Mirko Bonné

Jeanne Hébuterne

Es gibt nur Balkonrosen.
Weiße, rote und violette.
Es gibt nur Balkonrosen,
wo sie zwei vorbeifliegen,

es gibt nur Balkonrosen,
Amedeo mio, mon trésor,
es gibt nur Balkonrosen,
hörst du, was ich dir sag,

es gibt nur Balkonrosen.
Wohin fliegen wir, Modi,
es gibt nur Balkonrosen,
warum bist du nicht hier.

*

5. Oktober 2025 17:10










Mirko Bonné

Das Fräulein Wieck

Wie eine Blüte in einer
Sommernacht, nur dass
die linde Sommernacht
gespenstisch ist. Erst

Triller, dann Phrasieren,
Schaben, Schurren, Stop.
Leicht verzögert, immerzu
aufs Neue Kinderspiele.

Sitzt es so am Pianoforte
und spielt, scheint es ihm
durch Laubwerk zu hüpfen,
als huschten da lauter Vögel.

Das Kind spielt sechzehn Mal
berückender als er Beethoven.
Zur Klaviersonate f-moll, der
Appassionata, lächelt sie.

Nur einmal beißt sich Clara
im Allegro assai in die Hand,
der Bruchteil einer Sekunde,
in der die Zeit

                   Keiner, nur er
spürt den Hauch Stillstand.
Da zersplittert sein Glaube,
er wüsste etwas von Musik.

*

23. September 2025 22:13










Mirko Bonné

Frances Brawne Lindo

Es schüttet im Park,
durchs Zimmer gehen
Kerzengeflacker und

das Prasseln. Fenster
sind keine Wände. Sie
will noch einen Schluck

von dem dunklen Tinto,
da lächelt Señor Lindo.
Meine Liebe, flüstert er,

unvernünftiger Schatz.
Der Diener schenkt ein.
Aber sie will ja gar nicht

trinken, nur denken, sie
hört ihre Mutter und John,
weil beide wieder leben.

Mom ist nicht verbrannt
nach dem Gartenfest, ihr
Taftkleid fing nicht Feuer,

denn es goss in Strömen,
der Regen war ein Engel.
In den letzten römischen

Briefen, todkrank schon,
ertrug es Mr Keats nicht,
ihren Namen zu nennen,

deshalb schrieb er XXX.
Aber las die Mutter ihr vor,
so sagte sie immer Fanny

an den Stellen mit Kreuzen.
Sie taucht den Zeigefinger
in das Glas Wein und spürt

das Leben und seine Fülle,
sie zeichnet mit der Finger
-spitze drei schwarze, rote

X aufs Tischtuch. Wandern
Tote durch unser Herz, Lindo,
oder sind sie der Kerzenwind.

*

24. August 2025 14:35










Mirko Bonné

Platzwechsel

Ich schick dir den grauen Himmel,
den du mir geliehen hattest,
hiermit zurück. Aus Zlín.

Wo ich bin, steht die Luft.
Die Hitze ist ein Herzstillstand,
und das Gras überlegt ernsthaft,

zu brennen. Beendet ein Freund,
beendet er eine Freundschaft,
ohne Gründe zu nennen?

Offenbar. Das Gras plant
augenscheinlich wirklich,
in Flammen aufzugehen.

Wohin ist der Mensch, der
die letzten Tage immer schlief
im Schatten des Altglascontainers.

Ich fahre über die Dřevnice und
bin ein anderer. Sie lacht grün,
sie funkelt. Sie und ich in Zlín.

*

5. Juli 2025 20:17










Mirko Bonné

Vogelbeeren in Reillanne

Noch immer blinkt das Blätteraluminium
der Pappeln im Wind, immer noch kommt
grasgrün das Gras zurück. Die kleine blaue
Feder schwebt in den Müll, und ein Schwarm
Stare stiebt auf und ist einen Atemzug später
der Punkteschatten über der sonnenbefluteten
Straße. Weil wir befreundet sind, erklettern wir
Krater gemeinsam. Und oben, lachen wir es aus,
das Feuer, mein Lieber, ehe wir zurückschlendern
ins Tal, um im nächsten Dorf ein, zwei kühle Glas
Empedokles zu zischen. Es gibt nur ein einziges
Leben, und das ist endlos. In der Augusthitze,
in den Gewittern und der alles überdauernden
Kargheit, verrückt sich der Alltagsballast und
verliert an Gewicht. Hörst du, Tschaikowskis
Melodie klingt durch die Violinen der Zikaden.
Mit dem guten Recht der Dörfer erklär dich
zum Mittelpunkt deiner Welt. In den Städten
gibt es keine Unterschiede mehr. Hölle gleich
Himmel, beide nur Zellophan. Aber weiter blinkt
im heißen Wind das Pappellaub. Grillenbratschen.
Hör dein Herz, du brauchst dazu kein Stethoskop.
Es hat eine Melodie. Sei hier, bei dir, in Reillanne.
Sieh sie dir an, hör hin. Die Vogelbeeren sind rot.

*

12. Juni 2025 11:01










Mirko Bonné

Kastanien

Was soll das?
frage ich die
Kastanien, da
sie knospen.

In Kastanien
hineinblicken,
immer wieder
neues Dach.

Wir feiern den
Wiederaufstieg,
ruft eine voller
Blüten zurück.

*

10. Mai 2025 22:35










Mirko Bonné

Carla May

Die einzige Erinnerung
an meine Urgroßmutter
Carla May aus Radebeul
zeigt mir sie, da bin ich
vier, mit dem Marsriegel
in ihrer ururalten Faust,
den sie mir gekauft hat.

Wir überqueren 1969
einen unbeschrankten
Bahnübergang irgendwo
in der Stadt Schriesheim.
Warum habe ich diesen
Moment nie vergessen.
Wann aß ich das Mars.

*

8. Mai 2025 22:52










Mirko Bonné

Mitin Badege

Als im Gewitterunlicht
halb Arles davonfloss,
da flüchtete ich mich
über die Place de la
République in die alte
Sankt-Annen-Kapelle.
Dort sah ich mir in den
durchblitzten Nischen
die Fotoausstellung an.

Ich sah sie lang an, alle
Gesichter aus Äthiopien,
Frauen, Männer, Kinder,
am längsten aber in dem
Gleißen ein Doppelprofil.
Vor der tiefen Schwärze
der Nacht trug Mitin ihren
kleinen Enkel Kalemwork
auf dem Rücken wohin?

*

3. Mai 2025 22:23










Mirko Bonné

Antoinette Flegenheim

Es ist mir unmöglich,
Ihnen mitzuteilen, wie
plötzlich das alles war,
wie unerwartet, erwiderte

die Titanic-Überlebende
Antoinette Flegenheimer,
die sich Flegenheim nannte,
als werde alles immer kürzer,

noch bis zuletzt auf Fragen
zu ihrem Leben und Alltag
nach der Tragödie 1912,
jedes einzelne Begebnis

sei wie ein Blitzeinschlag
an einem helllichten Tag
an der Bockenheimer Warte
oder in Tutbury, Staffordshire.

*

20. April 2025 00:27










Mirko Bonné

Madame Tanguy

Die alte Amerikanerin,
die mich ansprach vor
dem Monoprix in Arles,
bat mich um ein pièce,

also gab ich ihr 2 Euro
und fragte sie, woher sie
kam, Drummond, lautete
ihre Antwort, Wisconsin.

Hinter uns, an dem Kreisel,
wo es vom Regionalbahnhof
zwischen zwei Wehrtürmen
hinauf zur Altstadt geht, stand

früher das gelbe Haus, in dem
1888 Vincent van Gogh lebte,
kurz auch mit Gauguin, bevor
der ihn zum Idioten erklärte.

Aber das Haus zerfiel, man
riss es ab und baute es nicht
wieder neu, alle Welt kennt ja
Vincents Zimmer darin, Bett,

Stuhl, Waschtisch, Fenster,
weil er alles malte, denn so
wurde für ihn alles lebendig.
So steht das gelbe Haus da,

wie sie einmal Pianistin war,
die Amerikanerin im grünen
Kleid, mit Silberblick, sie sei
beglückt von unserem kleinen

Gespräch. Nie stattgefunden
habe es, ihr Konzert in Arles.
Aber sie sei geblieben, denn
sie warte. Worauf, fragte ich,

und ob sie immer noch spiele.
Und ob, rief sie, ein Nachbar,
der habe manchmal ein Piano.
Danke Ihnen für den Moment.

Jeden Tag wanderte ich darauf
zu dem Monoprix, aber fand sie
nicht, den Silberblick, das Kleid,
erst in einem Van Gogh-Katalog,

und immer nachts träumte mir,
ich sehe ein Ohr schwimmen
in einem Fläschchen voller
gelbem Pinselterpertin.

*

11. April 2025 15:02