Mirko Bonné

Laugharne

And the gates / Of the town closed as the town awoke.
Dylan Thomas

Die Wellen, die draußen ertrinken wollen,
   laufen zum Schlafen alle in die Dünen.
Und du bleibst? Meinetwegen. Gut, bleib.
   Die Strände lang versinken grauenvolle
Schätze im Schlamm, und zwischen ihnen
   führt deine Spur, als wär sie selber Welle.
Kennst du am Ortsende die Engeltankstelle?

Der Küstensaum ist Küstenwall. Alles treibt
   gut oder übel sonst her. Schon ist es weg.
Binnenland so ein Backsteinort, der träumt
   von krummem Regen. Such ein Versteck
am Sonnenheizofen, und du findest keins.
   An den Himmelsfäden runter hängt eins.
Vorm Ortsende kommt die Engeltankstelle.

Jeder Schuppen ein Käfer, die Beine Pfähle
   mit Muschelpocken, wo Jungs hämmern.
An Leinen knallen blau Röcke. Die räumt
   der Wind in die Luft, wenn es dämmert.
Die See kommt nicht zu Besuch, fast nie.
   Sie kennt ja alles, nur keine Diplomatie.
Aber am Ortsausgang die Engeltankstelle.

Und in den Zimmern aus Zwieback und Ale
   Häher-Gourmets, Möwen-Versteherinnen.
Kinder-Krähen. Mit Glück knospt ein Kahn
   in einer Bö. Alles was zählt, ist drinnen,
draußen ist zu. Nimm dich jemandes an,
   und bist’s nur du. War’s das? Dann geh.
Am Ortsende siehst du die Engeltankstelle.

Für Jan Wagner

*

22. November 2024 16:57










Mirko Bonné

Chesterfields

Scheuerbambler, original
Tabak-Blatt-Bündel, an den
Stielen, mit Draht, zusammen-
gebunden, wurde in Scheunen
zum Trocknen aufgehängt,
aus Ranstadt / Wetterau,
um 1946, guter Zustand.

Tabakschneidebänkchen,
Kurbelvorschub u. 20 cm
langes u. 4 cm breites
Wännchen aus Stahlblech,
8 cm hohe Alufüße, in deren
Flansch lagert die Vorschub-
spindel; Schneidehebel,
Alu, Messerklinge, Stahl,
gewerblich, um 47.

3 lose, filterlose Zigaretten,
Chesterfields, mit Logo,
etwaige Nachfertigungen,
Tabakschneider 1948,
Alu, zeittypische Merkmale
(rauer, löchriger / pickliger
Guss u. Handfeilmarken),
Kurbeln schiebt gepresste
Blätter automatisch vor u.
schneidet ab

Für Jürgen Becker (1932–2024)

*

10. November 2024 15:15










Mirko Bonné

Migo

Hedva Harechavi
Migo

bringt meinen Migo wieder
bringt mein Heiliges wieder
bringt meinen Orakelstern meinen Augenstern wieder
bringt mein wunderschönes Ewigkind wieder
Indianerengel mein
Weltherr mein
bringt meine Nachtleben wieder
Nächtlein um Nächtlein mein
kriechen laufen rennen tanzen singen ganze Nacht meine
bringt meine Seele wieder
Kopfherzblutknochen mein
Hungerunddurst mein
Lichtundsiege mein
Haus mein
aus meinem Zimmer die Wärme mein

bringt wieder worüber ich nie gesprochen hab
den Moment
diesen einen
dort
wie dort
drei Uhr morgens
am Ufer eines gewaltigen Sees
und keinerlei Aufsicht auf Erden
und keinerlei Aufsicht im Himmel

und der Walfisch fragt: „Wie? Ist es wahr? Alle Ozeane
haben keine einzige Wand?“

Aus dem Hebräischen von Yevgeniy Breyger

*

7. Oktober 2024 17:34










Mirko Bonné

Testudo

Seit Juli vermisst: Schildkröte.
Der Zettel mit Zeichnung, gepinnt
an die nachtwarme Hauswand,
erzählt von ihr, aber nicht viel.
Man erfährt nicht, wie groß sie ist,
noch steht da etwa ihr Name – du
heißt womöglich genau wie sie.
Gleich, wie lang es sie schon gibt,
40 Jahre (dann hätte sie die Größe
eines Kindersoldatenhelms) oder
70 (mit einem verirrten Mähroboter
würde man sie verwechseln) oder
auch 120 (sie gliche dann einem
der friedfertigen Provencewarane) –
dein Alter bemisst du an ihrem.

Wilde Schildkröte, kriech weiter
durchs Hochsommerdunkel, setz
einen Fuß vor den anderen und sei
nicht die Ruine einer Orangenhälfte.
Die Trompete des Donners. Summen
müder Grillen. Oben in die Stille gekippt
Geglitzer in den Sternwipfeln. Oleander
ist ein schleppendes Feuer, ein Rosa,
so tief, dass der Tag darin ertrinkt.

Der Nachtduft atmet. Lauwarm ist er
wie die Hand des Mädchens, dem
sie gehört und dessen Pulsschlag sie
noch durch ihren Panzer gespürt hat.
Komm schon, flüsterte es, zeig mal
den Kopf. Manchmal spielt sie noch
Römische Formation. Oder sie fängt
aus der Luft ein Knisterblatt. Schon
bündelt sie alle Bewegung, jedes
glücklose Eilen, zu dieser Stille,
die sie ganz so enthält, wie sie
alle Schildkröten enthält. Außen
erlischt sie, innen kriecht sie weiter
hinaus aus dem Tod, und dir zeigt sie,
der hier sterben muss, das bist du.

*

9. September 2024 11:29










Mirko Bonné

Unter Rosen

Plötzlich unter den Rosen,
Worte über meinesgleichen
auf den Lippen und meine
Ansichten von Rosen.

Spaliergeschöpfe ihr,
von April bis September
vertraut mit der Vorsicht
der blassen Postbotin,

ihr wehrhaften Blumen
in den Menschengärten
wendet das erloschene
Gesicht zur Sonne?

Laut euren Duftnoten
ist es etwas komplizierter.
Kein Absender, kein Datum,
und die Stempel verwischt.

Also bitte, liebe Rosen,
wo ist das Problem?
Ihr habt Dornen,
ich Zähne.

*

12. Juli 2024 12:25










Mirko Bonné

Zu „Veränderung“ von Sylvia Geist

Könnte ich Henry Miller einen Brief schreiben,
mit der klaren Absicht, ihn überzeugen zu wollen
von der Irrigkeit seiner Annahme, es gäbe keine
lebendigen Vergleiche naher Dichtung mehr, ich
würde ihm Sylvia Geists „Veränderung“ zitieren,

das Leben einer Eintagsfliege, o schöne Fliege,
würde ich sagen, und da bin ich, der beobachtet
sie, bezieht das kurze filigrane und vergebliche
Leben auf sich. Henry, schriebe ich, komm, bitte
sei nicht so unerbittlich. Wir versuchen unser

Bestes, und wir wissen ja, schwer ist es hier,
aber noch immer gibt es Augenblicke, in denen
ist alles anders. Begreifst du das denn nicht?
Ich weiß, sie weiß, alle wissen wir inzwischen,
wir müssen uns verändern. Ja. Hier ist die Welt.

*

6. Juni 2024 00:13










Mirko Bonné

Aus den Rimbaud-Übersetzungen

Bannières de mai

Aux branches claires des tilleuls
Meurt un maladif hallali.
Mais des chansons spirituelles
Voltigent parmi les groseilles.
Que notre sang rie en nos veines,
Voici s’enchevêtrer les vignes.
Le ciel est joli comme un ange,
L’azur et l’onde communient.
Je sors. Si un rayon me blesse
Je succomberai sur la mousse.

Qu’on patiente et qu’on s’ennuie
C’est trop simple. Fi de mes peines.
Je veux que l’été dramatique
Me lie à son char de fortune.
Que par toi beaucoup, ô Nature,
− Ah moins seul et moins nul ! − je meure.
Au lieu que les Bergers, c’est drôle,
meurent à peu près par le monde.

Je veux bien que les saisons m’usent.
À toi, Nature, je me rends ;
Et ma faim et toute ma soif.
Et, s’il te plaît, nourris, abreuve.
Rien de rien ne m’illusionne ;
C’est rire aux parents, qu’au soleil,
Mais moi je ne veux rire à rien ;
Et libre soit cette infortune.

Mai 1872.

Maibanner

An den helllichten Lindenzweigen
Verendet elend ein Halali.
Geistliche Lieder aber schwirren
Da zwischen den Johannisbeeren.
Dass uns das Blut lacht in den Adern,
Sieh nur den Wirrwarr Weinberg an.
Der Himmel ist hübsch wie ein Engel,
Azur und Wogen werden eins.
Ich geh. Falls mich ein Strahl erfasst,
Krepiere ich halt auf dem Moos.

Dass man Geduld hat und sich langweilt,
Das ist zu simpel. Bah, mein Kummer.
Ich will dramatisch mich vom Sommer
Fesseln lassen an sein Glücksgefährt.
Dass ich an dir so, o Natur,
– Nicht einsam, ah nicht nichts! − oft sterbe.
Statt dass die Schäfer, guter Witz,
Halbwegs verrecken an der Welt.

Ich will mich mürber jeden Monat.
Dir gebe ich, Natur, mich hin;
Samt Hunger und samt allem Durst.
Und bitte dich um Speis und Trank.
Nicht das Geringste kann mich täuschen;
Lacht an die Eltern, wie zur Sonne,
Ich aber will zu gar nichts lachen;
Und frei soll dieses Unglück sein.

Mai 1872.

21. Mai 2024 17:42










Mirko Bonné

Der Buëch

Er kommt dir
in der Finsternis
aus dem Schädel
gestürzt, der Fluss,

du hast die Alpen
hinter den Augen,
ihr Schiefergrauen
ein Totholzbrausen.

Die Burg von Serres
geopfert Brückenbau,
Brücken weggerissen,
Hindernis, Hindernis,

hinter deinen Augen
rauscht in dir talwärts
der gestürzte Fluss.
Das Schotterwasser.

*

29. April 2024 01:16










Mirko Bonné

London 1873

London 1873 (2024)

Rimbaud kam vier Tage nach Oscar Wilde auf die Welt, Oscar am 16. Oktober 1854, Arthur am 20., der erste in Dublin, der zweite in Charleville, einer Stadt im äußersten Osten Frankreichs, auf halbem Weg zwischen Lille und Nancy. Rimbaud nannte seinen Geburtsort Charlestown, und der junge Wilde verlebte schöne Sommertage in Charleville, der irischen, wundervoll grünen Landschaft. 1854 war John Keats erst 33 Jahre lang tot. Mit 22, im Alter, als Wilde anfing zu schreiben und Rimbaud Gedichte schon als Spülwasser bezeichnete, schrieb Keats in seine Ausgabe von Miltons „Paradise Lost“ eine Bemerkung an den Rand, eine Frage, die er sich selbst beantwortet. Beide Sätze lauten: „What creates the intense pleasure of not knowing? A sense of independence, of power, from the fancy’s creating a world of its own by the sense of probabilities.“ Frage und Antwort bilden nichts Geringeres als Keats’ eigene, sogar handgeschriebene Definition dessen, was er in einem Brief kurze Zeit später „Negative Capability“ nannte – die das dichterische Gemüt kennzeichnende Negativbefähigung: Der dichterische Mensch ist imstande, Zweifel und Halbwissen nicht nur zu ertragen, sondern fruchtbar zu machen. „Was bringt die intensive Freude am Nichtwissen hervor? Ein Sinn für Unabhängigkeit, für Kraft, der daher rührt, dass die Fantasie kraft des Sinns für Wahrscheinlichkeiten eine eigene Welt hervorbringt.“ Weder Rimbaud noch Wilde kannten die beiden Sätze. Sie müssen ihren Sinn auf andere Weise verinnerlicht haben.

*

9. April 2024 11:26










Mirko Bonné

Aus den Rimbaud-Übersetzungen

À une raison

Un coup de ton doigt sur le tambour décharge tous les sons et commence la nouvelle harmonie.

Un pas de toi, c’est la levée des nouveaux hommes et leur en-marche.

Ta tête se détourne : le nouvel amour ! Ta tête se retourne, — le nouvel amour !

« Change nos lots, crible les fléaux, à commencer par le temps », te chantent ces enfants. « Élève n’importe où la substance de nos fortunes et de nos vœux » on t’en prie.

Arrivée de toujours, qui t’en iras partout.

An eine Vernunft

Ein Schlag deines Fingers auf die Trommel entlädt alle Töne und beginnt die neue Harmonie.

Ein Schritt von dir ist das Erwachen neuer Menschen und ihres Aufbruchs.

Dein Kopf wendet sich ab: die neue Liebe! Dein Kopf wendet sich zu – die neue Liebe!

„Wandle unsere Lose, sieb aus die Geißeln, angefangen mit der Zeit“, singen diese Kinder dich an. „Hebe, gleich wo, den Gehalt unserer Geschicke und Wünsche“, darum bitten wir dich.

Gekommen von je, die du wirst sein überall.

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13. März 2024 21:04