Andreas Louis Seyerlein
15.01 – Ich hatte unlängst eine Spule digitaler Speicherscheiben von einem Zimmer in ein anderes Zimmer getragen. Wie ich über eine Türschwelle trete, wurde mir bewusst, dass ich in meinen Händen 500 Filme transportierte oder 750 Stunden Zeit, die vergehen würde, wenn ich jeden dieser Filme einmal betrachten sollte. Ich setzte mich auf mein Sofa und legte eine der Scheiben in meinen Computer. Kaum 2 Minuten waren vergangen, und schon hatte ich 5 Filme, die auf dem Datenträger seit Jahren gespeichert waren, von ihrem ursprünglich Ort in einen Kasten von der Größe einer Zigarrenschachtel transportiert. Mein Computer arbeitete indessen so leise, dass ich mein Ohr an sein Gehäuse legen musste, um gerade noch seinen Atem vernehmen zu können. Zwei Stunden atmete mein Computer, in dem er alle Filme der Spule, Scheibe um Scheibe, in den kleinen Kasten, der neben ihm auf dem Sofa ruhte, transferierte. Dann holte ich eine weitere Spule und setzte meine Arbeit fort, bis auch diese Spule und ihre Filme in das Kästchen übertragen waren, Spule um Spule, eine Nacht entlang. Nun ist das so, dass sich in meinem neuen Filmmagazin ungefähr 3000 Filme befinden, ohne dass das Datenkästchen größer oder schwerer geworden wäre. Ich glaube, ich habe etwas Welt verdichtet, einen Raum gespeicherter Filmbetrachtungszeit verkleinert, eine Möglichkeit der Zeit, die sich selbst nicht verändert haben sollte. – stop
> particles
2. Januar 2012 01:03
Andreas H. Drescher
Ruft es den Jäger aus dem
Reinen zweiten Eingesagten
Überm See hinaus
Überm Fisch hinaus ins Wild
Weg unterm Öl des Bruders
Weg aus dem Bauch auch je
Der Architektur
Der Jagd überm Widerrist
Entgegen –
(für Hans)
4. Januar 2012 07:16
Gerald Koll
Ein Himmel.
Ein Feld.
Drei Nüsse.
Zwei Wörter.
Drei Blätter.
Ein Zwerg.
Ein Punkt.
6. Januar 2012 12:17
Hans Thill
Das Wort Zwölf
ist das, in dem die Wölfe heulen.
Die Ungeduld ist zwölf Kilo Hackfleisch
schwer. Der zwölfte Schluck kommt
aus dem Meer. Das zwölfte Öl hilft
gegen rätselhafte Leiden. Apolodor
hält kein Versprechen. Der zwölfte
Sowieso wird nimmer schweigen.
Die zwölfte Elfe hat jetzt einen
Architekten. Zwölf Hotels passen
lässig in ein Loch. Im Garten nebenan
ißt man sein Brot mit Erde.
Um zwölf, um zwölf
Le Mot Douze
connait la doute qui gouverne tout les
mots en d. Il y a peu de lumière a
l´interieur ou ça sent de foin coupé.
L` impatience pèse douze kilo de porc
haché, douze gouttes et la mer sera
vidée. En douze jours L´Iliade
se lit en soi même. Apolodor s´appelle
le prof qui tutoye tous le reste.
D´ou venez-vous ma p´tite elfe?
Douze éléments seront la joie de tous
les diables en Zélande: Ma mère, mon père,
en drap, en drille. A midi. A midi.
Twelve as a Word
is filled with swords and the sound
of tweezers. Impatience weight is
twelve pounds of mince. Inside the
word the darkness rules, it smells
like straw and litter. Some oil will
help Apolodor to go insane. Ocean is
twelve drops of salt and something else.
In garden twelve you may have
bread with earth, so do the strand
and listen to the twelvelight. at home
my mother in tweed, my father in tin.
at twelve, at twelve.
6. Januar 2012 18:49
Gerald Koll
In einem Winkel Deutschlands, wo Schlote und Stollen zu vermuten sind, befinden sich waldige Verstecke.
Dort, wo man nachts Käuze rufen hört, üben wir zazen. Zwölf mal täglich vierzig Minuten meditieren. Viereinhalb Tage lang. Wenn man dann nicht die innere Wand durchbricht, wann dann? In dieser Frage steckt ein Fehler.
Die Nacht zum ersten Tag gibt wenig Schlaf im Rasseln der Sucher der Stille. Geschlafen wird auf dem Dachboden. Der Spitzdachboden misst an seinem Scheitelpunkt ein Meter zwanzig. Die Füße keilen sich ins Dach.
Der namenlose Meister ist ein frischer alter Mann. Dreißig Jahre lang lebte er in einem japanischen Kloster. Vor zehn Jahren kam er nach Deutschland. Fragt man ihn, wie alt er sei, so sagt er: zwölf.
7. Januar 2012 10:05
Gerald Koll
Heute ist der 27. Dezember, 14 Uhr, das heißt, dass die ersten sechs Sitzungen abgesessen sind, dass jeder Sitzende still und unablässig von eins bis zehn zählte, immer wieder, bis vierzig Minuten vorüber waren, bis sechs mal vierzig Minuten vorüber waren. Wie oft zählte ich in zweihundertvierzig Minuten von eins bis zehn? Auch das breiige Frühstück ist dankbar eingenommen, auch Samu, die Arbeitsstunde, ist vorüber, in schielender Ergebenheit ist Laub geharkt und der geneigten Winterwiese aufgetragen. Auch die Mittagsspeise ist unter federnden Verbeugungen serviert, vielfach mit Dank verziert und eiligst eingeschaufelt. Schweigend.
15. Januar 2012 19:45
Gerald Koll
Das Schweigen im Zazen-Sesshin bedeutet, den Morgen sprachlos zu beginnen und den Tag ohne Gutenachtgruß zu beenden, obwohl der Schlafboden unter dem niedrigen Dach zu intimer Enge verpflichtet. Die Gaumensegel meiner Schlafnachbarin brechen nachts das Schweigegebot, ohne dass sie davon erführe.
Geschwiegen wird auch während der Mahlzeiten. Aber man verbeugt sich oft. Als Servierer bestimmt, verbeuge ich mich, bevor ich mich erhebe, bevor ich den Topf auf das Tablett stelle, bevor ich mit dem Tablett den Rundgang beginne, bevor ich die ersten beiden Sitzenden bediene, mich hinknie, Suppe schöpfe, aufstehe, nachdem ich die ersten beiden Sitzenden bedient habe, die nächsten und die übernächsten und die überübernächsten. Schweigend empfange ich die Instruktion des namenlosen Meisters mit Sprachlizenz, den Daumen nicht auf den Rand der Schale zu legen, zum Auffüllen der Schale beide Knie zu beugen, mit der Kelle nicht im Topf zu schaben, gleichwohl das Feste aus der Tiefe des Topfes zu fischen, das leichte Wischen der Hände des Sitzenden als Zeichen ausreichender Portion zu verstehen, den in der Schale ruhenden Löffel als Zeichen erfolgter Sättigung zu verstehen, nach dem Erheben einen dem Sitzenden zugewandten Seitwärtsschritt zu unternehmen, um dem Eindruck vorzubeugen, sich schnöde abzuwenden, was eine vorschnelle Rechtswendung misslich mit sich brächte. Gleichwohl gelte es, diesem Seitwärtsschritt die Dezenz der Absichtslosigkeit zu geben.
Speditive Einnahme der Nahrung als Medizin. Schweigend werden wir Bauchredner. Die Vorhut der Rebellion?
22. Januar 2012 18:59
Mirko Bonné
Die sternbildlosen Jahre,
die ich hier saß und weiterlief,
ist mir nie irgendwer begegnet.
Und pausenlos hat es geregnet.
Als ob ich träumte und nicht schlief.
Minuten lehnte ich an dem Geländer,
und mir war gut. Nichts kam zurück,
die Spur, das Spurverwischen,
schon lange bei den Fischen
in einer See aus Missgeschick.
Dreihundert Tage Regen, Regen
zu jeder Tageszeit, die ich hier sitze
und auf das Frachterwasser sehe.
Die graue Ferne, graue Nähe –
du, Elbe, ich, Kehrwiederspitze.
*
22. Januar 2012 21:33
Gerald Koll
Wäre der Fotograf hier im Bräunerhof, wo Thomas Bernhard naturgemäß einkehrte und mit verschränkten Armen über einer Wiener Melange verzweifelte, ein wenig höher platziert, hätte er in den Spiegeln sehen können, wie links und rechts auf der Bank neben dem Fotografen eine Unzahl Thomas-Bernhard-Anhänger mit verschränkten Armen über ihrer Wiener Melange verzweifelten, doch hätte er dazu die Arme entschränken und aufstehen müssen.
23. Januar 2012 09:33
Gerald Koll
„Ich erinnere mich, wie ich 1961 nach Paris ging. Ich trank davor mit ein paar Freunden, die mir das Ticket bezahlt hatten, denn ich ging auf gut Glück – einfach nur mit einem Ticket und weg war ich. Sie riefen: „Auf deinen Wunsch!“ Und mein Wunsch war: „Ich möchte viel reisen.“ Das ist eingetreten. Die Reise ist nicht einfach nur ein Ortswechsel oder nur eine Anhäufung von Kenntnissen. Sie ist mehr als das, sie setzt etwas in Bewegung. Zumindest bei mir mobilisert sie alles in einem solchen Maße, dass ich oft sage: Mein einziges Zuhause ist in einem Auto. Das ist der einzige Ort, an dem ich mich im Gleichgewicht mit mir selbst und der Welt befinde – neben meinem Fahrer, denn ich selbst kann nicht fahren. Meistens ist das während der Drehortsuche mein Fotograf, der zugleich mein Freund ist. Und so sehe ich durch das offene Fenster die Landschaft vorbeiziehen. Das ist meine Auffassung von Harmonie.“
(Theo Angelopoulos im Gespräch mit mir am 29. September 2001)
25. Januar 2012 17:03
Gerald Koll
„Indirekter Egoismus manifestiert sich hauptsächlich in einem abnormen Altruismus, der sogar imstande ist, etwas, was uns selber als gut und richtig erscheint, unserem Nachbarn unter dem Deckmantel christlicher Nächstenliebe, Menschlichkeit und gegenseitiger Hilfe aufzudrängen. Egoismus ist seinem Wesen nach immer Habgier, die sich hauptsächlich auf dreifache Weise zeigt: als Machttrieb, Lust und Faulheit. Diese drei moralischen Übel werden durch ein viertes ergänzt, das mächtigste von allen – Dummheit. Wirkliche Intelligenz ist sehr selten und stellt statistisch einen unendlich kleinen Teil des Durchschnittsverstandes dar. Von der Warte eines höherentwickelten Geistes betrachtet, ist das durchschnittliche Intelligenzniveau sehr niedrig. Leider wird ungewöhnliche Intelligenz – als eine seltene individuelle Eigenschaft – häufig durch eine entsprechende moralische Schwäche oder gar einen Defekt teuer bezahlt und stellt somit eine Göttergabe dar, die fragwürdiger Natur ist.“
(Carl Gustav Jung: Techniken für einen dem Weltfrieden dienlichen Einstellungswandel. Memorandum für die UNESCO. 1948.)
28. Januar 2012 10:27
Gerald Koll
Beim dokusan kündigt sich der Fragende durch Schläge mit einem Schlegel auf eine Glocke beim namenlosen Meister an und begibt sich zum Einzelgespräch in dessen kleine Gartenlaube.
Auf die einer gewissen Tradition folgende Frage „Wer bin ich?“ greift der namenlose Meister einer gewissen Tradition folgend zu einem massiven langstieligen Löffel und drischt damit auf den Oberschenkel des Fragenden.
Nun holt der namenlose Meister aus. Die Rede ist von Mitgefühl statt Dominanz. Wider Illusionen, Geisterwelten, Dualismen – universale Einverleibung verträgt sich nicht mit Exorzismen.
Es gibt keinen Löffel, es gibt nur den Löffelbetrachter, es gibt nur den, auf dessen Netzhaut ein griffbereit liegender Löffel abgebildet ist.
29. Januar 2012 18:18
Hans Thill
IV. Die Heilige Herrschaft
1.
Sie tragen das Haar wie ein Rumi.
Mittlere Länge wo nicht lockig bis über
den Kragen. Sie wurden als Ibn Arabi
mit Klingen gestählt, spezialisiert
auf Nacken (die Freiheit der Nacken)
2.
der Schmutz der Welt lässt auch sie
nicht ganz kalt. Vor einer Gefahr reagieren
sie als ein Hirte, der das Schwein über
die Erde treibt
3
männlich bis zur Nase und darüber von
horribler Intelligenz. Ein Wurm
kommt ihnen aus dem Mund, sobald
sie ihren Zorn verschweigen. Sie sind
nervös, schlafen dann doch
4
statt zu kämpfen. Sie haben den
leichtesten Schritt, da ihnen der
tausendfüssige Tag seine Netze leiht,
Dschinnen aus Djenin.
5
Die Aufständischen sind längst mit
Manna sediert. Ihre Brüder laufen sich
die Sandalen wund auf Ozeanen aus
Asche wie in einem italienischen
Film
6
als Vorwand für verhülltes Fleisch
und einen Vulkan, der auf eisernen
Füßen zum Bett der Geliebten hinkt.
Viele sitzen auf der Haut, nehmen
nie rechtzeitig Geld in
die Hand
7
rennen mit törichtem Öl in den Lampen
auf Felsen, die nichts zeigen als salzige
Gischt, geschweige ein Schiff voller Männer,
die ihre Pfunde bereuen oder hinter
der Entfernung ein verdienter Sieg
31. Januar 2012 22:52