Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (96)

16. November 2015, ein Montag

Die Grenzen verwischen: Am Sonnabend kam Frau S. nach ihrer Generalprobe vorbei und verbrachte nicht nur den Abend mit Freund K. und mir, sondern folgte auch freudig der Einladung, hier zu bleiben, folgte nicht weniger zustimmend der Einladung, ihre Bettstatt nicht notwendig im Wohnzimmer aufzuschlagen, sondern sich neben mich zu betten. Und obwohl das alles höchlich sittsam verlief und trotz Prosecco-Laune und einigen Lauerns auf Lüsternes denn doch kein wirklicher Handlungsanlass gegeben war, sind das Gebietsbetretungen, die ein neues Kapitel einleiten.

Sonntag den Tag mit Frau S. vorwiegend im Bett verbracht. Wie sehr seltsam, wenn das Bett ein Gammelplatz diskreten Miteinanders ist. Wir aßen zusammen, hörten „Unter dem Milchwald“, sie massierte mich geduldig, was ich nur zu gern duldete, trotz punktueller Gewissensbisse, welche Verbindlichkeiten das nun wieder mit sich brächte. Dann Aikido, dann Kino, ein sehr fragwürdiger Kinobesuch im neuen James Bond, dessen Tempi kaum überspielen, dass der Film so statisch ist wie die Mimik von Daniel Craig. Insgesamt der lustloseste Bond seit langem.

Heute Morgen in trüber Stimmung erwacht. Vermutlich keine guten Träume. Sehr milchglasig, die Aussichten. Nachmittags umschlang mich langer Schlaf, Gefühl wie auf schlingerndem Meer, gewälzt als Treibgut seiner Strömungen.

Montag, Mitternacht: Eben bei T. gewesen! Da lud also T. mich als einzigen aus dem Aikido-Kreis ein, das Doppelfest seines Geburtstags und seiner Verlobung mit N. zu feiern. Mit N., die mir seit dem Tag, als ich ihre Abendgarderobe als „putzig“ bezeichnete, sichtlich abhold ist. Ein Abend mit Damen, die einander beipflichten, Nähkurse zu nehmen, weil man „so ungern etwas wegwirft“. Eine habe daher sogar T-Shirts mit „Löchern im Ellbogen“ – was für T-Shirts sind das?! Anlässlich des Anlasses bitte ich um Details des Verlobungsantrags, doch da schweigen sich N+T zierlich aus, worauf ich gar nicht anders kann, als nachzuhaken, während Freundinnen beispringen und ihre Freundin gegen zudringliche Nachfragen in Schutz nehmen. Wie respektlos der eigenen Lebenszeit gegenüber ist sie doch, die Anwesenheit im Miteinander gegenseitiger Bestätigung, des wohlmeinenden Halb-Charmes und der Langeweile. Halb zwölf Aufbruch als erster Gast.

16. November 2016 11:58










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (95)

14. November 2015, ein Sonnabend

Die soziale Jahresbilanz: Im März das Zerwürfnis mit Meg, nachdem wir die Trennung im November eigentlich gut hinbekommen hatten; im Mai die Trennung von Kitty; zeitgleich die Kontaktlösung von Jugendfreund H.; im Juli Freundschaftsende mit Kollege J.; im August die Gewahrwerdung der Feindseligkeit von Aikidoka A. – dazu die Bewusstwerdung der limitierten Solidarität der Aikido-Freunde (T., I.); im Oktober der überfällige Kontaktabbruch mit D.; ganzjährige Kontaktarmut mit dem einst so innig angebundenen Neffen M. Insgesamt desolat.

Desolat auch das Spiegelbild: Jahre unwirtlichen Wohnens und sozialer Erosion machen die Augen glasig und das Kinn flüchtig, schieben das Bild in die Gespenstergalerie.

(Die Einträge schreibe ich unter dem Eindruck der IS-Anschläge in Paris am Freitag dem 13. Seltsam war das: zunächst zwei Explosionen in der ersten Halbzeit des Länderspiels, die man am Fernseher nicht zuordnen und einschätzen konnte, weil der Moderator selbst nichts wusste. In der Halbzeitpause googelte ich gleich, aber im Netz war noch keine Information erhältlich. Bis im Zuge der zweiten Halbzeit dann Informationen durchsickerten, sich verdichteten und langsam das Ausmaß des Anschlags ahnen ließen.)

14. November 2016 13:45










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (94)

11. November 2015, ein Mittwoch

Erwacht – und wach gelegen – in jener dumpf infantilen Verzweiflung, keinen Daseinszweck zu erfüllen. Gefühl völliger Verzichtbarkeit. Aussicht auf Ideen-Brache. Die letzte Idee, eben die Hexenfilmidee, mit der ich die letzten Jahre mit Sinn füllte, ist versickert und steht in der Welt wie ein Gespenst, das niemand kennt. Es ist, als wäre ich in den Jahren der Filmherstellung selbst nicht vorhanden gewesen. Ich denke da nichts Neues. Ich denke immer dasselbe.

Marcel Proust schreibt über Leute, die das, was sie zu sagen haben, dauernd wiederholen und sich dabei nicht unterbrechen lassen: Sie reden „mit der unerschütterlichen Solidität einer Bachschen Fuge“.

Gestern ist Helmut Schmidt gestorben. Abends sah ich es in den Nachrichten und folgte der Sondersendung (Maischberger, Nowottny, Steinbrück). So einer war schon früh ein Fels im Geschehen, immer gerüstet, gewappnet mit Leitideen. Aber: Ohnmachtsanfälle, schwaches Herz, Herzschrittmacher. Dennoch nicht gezaudert.

11. November 2016 13:18










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (93)

10. November 2015, ein Dienstag

Ich sah aus dem Fenster. Da gingen etwa eine Handvoll Polizisten in englischen Uniformen und Helmen. Sie hatte die Stöcke gezogen. Nun sah ich auch ihren Bestimmungsort: ein Pub. Er hatte trotz Sperrstunde noch geöffnet. Davor stand ein massiver Rover, dessen Windschutzscheibe die Polizisten nun einschlugen, dann auch die Scheinwerfer und Rückspiegel. Sofort rannten die Gäste des Pubs auf die Straße und lieferten sich ein Handgemenge, bei dem die Polizisten sich mit ihren Stöcken wehrten, aber in die Defensive gerieten und ihre Stöcke schließlich nach den Angreifern warfen; allerdings liefen sie den Stöcken hinterdrein, um sie nicht ganz zu verlieren, gerieten aber dadurch noch mehr in Gefahr.
Einer der Polizisten fiel mir besonders auf. Er hatte seinen Helm verloren, trug kurzes blondes Haar und wirkte schwerfällig. Zudem krümmte er sich immer wieder und hielt eine Hand vor den Mund, als müsse er erbrechen. Gegen die Meute konnte er wenig ausrichten, aber auch seine Gegner waren nicht mehr gut auf den Beinen. Sie torkelten vorüber, während der Polizist einige von ihnen verfolgte, aber eben immer wieder unter Brechreiz leidend. Er wird sich, dachte ich, seinen Alltag in der englischen Provinz idyllischer vorgestellt haben.

So viel zu dem Geträume heute morgen. Jetzt ist es 9:20 Uhr. Heute morgen las ich „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Band 4“, aber die Lektüre fiel mir schwer.

10. November 2016 11:59










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (92)

8. November 2015, ein Sonntag

Gestern Abend bei Frau S. in die Katzbachstraße: ein Dinner! Die Arme hatte sich allerdings einen Virus eingefangen und daran wellenweise zu leiden. Zunächst tausenderlei Gespräche über Beziehungen und Amouren, sozusagen ein gemeinsames Kreisen um unseren heißen Brei. Ich stellte mich in ein seltsames Licht: offen, bekennend bis zur törichten Selbstanklage; dann wieder verhehlend.
Schwierig genug, mich in meinem sozialen Paarverhalten verbindlich einzuordnen. Noch schwieriger in dieser Paarwerdungskonstellation. Die Zeitebenen schieben sich ineinander. Wovon ich in der Vergangenheit spreche, wird zur Zukunftsoption. Unmöglich auch, von Absichten guter und unguter Art abzusehen und die Dinge selbst zu Wort kommen zu lassen.
Zu späterer Stunde überfiel Frau S. schwallartiges Erbrechen. Mein Mitleid war sofort sabotiert von der Sorge, ob der Virus übergesprungen sei. Stak da im Topf noch der Löffel, mit dem sie abgeschmeckt hat? Heute in Lauerstellung. Zupfen im Magen sofort als Symptom verdächtigt – hat’s mich erwischt?

8. November 2016 13:16










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (91)

6. November 2015, ein Freitag

Gestern Abend vertrat ich im Aikido T.B. als Lehrer, die Stunde war alles andere als ein Glanzstück. Ich ging zu schnell durch suwari waza und shomen uchi, führte einige Techniken präzise aus und ließ sie nicht lang genug studieren.

Heute wieder als Schüler auf der Matte. Völlige Erschöpfung während der ersten Stunde. Geradenach übel wurde mir, als ich mich Ja sagen hörte, meine Reflexantwort auf senseis Frage, ob ich zur zweiten Stunde bliebe. Das hieß: zwischen der ersten und zweiten Trainingseinheit zunächst eine halbe Stunde meditieren, in einem klatschnassen, auskühlenden Anzug. Die zweite Stunde wurde recht gemächlich, aber ich bekam Krämpfe.

6. November 2016 09:45










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (90)

5. November 2015, ein Donnerstag

Wie sehr ich sie doch mag, diese neue Wohnung mit ihren Seltsamkeiten. Im Bad ein Waschbeckchen, das eigentlich zu einer Puppenstube gehört; hingegen ein Balkon von kapitalen Maßen. Dazu eine perfekte Aussicht vom Schreibtisch: direkt durch zwei eingelassene Türfenster in die wohnliche Küche mit Truffaut in Goldrahmen.

Neu und anders als im Prenzlauer Berg, nämlich ungewöhnlich berlinerisch, lebt es sich in Weissensee am Weissensee. Man trifft hier zum Beispiel auf die unfreundlichsten Fleischfachverkäuferinnen der Welt. Sie haben Format. Was Fleischnichtesser da versäumen! Gleich daneben lokalisieren „Woolworth“, „Ein-Euro-Shop“ und „McGeiz“. Kürzlich erstand ich dort einen Eiskratzer mit vorzüglich gummiertem Griff für 10 Cent. Hingegen rar sind Hutgeschäfte.

Weissensee ist nicht ganz ungefährlich. In der Mitte der hauptsträßlichen Berliner Allee verläuft der Schienenstrang der Tram. Wer glaubt, schnell die Straßenseite wechseln und auf die Ampel verzichten zu können, unterschätzt, wie rege, rasant und rabiat Autos und Schienenfahrzeuge verkehren und wie eng der  Zwischenraum zwischen Straße und Schiene ist. Schnell ist man eingekeilt zwischen Tram und Laster. Dann wird’s eng, gebremst wird nicht. Weissenseer mit Lebenswille verzichten daher oft ein Leben lang auf das Wechseln der Straßenseite. Man lebt hüben oder drüben. Der Bau der Schiene hat manche Familie zerrissen. Manchmal winkt man einander zu. Man tauscht Grüße. Es gibt ja auch Briefverkehr. Die Wirtschaft hat sich entsprechend eingerichtet. Geschäfte ähnlichen Sortiments sind spiegelbildlich angeordnet: zwei Apotheken, zwei Nagelstudios, zwei Friseure. Sogar Polstermöbelläden sind doppelt vorhanden. Zunächst hielt ich es für Konkurrenzdenken, doch die Duplizität entspringt stadtplanerischer Vor- und Umsicht. Indes scheint es nicht immer geholfen zu haben, manche Weissenseer scheinen die Teilung noch immer nicht begreifen zu können oder zu wollen. Konjunktur haben Bestattungsinstitute. Seit 1887 floriert das Bestattungsinstitut Kadach, und gleich nebenan – nein, nicht gegenüber, sondern auf dergleichen Straßenseite – wirbt Konkurrenz mit farbenfrohen Schaufenstern.

5. November 2016 09:35










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (89)

4. November 2015, ein Mittwoch

Direkt nach dem Training: ein Abend mit Frau S., der kessen und cleveren Frau S., in die ich mich recht gern verlieben würde. Ich bin nur zu sehr in den Kitty-Körper vernarrt, als dass ich mich ohne weiteres umstellen mag auf den S-Körper, der völlig anders ist. Ein Graus ist das. Frau S. macht wenig Hehl aus ihrer Neigung. Im Gegenzug lasse ich’s mir gefallen und kann doch nicht recht einschwenken. Dabei könnte alles so nett sein: Frau S. holt fix vom Asiaten allerlei Lukullisches, es ist Sekt im Haus, die Kerzen brennen, und Frau S. hat Lust auf meine geliebte Serie Extras, sieht Folge für Folge, neun Folgen lang bis weit, sehr weit nach Mitternacht. Geht es denn paradiesischer? Es wird so spät, dass Frau S. glaubhaft macht, bei mir übernachten zu müssen – die Kulturtasche hat sie bereits mitgebracht. Ich richte das Sofa her und denke: flexibel ist sie und immer wieder imposant souverän.

Obwohl: Sie beendet Sätze erschreckend oft mit dem ins Ungefähre zielenden „also“. Als müsse man sich Ungesagtes – ja: Weiterführendes – noch dazudenken. Und überhaupt: Nicht auszudenken, bei der nächsten Gelegenheit die Zügel schießen zu lassen. Dass da bloß nichts Schlimmes geschieht.

Heute morgen: doch recht müde. Mein privates Familienalbum ergänzt um die Jahrgänge 1990 bis 2000. Bilder von abgeliebten Lieben. Melancholie auch angesichts eigener Alterungsspuren, die in den letzten Jahren besonders deutlich sind – totale Ergrauung, Aushärtung des Gesichts, Verlust alles Weichen und Vollen, nicht zu vergessen die rapide zunehmende Abhängigkeit von der Sehhilfe, die mich inzwischen, ohne dass ich es zugegeben hätte, zum Brillenträger gemacht hat, obwohl ich mich seit jeher als Nicht-Brillenträger verstehe – so wie jemand, der sich den Titel des Rauchers verbittet, obwohl er täglich raucht. Es setzt schon verstärkt 2007 ein, ungefähr mit Berlin, dieser Stadt des sichtbaren Siechtums.

4. November 2016 13:53










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (88)

2. November 2015, ein Montag

Heute war es das zweite Mal (nach dem 17. Juli, damals noch mit Weißgurt), dass Sensei mich nach vorn rief, um als Uke herzuhalten. Erwartungsgemäß war meine Vorstellung einigermaßen peinlich, weil ich beim Kaiten-Nage sofort den Kontakt verlor. Eine seltsame Gemengelage zwischen Stolz und Scham. Öffentliches Scheitern. Aber zu scheitern ist besser, als nicht scheitern zu dürfen. Immer wieder scheitern, wieder und wieder. Und wieder. Und dann noch mal. Aikido ist Kalligrafie. Ueshiba ist Hokusai.

2. November 2016 00:35










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (87)

31. Oktober 2015, ein Sonnabend

9 Uhr, gleich geht’s ins Freie Training. Gestern war Hochzeitsfeier: M+C heirateten nach zwanzig Jahren wilder Ehe. Unsre Aikido-Gruppe schwang sich zu einer kreativen Verzweiflungstat auf und veranstaltete ein halb- bis dreiviertelpeinliches Schwert-Gewürge, verabfolgt von einem Spalier und Überreichung eines Rollbildes. Schön war das Rollbild, erträglich das Spalier, unterirdisch die Performance, das mit Abstand Schlechteste, was wir jemals vorgeführt haben, und es ist nicht schönzureden. Dirk und ich hatten uns schon im Vorfeld ausgeklinkt und uns damit ein wenig zu Spielverderbern gestempelt. Eine sehr stinkige I. hatte mich gestern während des Trainings daher ignoriert.

Gleichzeitig  ungezügelte Freude an unserer Gruppenseligkeit auf der Tanzfläche mit lauter Albereien, tolldreisten Tänzchen, seltsamen Sangeseinlagen, ungezügelten Hochs auf das „geile Leben“, die sofort um sich griffen und wir alle gemeinsam heiser und halbbetrunken skandierten.

17 Uhr. Zwischen 9 Uhr und jetzt liegt das Freie Training, und die Welt sieht anders aus. Ich erfuhr, wie schräg die Schwert-Performance-Absage angekommen ist. Ich erfuhr, dass Dirk und ich es waren, die damals beim gemeinsamen Ideensammeln hinsichtlich einer Hochzeits-Einlage geradezu federführend waren – ein Umstand, den ich völlig verdrängt hatte, aber E. wusste es genau. Wie hatten wir so töricht sein können, da in der Pizzeria das Feuer zu schüren?

31. Oktober 2016 11:30