu lachen hat,
der sein letztes Hemd bereits gegeben hat,
um diese zarte Berührung zu spüren, dieses
sanfte Saugen und Ziehen auf seiner schönen,
nackten, immerhin davongekommenen Haut.

14. Juli 2014 15:06










Christine Kappe

geradezu beruhigend

Wir lagen alle erschossen umher. Dann kam der Geheimdienst und wollte aufräumen. „Wer hat hier wen erschossen?“, fragten sie in drohendem Ton. Ich gab vor, das erkenne man doch an der Farbe unserer Jacken. Die ganze Zeit musste ich meinen linken Arm an der Schulter festhalten, weil er sonst heruntergefallen wär. Ich verspürte schrecklichen Durst. Mann war ich erschöpft. Hätte ich vorher gewusst, dass Totsein so anstrengend ist! Unter den Umständen war es geradezu beruhigend, dass sie uns mit Sicherheit festnehmen würden.

10. Juli 2014 12:04










Hans Thill

… von den Wäldern …

(aus Bordeaux) um die eigene Schrift zu lesen, schön krumm,
wie am Hauberg gewachsen, ein Gestrüpp überm weichen
klebrigen Boden. Das ist so schwarz aus der Ferne,
daß man die Gliedertiere nicht
erkennt

vor ihrem Hintergrund oder versteht
was sie sagen könnten. Von den flachen Wäldern der Hardt
haben wir noch die aufsteigende Lust am Zweifel,
der uns Mittags einnimmt im gesiebten
Licht

der Gardinen, ein schwäbisches Verstummen
mitten im Kapitel, Erinnerung an ein Buch des
Dürfens. Von den Wäldern bei Veterano haben wir noch
gehobelte Zeilen, eine Masche, fallengelassen wie ein Viererwort
und ein Ach. Von den wilden
Wäldern

8. Juli 2014 22:32