Andreas Louis Seyerlein

6.36 – Ich hatte ein Gespräch mit einem Freund, der seit vielen Jahren in digitalen Räumen arbeitet, beinahe könnte ich sagen, ich hatte ein Gespräch mit einem Freund, der seit vielen Jahren in digitalen Räumen zu existieren scheint. Zahlreiche seiner Arbeiten verbinden sich mit Arbeiten anderer Menschen, weil man auf ihn verweist, weil man auf ihn wartet, auf Texte, auch auf Bilder, Filme, Geräusche, die er aufnimmt, sobald er etwas Interessantes zu hören meint. Mit jeder Minute der vergehenden Zeit wächst sein elektrischer Schatten. Er macht das ähnlich wie eine New Yorker Fotografin, die stundenlang durch die Stadt spaziert und mit einem iPhone all das fotografiert, was ihr ins Auge fällt. Manchmal sind es hunderte Fotografien an einem einzigen Tag, die nur Sekunden nach Aufnahme von ihrem Fotoapparat, mit dem sie gleichwohl telefonieren kann, an das Flickr – Medium gesendet werden. Mein Freund erzählte, dass er den Eindruck habe, die junge fotografierende Frau in Echtzeit zu beobachten, ihr im Grunde so nah gekommen zu sein, dass er kurz vor Weihnachten fürchtete, etwas Ernsthaftes könnte ihr widerfahren sein, weil drei Tage in Folge keine Fotografie gesendet wurde. Am vierten Tag erkundigte er sich mittels einer E-Mail, die er an Flickr sendete, ob es der schweigsamen Fotografin gut gehe, er mache sich Gedanken oder Sorgen. Man muss das wissen, mein Freund hatte der Fotografin nie zuvor geschrieben, kannte nicht einmal ihren wirklichen Namen, sondern nur ein Pseudonym: Emilia Nabokov No2. Ein halbe Stunde, nachdem die E-Mail gesendet worden war, erschien, als habe ihm die spazierende Künstlerin zur Beruhigung geantwortet, eine Fotografie ohne Titel. Diese Fotografie erzählte davon, dass sich Emilia Nabokov No2 vermutlich nicht in New York aufhielt, sondern in Montauk, weil auf der Fotografie ein Leuchtturm auf einem verschneiten Hügel zu sehen war, der eindeutig zur kleinen Stadt Montauk an der nordöstlichen Spitze Long Islands gehörte. Im Hintergrund das Meer, und vorne, ob nun mit Absicht oder nicht, ein Fuß in einem Gummistiefel von knallroter Farbe. – stop

7.05 – Dass mein Vater älter wurde und müde, war seiner Schrift deutlich anzusehen. Die Buchstaben wurden kleiner, manche standen senkrecht, andere neigten sich einer unsichtbaren Linie zu, auf der sie sich wortweise vorwärts bewegten. Ich könnte sagen, die Schrift meines Vaters wirkte so, als wäre ein Sturm seitwärts über sie hinweggefahren, zerzaust, und doch waren alle notwendigen Buchstaben für jedes der Wörter, die mein Vater geschrieben hatte, gesetzt. Er notierte zuletzt gerne mit Hilfe der Tastatur seiner Computermaschine, das war nicht so anstrengend, er vermochte die Größe der Zeichen zu variieren, so dass er sehen konnte, was er gerade auf den Bildschirm brachte. Einmal musste mein Vater einen Brief unterzeichnen, es war ein Oktobertag, mein Vater wartete lange Zeit vor dem Papier, das auf dem Tisch vor ihm ruhte, hielt den Stift, den man ihm gereicht hatte, in der Hand, betrachtete diesen Stift, drehte ihn zwischen den Fingern, er zögerte den Moment hinaus, da er mit der Aufzeichnung seines Namens beginnen würde. In diesem Moment ahnte ich, dass mein Vater seinen Namen malen würde, dass seine nichtbewusste Signatur, die ein Leben lang gültig gewesen war, nicht länger zu existieren schien, oder dass er unter den Augen eines Beobachters sich nicht länger traute, seine ureigene Signatur auszuführen. Ja, mein Vater fürchtete sich, weil der Wind der vergehenden Zeit seine Schrift erfasste. Sie war einmal eine akkurate Schrift gewesen, eine Schrift wie gedruckt, sie notierte komplizierte mathematische Formeln, ohne je ihre Fassung auf den Papieren zu verlieren. Als Junge beschloss ich, diese Geheimschrift der Zahlen und Wörter zu entschlüsseln, bis sie noch vor meinem Vater selbst zu verschwinden begann. Zurückgeblieben sind nun seine Stifte in einer Schublade: Kugelschreiber, Füllfederhalter, Bleistifte, Buntstifte, auch ein Werkzeug, mit dem man in weisser Farbe notieren kann, vielleicht um zu korrigieren, vielleicht um Nichtsichtbares auf das Papier zu setzen. – stop

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24. Januar 2013 21:17










Christine Kappe

Zustellversuch 2

Wrede 2. Seltsame Angewohnheit, Hauseingänge in Tordurchfahrten zu bauen…. Hier zieht es immer. Die silbernen Knöpfchen der Klingelanlage leuchten, aber klingeln nicht. Wenn es besonders ungemütlich ist, schreibe ich vorher schon „K.E.“ auf die Briefe und steuere Wrede 1 an, denn ich muss mich beeilen, nachher schlafen die Kinder, ohne dass ich mit ihnen geredet habe und ich kann nichts machen, außer mit den Tellern klappern. Die Söhne des Kioskbesitzers rufen mir von weitem etwas zu; der eine hat ein Mädchen dabei, welches jetzt nach links abdriftet, die Söhne verschwinden im Kiosk und kommen mit zwei Dosen Bier und zwei neuen Frisuren wieder heraus. Es ist kurz nach 10.

22. Januar 2013 09:01










Thorsten Krämer

Die weiße Nacht geht vorüber

Noch: Atemholen, Innehalten. Ein Parkplatz-
Panorama kurz nach Mitternacht, die angestrahlten
Zwischenräume. Das neue Jahr macht eine
Kunstpause, still liegt die Welt
wie bei Sendeschluss.
                                        Aber wir
sabotieren den Schnee, schaufeln bei
Morgengrauen unser verstreutes Leben zu.

(für Hellmuth Opitz)

19. Januar 2013 11:18










Sünje Lewejohann

..
15. Januar 2013 09:28










Mirko Bonné

Nach Huchel

Es stimmt, auch ich war mal im glücklichen Garten.
Nur bin ich mir nicht sicher, wo das war
und ob mir Verwandte damit ersparten,
die Schrecken zu sehen, vielleicht für ein Jahr.

*

9. Januar 2013 23:03










Björn Kiehne

Abends am Strand

„Das Benzin reicht bis ans Meer“, sagst du.
Hitzewellen branden durch das offene Fenster,
füllen den Innenraum des Peugeot mit Lavendel, Rosmarin.
Lachend schreiben wir unsere Namen neben den des Sommers.
Du rufst: „Ich kann es riechen!“ und, da ist es.
Salzwasser dringt durch das Karstweiß der Wand,
weicht den Kalk auf, löst ihn wie deine Knochen.
Die Schwester stellt Blumen an den Strand, ihre Blüten
leuchtende Quallen über blauen Laken.
Du, streichst das Meer glatt, lächelst still,
weißt, dass es Abend werden will.

4. Januar 2013 11:56










Hans Thill

13, 31, 44

Die alte Zwölf wird kleingeschnitten,
mit kühlem Brot in einer Wurst
gegessen. Die Berge schmelzen
nicht. Eine Hand, durchs
Fenster eingeflogen, faltet
Taschentücher, Jogginghosen.
Es gibt ein Drittes, heisst es Hunger,
heisst es Nebel? Ein Vogel hat
unzählige Körper, schwer für
die Luft. Das Wetter geht mit
lauten Bäumen durch die Stadt
nach dem heurigen Kalender:
Baktun Katun Tun.

13, 31, 44
Le vieux douze sera haché, mangé
avec le pain froid d´aujourdhui
dans une saucisse. Les montagnes
ne fondront pas. Une main
entrera la fenêtre à plier
mouchoirs et pantalons
en coton. Il y a un troisième,
qui s´appelle faim ou
brouillard 44. L´oiseau a
autant de corps que l´air
pourra porter. Le temps
traverse les cités des arbres
sonores selon un calendrier
en papier:
Baktun Katun Tun.

13, 31, 44
Old twelve will be sliced, eaten
in a saussage with cool bread.
Mountains won´t melt.
A hand flies through the window
to fold a handkerchief
and saggy pants.
Tertium datur, mud on your face.
A bird has as many bodies as
the air could wear. The weather
goes through wooden cities
following a calender
without feasts:
Baktun Katun Tun.

3. Januar 2013 00:09










Christine Kappe

Zustellversuch 1

Zustell-Ende in der Heinrich-Heine. Ich geh kurz vor eins noch beim Bäcker rein. Bevor ich mein Brot bestellen kann, kommt eine ältere Frau hereingestürmt. „Ich muss mal kurz stören, ich hab was ganz Blödes gemacht. Ich habe zwei Tüten mit Kleidern in den Altkleidercontainer geworfen und meinen Schlüssel samt Portemonaie hinterher!“ Ihre Panik flirrt in der Luft. Die Bäckerin zwinkert: „Die ist immer so. Auch wenn sie nicht ‚was ganz Blödes‘ gemacht hat.“ Ich gehe mit der Frau hinaus, gebe ihr mein Handy; aber sie kann damit nicht umgehen. Kurz darauf hänge ich in Warteschleifen und fremden Geschichten. Gerade will ich fragen, was ich auf den AB sprechen soll, da sehe ich, wie sie in den Container klettert… Pünktlich Feierabend machen, mit einem Brot in der Tasche, davon träume ich nur.

22. Dezember 2012 14:59










Andreas Louis Seyerlein

6.45 – Im Warenhaus entdecke ich Preise, beispielsweise den Preis von 1.99 für ein Paar Handschuhe, gestrickt. Das fünfte Jahr in Folge ist es gekommen, dass die Preise für Handschuhe fallen. Sie scheinen inzwischen auf Bäumen zu wachsen wie Bananen. Auch Bananen werden immer billiger. An den Handschuhspitzen, dort wo man einen Zeigerfinger hineinstecken kann, entkommen dem Gewebe Fäden. An dieser Stelle, so nehme ich an, waren sie mit ihrem Baum verbunden, hier wurden sie getrennt vom Wind, der Schwerkraft oder von Menschen, die kaum etwas verdienen, nur gerade soviel, dass sie nicht verhungern oder verdursten, weil man sie noch gebrauchen könnte in den nächsten Jahren, geübte, geduldige Frauen und Männer. Vermutlich sind Handschuhbäume ganzjährig blühende Wesen, irgendwo ist immer Winter. Außerdem lassen sich Handschuhe gut aufbewahren, sie verderben nicht so schnell, man muss sie nicht einmal kühlen, nur gefräßige Tiere vertreiben. Das alles, dass Handschuhe von den Bäumen kommen, scheint noch sehr geheim zu sein. Ich habe vor wenigen Minuten versucht mittels der Suchmaschine Google herauszufinden wo Bäume, wie ich sie mir vorstellte, wachsen und wo man sie ihrer Früchte beraubt. –stop

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18. Dezember 2012 16:41










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (50/Ende)

(Aus: Edisons Glühbirne. In: Der geheime Garten vom Nakano Broadway. Von Masayuki Kusumi (Text) und Jiro Taniguchi (Zeichnung). Bei: Carlsen Comics. Hamburg 2012.)

9. Dezember 2012 11:31