Hans Thill

Norbert Randow (1929 – 2013)

MIRELA IVANOVA
Ein und dasselbe

für Norbert Randow

Es ist schon rührend, zwei verschiedene Schuhe hat es an und trägt einen Filzhut, Mottenfraß seit einhundert Jahren, in der Straßenbahn tritt es seinen Platz ab, aber aussteigen kann es nur mit größter Mühe, achtlos geht es an den Schaufenstern vorbei, das Leben ist leer geworden wie die Regale, drei ordentliche Flicken hat es auf einem Mantel, in vier Fremdsprachen redet es mit sich selbst, ich bin ein kleines Bulgarenkind, trällert es auf bulgarisch, und gutmütig ist es und ekelt sich nicht, das arme Kind, es kommt angelaufen mit der Bettpfanne, von Zeit zu Zeit macht die Hundertjährige unter sich, dann wischt es ihr den Arsch ab und sich die Tränen, das Haus ist voll von der Leiche, und dann trinkt es ein paar Nikephoros-Schädel Bourbon aus, rast los mit dem BMW, versichert seit dreizehn Jahrhunderten, eilt mit Brot und Salz die »Brüder« zu begrüßen und die Führer, ist irgendwie naiv und zugleich mit allen Wassern gewaschen, wedelt mit Blüten-sträußen vor den Wechselstuben herum, fischt im Trüben, rutscht den Buckel runter, macht »Radka, die Piratin« an und, hopsa, tanzt, trauert und schachert auf den Plätzen, läßt Regimes und Sklavereien über sich ergehen, Stammtischheld, Messer her, jetzt knallt´s, erzählt dunkle Witze zu dunkler Stunde, stopft sich voll mit Zitaten, mit hausgemachter Lukanka und Radio Liberty, gehorsamster Anarchist, Herrgott, ist das die bulgarische Würde, ist sie das, du unsre bejammernswerte Heldenmutter?
Aus: Einsames Spiel, Heidelberg, Verlag Das Wunderhorn 2000, deutsch von Norbert Randow

1. November 2013 17:52










Andreas Louis Seyerlein

3.55 — Einige mei­ner Bücher schei­nen über ein gehei­mes Gedächt­nis zu ver­fü­gen. Wenn ich ein Buch mit Gedächt­nis nach Jah­ren aus dem Regal nehme und auf einen Tisch lege, öff­net es sich ein­we­nig, ein Raum ent­steht, als würde das Buch nach einem Fin­ger rufen, der genau in die­sen Raum hin­ein­fas­sen soll. Ich lese dort Sätze, die mir ver­traut sind, viel­leicht, weil ich sie oft wie­der­holte, woran sich das Buch noch immer erin­nert. Vor kur­zem öff­nete sich ein Bänd­chen Elias Canet­tis genau in die­ser Weise. Ent­deckte: Es ist das Gute an Auf­zeich­nun­gen, dass sie frei von Berech­nung sind. Sie sind zu rasch, sie hat­ten kaum Zeit, der Kopf, in dem sie ent­stan­den sind, konnte noch nicht fra­gen, wozu sie zu gebrau­chen wären. — stop

5.28 — Ein­mal machte ich einen Aus­flug zu einer Tante, die seit über zehn Jah­ren in einem Heim lebt, weil sie sehr alt ist und außer­dem nicht mehr den­ken kann. Der Flie­der blühte, die Luft duf­tete, meine Tante saß mit ande­ren alten Frauen an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schla­fen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augen­li­der durch­sich­tig gewor­den, Augen waren unter die­ser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt hel­ler Far­ben. Ich drückte meine Stirn gegen die Stirn mei­ner Tante und nannte mei­nen Namen. Ich sagte, dass ich hier sei, sie zu besu­chen und dass der Flie­der im Park blü­hen würde. Ich sprach sehr leise, um die Frauen, die in unse­rer Nähe saßen, nicht zu stö­ren. Sie schlie­fen einer­seits, andere betrach­te­ten mich inter­es­siert, so wie man Vögel betrach­tet oder Blu­men. Es ist schon selt­sam, dass ich immer dann, wenn ich glaube, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit beginne, eine Geschichte zu erzäh­len in der Hoff­nung, die Geschichte würde jen­seits der Stille viel­leicht doch noch Gehör fin­den. Ich erzählte mei­ner Tante von einer Wan­de­rung, die ich unlängst in den Ber­gen unter­nom­men hatte, und dass ich auf einer Bank in ein­tau­send Meter Höhe ein Tele­fon­buch der Stadt Chi­cago gefun­den habe, das noch les­bar gewe­sen war und wie ich den Ein­druck hatte, dass ich aus den Wäl­dern her­aus beob­ach­tet würde. Ich erzählte von Leber­blüm­chen und vom glas­kla­ren Was­ser der Bäche und vom Schnee, der in der Sonne knis­terte. Doh­len waren in der Luft, wun­der­volle Wol­ken­ma­le­rei am Him­mel, Sala­man­der schau­kel­ten über den schma­len Fuß­weg, der auf­wärts führte. So erzählte ich, und wäh­rend ich erzählte eine halbe Stunde lang, schien meine Tante zu schla­fen oder zuzu­hö­ren, wie immer, wenn ich sie besu­che. Ihr Mund stand etwas offen und ich konnte sehen wie ihr Bauch sich hob und senkte unter ihrer Bluse. Am Tisch gleich gegen­über war­tete eine andere alte Frau, sie trug wei­ßes Haar auf dem Kopf,  Haar so weiß wie Schreib­ma­schi­nen­pa­pier. Vor ihr stand ein Tel­ler mit Erb­sen. Die alte Frau hielt einen Löf­fel in der Hand. Die­ser Löf­fel schwebte wäh­rend der lan­gen Zeit, die ich erzählte, etwa einen Zen­ti­me­ter hoch in der Luft über ihrem Tel­ler. In die­ser Hal­tung schlief die alte Frau oder lauschte. — stop

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5. November 2013 14:08










Gerald Koll

Hüske

Schuhmachermeister D. Hüske macht mir immer noch Sorgen. Wie im letzten Jahr. Schon damals, am 26. Juli 2012, weigerte er sich, meine Schuhe zu reparieren. Gut, es handelte sich damals um eine knifflige Angelegenheit. Ich hatte ihn gebeten, den Spann meiner Klotzen zu weiten, und das war auch für einen altgedienten Meister wie Meister Hüske ein schwerer Brocken. Gestern aber brachte ich Sandalen zu Meister Hüske. Ich bat ihn, den losen Riemen zu befestigen. Meister Hüske hatte das Problem mit einem Blick erkannt: „Das muss genäht werden.“ Ich lächelte, aber er war noch nicht fertig: „Aber meine Maschine ist kaputt.“ Wieder, wie im letzten Sommer, standen wir uns dann eine Weile gegenüber, abwartend, so lange, bis Hüskes Schweigen mich aus der Ladentür schob. Die Türglocke war ohrenfellzerfetzend. Schuhmachermeister Hüske schloss sein Geschäft deutlich vor 18 Uhr.

7. November 2013 21:09










Markus Stegmann

Gerhards Gutschrift 1

Hast und Hildegard knackten Gerhards Kleiderschrank, schlechte Fälschungen fielen heraus, komischer Geruch. Sie warfen mit Herzschrittmachern nach Lastwagen in der Lombardei. Raub und Temperatur schmolzen die Namen der Mörder ein, streuten Genmais drüber, Genitalien, aber Zertifikate der Wehrmacht und ein geschotterter VW Golf verklebten als Randnotiz der kollabierten Stunde den stummen Mund des Nachmittags. Bärbels Bodensee winkte von fern, aber da waren wir schon fort.

9. November 2013 10:35










Andreas H. Drescher

Gerhards Gutschrift 2

Gerhard trug die Gutschrift noch in den Ohren, als er an seinen Kleiderschrank herantrat: Dvoraks Romanze für Klavier und Violine. Nicht als Erinnerung trug er sie in sich, als ihn der Kastanien-Geruch umschloss, sondern als Reizung. Seines noch offenen Hemdes, seiner noch in den Knien hängenden Hosen wegen, die die zerborstenen Spiegeltüren widergaben. Er hatte die Fotos unter seinen Strümpfen gut versteckt geglaubt. Doch nun, wo sie unter seinen Zehenballen klebten, war es ihm, als werde er von nun an auch in Schuhen barfuß sein. Bärbels wegen.

9. November 2013 11:20










Markus Stegmann

Gerhards Gutschrift 3

Kein Klavier mehr, verschwand Bärbel schimpfend im Kerbel am Bodensee, genug Tang und Krawall hatte sie an diesem Tag aus Gerhards Augen gefischt, sofern es seine überhaupt waren. Aber welche sollten es sonst sein? Dvorak spielte augenlos Klavier, war sie sich sicher, aber was war mit den Augen Hildegards? Kein Gramm Grammatik antwortete, noch nicht einmal Martin Walser winkte über den See wie sonst, so erdig, bazillig und menschenleer schrie Thomas Bernhard vom gegenüberliegenden Österreich herüber. Gerhard mailte den Notstand Dieter in Berlin, der aber sass flaschengrün in Kleinmachnow im Rhabarber und schnitzte Zwerge.

10. November 2013 18:01










Andreas H. Drescher

Gerhard 4

Hildegard hatte sich zeitgleich in Dieters Herzschrittmacher eingerichtet. Schaltete ihn ein, schaltete ihn aus. Und freute sich an Dieters farbenfrohem Umschlag zwischen Zwerg und Rhabarber. Farben-froh, sonst weniger. Doch für seinen Kollaps hatte sie kein Auge, zu begeistert spiegelte sie sich als Bärbel im Silber des Gehäuses und las sich von den Lippen ab, dass es von nun an nur noch Langobarden für sie gebe. Abschaffung von Backen-, Kinn- und Schnurrbart! Nur tanglange Vollbärte hatten noch Bestand. Das war ihre Korrektur ihres Spaziergangs durch Gerhard.

11. November 2013 13:05










Markus Stegmann

Gerhard 5

Die Korrektur der Spaziergänge Gerhards lastete auf Bärbels blau bemalten Bananenplantagen. In tropischer Ruhe erinnerte sie sich des formvollendeten Vollbarts Gerhards, der fern und verzweifelt in einem ungeduldigen Gebirge sass, Bärbels blasse Wange als handliches Gespenst mit sich führend, darauf inständig wie vergeblich hoffend, es möge sie als Leibliche herbeiführen. Nötigenfalls würde er Hildegard herzen, schon wahr, womöglich, wer würde es wissen, was mochte sich in der Vorstellung wohl wandeln, aber in Wirklichkeit verschmolz er mit Paul Potts schmetternder Stimme, harrte in der verwegenen Kälte seines Gesteins, längst selbst zum Inbegriff des Verzweifelten aller Verzweifelten gewachsen, frass sich tief und tiefer ins Urgestein knapp unterhalb des Grimsels. Welch grässliche Gram, warum muss ich bluten, warum ich? Ich möchte Dieter sein oder wenigstens einer seiner Zwerge.

11. November 2013 23:31










Andreas H. Drescher

Gerhards Gutschrift 6

Die Hitze war also trinkbar geworden. Durch sie zogen sich die Mangroven in Bärbels Plantagen zurück. Verwandlungen also: allüberall. Doch immer in die falsche Richtung. Selbst Pauls Panther sang sich nun als Pol Pot in die Dornen. Ein hübscher Mann, der „Bruder Nummer 1“, da waren sich die beiden Schwestern einig. Wenn nur nicht gegen jede zweite Staude diese aufgetürmten Totenschädel lehnten. „Gerhards Schädel“, behauptete Hildegard. Doch Bärbels Lächeln wurde steinig, während sie langsam widersprach. „Dieters Schädel!“. Danach stellte sie Hildegard den Grimselpass aus. Noch immer voller Ungeduld und ohne Grimselspaß: Sie hängte Dieters Bärte so lange summend die Scheinstämme, bis sie zu Luftwurzeln geworden waren. Der Gram der brüderlichen Zwerge war ihr inzwischen schon zur linken Hand geworden.

12. November 2013 09:16










Markus Stegmann

Gerhard der 7.

Umstände, falsche Verwünschungen und blasse Gesichter im Gegenlicht hatten sich als spürbare Brut in das Stammhirn Dieters geschrieben. Kolosal lustloser Auftritt, notierte Dieters Begleitung am Lieferanteneingang der Bar, die sich zuerst wie ein Fass wölbte und dann an der Mündung der Mosel implodierte. Bärbel sass bei Bad Hersfeld auf einem Stein im Rhein und zeichnete ein Herz in den Sand. Wir zogen das Dach zu und verhängten die Fenster mit Säcken aus Übersee. Abwesende zuordnen, stand auf einem Zettel, während Dieter die Verwünschungen wusch und Gerhard nach dem Garantieschein suchte.

19. November 2013 08:35










Andreas H. Drescher

Gerhards Acht-Verdacht

Doch letztlich waren alle Anwesenden abwesend, garantiert! Hildegard, die erste, die das nicht nur als Gedankenverlorenheit auslegte, begriff es zuerst: Das Überseeische der Mosel kehrte in sich selbst zurück und wurde zur Saar. Genauer: wurde das Liqui-Moly-Lager, das einmal die Saar gewesen war. Öliges Schwappen jetzt in Hildegards Stammhirn. Sehnsucht, Herz aus Sand. Das Überseeische für sie hoch über der Überirdischkeit der Überdachung. Ihre Brut ließ sich den Eizahn wachsen und versuchte, sich aus der Schmiere zu picken. Sinnlose Notate auf der Innenseite der Dose.

19. November 2013 09:39










Markus Stegmann

Gerhards Neunte

Das ist kein Land für alte Gerhards, sondern das Innere einer sinnlosen Dose. Auf einer weiten Fläche in Übersee stocherten sie mit steinigen Gesichtern im Geröll, zwischen Knochen und Kamille ihre einstmals ersonnenen Gedichte suchend. Einer tat aus Verzweiflung einen Schuss in die Luft. Einer schiss in die Dose. Das ist kein Land für alte Gerhards, sondern eine Zumutung Hildegards, die die Gerhards in die Weite rauer Männer lockte und dann plötzlich verliess. Gerhards Neunte blieb als Projektil mit den Projektilen anderer Gerhards in einem Geröll ein paar hundert Meter weiter stecken.

21. November 2013 09:24










Andreas H. Drescher

Zehn kleine Gerhardlein

die gingen in die Lehre, ja, gingen bei der Leere in die Lehre, als ob sie keine Leere wäre. Sondern ein Atoll, mit ertauchbaren Gesichtern darin, Fischgesichtern, Knochenfisch-Gesichtern, knochendichten Knochenfisch-Gesichtern. Auch die schießen in die Luft, doch ziehen sie weit mehr Meer hinter sich her als jeder Dosen-Schuss halbierten und gepinkelten Vokals. Mit ihren ganzen, gleißenden, geschuppten Körpern springen sie der Luft entgegen, als wäre sie Hildegard, als wäre sie Bärbel – und nicht nur dieses Projektil-Projekt der eingekleinten Gerhards. Weiter steckt sich das nicht, endet in luftiger Atemlosigkeit und plumpst in seine Gischt zurück: als Dieter.

21. November 2013 11:40










Markus Stegmann

Gerhards Elf

lief grundlos mit Geröllgesichtern auf, schoss die Dose auf den Mond, der übernächtigt und mit zerzausten Haaren trist und traurig zusah, wie Gerhards Garde Stück für Stück versenkt wurde. Er dachte nichts, er schaute nur. Günther stand am Spielfeldrand und fuchtelte. Hildegard tat sich Gurken auf die Augen. Bärbel backte Brezeln in Bad Boll. Dieter harkte hastig in Kleinmachnow oder war es am Ende der Welt? Dorthin wünschte Gerhard sich und vertraute seine Getreuen Günthers Geschick an. Auf einem Felsen sass er nun, angelangt am Ende der Welt, schrieb ein grottenschlechtes Gedicht und versenkte es im Meer. Doch seltsamerweise war ihm, als sei ihm leichter ums Herz.

22. November 2013 11:26










Andreas H. Drescher

Gerhards Dreckiges Dutzend

Ist das nun ein mondsüchtiges Ende? Eines, in dem Gerhard in Dieter, Hildegard in Bärbel – und Dieter und Bärbel in Günther verschwinden, um sich selbst zu zausen? Wahrscheinlich! Denn Gurkenkönig ist doch, wer zuletzt noch steht und fuchtelt! Der Neueste hat also stets gewonnen. Und Ihro Majestät bleibt unbenommen, mitten im Spiel sich selbst als Grotte einzubläuen und zu sich als zu seinen Verschwundenen abzutauchen. Die große Tatenlosigkeit unter dem Fuchteln ist sich also ein ganz neues Yucatán. Vollmond des Einschlags vor dem Schlusspfiff. Erleichert – und doch mit einem Zug ins Melancholische, wie er Mond-Monarchen zusteht. Als Günthers Gutschrift dann.

22. November 2013 16:42










Carolin Callies

Rohstoffe II

ich meine eine lärchenstunde, eine krötenschleuder
(seltenes gras in den fenchelfeldern)
& wir steckten salate
& warn nur in den salaten meisterschüler.

23. November 2013 13:05