Mirko Bonné

Utopie

אוטופיה
״זוכרת איך זה היה פעם,
כשהשמש מילאה את השמיים?
… הימים האלה לא ייגמרו לעולם.״
רוברט סמית

הַבִּיטִי, הַשַּׁחַר
חוֹשֵׂף אֶת הָעִיר מִן הַלַּיְלָה
בְּרוּחוֹת קַלּוֹת,
בִּזְהִירוּת אַרְכִיאוֹלוֹגִית מֻפְלֶגֶת.
שְׁלוּלִיּוֹת עֲכוּרוּת עוֹלוֹת אֶל הָאוֹר
בְּשִׁירוֹ.
וְשֶׁלֶג, מַבּוּל מִתְפּוֹצֵץ שֶׁל רךְֹ.
זִמְרָתָן הַפְּרוּצָה שֶׁל הַצִּפֳּרִים מְנַבֵּאת
בְּקָרוֹב תִּתְפַּתַּח שֶׁמֶשׁ חֲדָשָׁה,
לֹא כֶּתֶם בַּעֲרָפֶל כְּמוֹ
טְלַאי מְכעָֹר.
מִישׁוֹרֵי הַפְּרִיחָה וְהַיָּמִים הָאֵלֶּה לֹא יִגָּמְרוּ לְעוֹלָם.
מִי שֶׁרָצִינוּ לִהְיוֹת,
הַשָּׁנִים הַמִּתְאַמְּצוֹת אֶל אֵיזֶה סוֹף,
מֵתוּ.
עַכְשָׁו אֲנַחְנוּ יְלָדִים.

„Weißt du noch damals wie es war
als die Sonne den ganzen Himmel ausfüllte
… diese Tage hörten nie auf.“
Robert Smith

Schau, die Dämmerung,
mit archäologischer Sorgfalt
schält sie bei leichtem Wind
die Stadt aus der Nacht.
Pfützen steigen ins Licht,
sein Gedicht.
Und Schnee, eine sachte Sturzflut.

Der brüchige Vogelgesang prophezeit
das Anwachsen einer neuen Sonne,
kein Nebelfleck wie
ein hässlicher Aufnäher.
Die blühenden Weiten und diese Tage hören nie auf.
Die wir sein wollten,
einem Ende entgegenstrebende Jahre,
sind gestorben.

Jetzt sind wir Kinder.

Shimon Adaf

(Aus dem Hebräischen von Mirko Bonné)

*

9. Oktober 2023 20:02










Mirko Bonné

Der Regen aus Milch

*

9. Oktober 2023 11:41










Mirko Bonné

Die Ameisen

Sie begrüßen jede Pore
im Beton, und sie wissen,
die Süße der Feigen hängt
vom Wind ab, davon, wie
heiß er weht ab Mitte Juli.

Sie durchqueren Wand und
Haus, lesen sich durch die
Dachzimmer und deine und
meine Erinnerungen, deren
Königinnen sie gut kennen.

Rennende Buchstaben und
schwarze Küsse wie Bisse,
rieseln sie über den Horizont
der Brüstung, Mischung aus
Regen, Ast, Lakritz und Blitz.

Sie schreiben Gottes Namen
in die Krone der Zieraprikose,
und wenn sie schlafen, schläft
der Tag. Sie haben kein Ziel
und erträumen, was sie sind.

*

24. August 2023 13:31










Mirko Bonné

Vincent maquillé

Vincent maquillé (2023)

29. Juni 2023 16:00










Mirko Bonné

Michelle

Wenn wir im Souterrainhalblicht des Ladens standen und
die Finger blätterten durch leicht gekippte Klarsichthüllen
alphabetisch einsortierter Platten, blieb für sieben Songs
die Schwerkraft aus. Wir fühlten alles, hörten jede kleine
Atempause, sahen einander auf den Händen balancieren
Alben und in allen Blicken die Musik entstehen zum Bild,
zur Zeile auf dem Cover. Und vorm Fenster war die Pest,
Gertrudenkirchhof, Tote taumelten lebendig auf den Platz,
Staub tanzte in der Luft, die fade, dumpf und unecht roch,
und alles das erwarteten wir und erkannten wir neu jedes
Mal, als hätten wir an Tagen, die wir nicht im Laden waren,
den Geruch an uns gehabt, herumgeschleppt durch träge
Tage, bis die Schwerkraft wieder ausfiel. Kein Gedächtnis
schöpfte unsere Tiefe aus. Und alle Kindheit war verflogen.
Und Alter zählte nicht. Und Seele war uns nahe Gegenwart,
und Welt immer dieselbe und die Einsamkeit neu jedes Mal.

*

13. Juni 2023 07:43










Mirko Bonné

Wegweiser

Die Wörter Freundschaft, Frau und Liebe, die Wörter
Verzeihen und Betrügen, fast hätte ich mich darüber
vergessen. Eine kleine Veränderung reicht aus, und
ich verschwinde in Träume, in Bücher, ja Kochtöpfe.

Meine Zunge wird mich verraten, der eigene Atem
mich umbringen, leider bittere Wahrheit. Ich werde
in Tau verwandelt und Asche, in Qualm, Schatten
an den Wänden, in Zündholzzischen und Flamme,

in die zerknüllte Stelle im Laken, in das Getropfe
des Wassers im Bad. Eine Epoche hinter mir und
kein Funkeln mehr im Blick, ist die Zeit ja wohl reif,
um alles hinzuwerfen. Ich zerfalle wie ein Konzern.

Ich breche zusammen ähnlich einem Imperium und
werde verhaftet wie ein Fußballgott. Zum Teufel mit
allem Gras. Ich werde jeden Anschluss verpassen,
ihr werdet’s erleben, meine Welt endet, das war’s.

Keine peinliche Begegnung mehr im Treppenhaus,
endgültig Vergangenheit die ganzen Zufallstreffen
am Brotstand im Supermarkt. Bleibt nur, ich gehe.

Schluss mit Verabredungen unter der großen Uhr,
die steht, oder stehen geblieben sein muss, egal,
so elendig langsam vergehen darauf die Minuten.

Nach Tomasz Różycki

*

31. Mai 2023 08:33










Mirko Bonné

Clapham Junction

Bewaffnet sind die Toten aus dem Grab gestiegen
Und flattern da in Wahrheit auch bloß Londoner Tauben
Die Zunge erkundet die Mundhöhle und weiß auf einmal
Die Jahreszeit des Kummers ist ein Vorstadtbahnhof

Und flattern da in Wahrheit auch bloß Londoner Tauben
Über Waggons voller Stahlschrott, Spänen und Schotter
Die Jahreszeit des Kummers ist ein Vorstadtbahnhof
In der so seltsam simplen Ökonomie der Welt

Über Waggons voller Stahlschrott, Spänen und Schotter
Die Lavendelhügel, die Lavendelfelder
In der so seltsam simplen Ökonomie der Welt
Spucken sie auf dich, Oscar, Ausgeburt allen Übels du

Die Lavendelhügel, die Lavendelfelder
Es war das reinste Gelage mit Panthern
Spucken sie auf dich, Oscar, Ausgeburt allen Übels du
Nimm es hin wie den ewigen Nebel und den Nieselregen

Es war das reinste Gelage mit Panthern
Die Zunge erkundet die Mundhöhle und weiß auf einmal
Nimm es hin wie den ewigen Nebel und den Nieselregen
Bewaffnet sind die Toten aus dem Grab gestiegen

*

16. April 2023 02:34










Mirko Bonné

Eisenbach

Wach auf, mein Herz, und weise wisse
Wir haben bei Weitem noch nicht alles geliebt
Denk nur an den Baum, der neben uns stand wie ein Lauschender
Der Sommer ein Jahr und die Glaswand nicht Glas

Wir haben bei Weitem noch nicht alles geliebt
Vergiss nicht, jede Uhr ist erfunden
Der Sommer ein Jahr und die Glaswand nicht Glas
1975 entdeckt man in China die Zärtlichkeit

Vergiss nicht, jede Uhr ist erfunden
Wie eine böse Knospe, in der eine furchtbare Blüte wartet
1975 entdeckt man in China die Zärtlichkeit
Als wäre es gestern gewesen, heute, jetzt

Wie eine böse Knospe, in der eine furchtbare Blüte wartet
Der Wind von den Sternen, die alle Sonnen sind
Als wäre es gestern gewesen, heute, jetzt
Scheuchen nachts Böen das Laternengelichter aus dem Kanal

Der Wind von den Sternen, die alle Sonnen sind
Denk nur an den Baum, der neben uns stand wie ein Lauschender
Scheuchen nachts Böen das Laternengelichter aus dem Kanal
Wach auf, mein Herz, und weise wisse

*

28. März 2023 17:46










Mirko Bonné

Calw

Da legt eine Prau an, im scheinbaren Wind aus nichts Segel
So klingt der süße Singsang von den allerschwersten Dingen
Piet gießt vor dem Laden um Mitternacht noch die Narzissen
Unverkäufliche Blumen schwimmen eine Woche im Brunnen

So klingt der süße Singsang von den allerschwersten Dingen
Fast schmeckt der Regen nach dem Wein in meinen Händen
Unverkäufliche Blumen schwimmen eine Woche im Brunnen
Zwei Absätze weiter unten in der Geschichte der Zerrüttung

Fast schmeckt der Regen nach dem Wein in meinen Händen
Wie Sparbücher voll Ziffern morgens die Fachwerkfassaden
Zwei Absätze weiter unten in der Geschichte der Zerrüttung
Ich wusste überhaupt nicht, dass ich vollkommen nackt bin

Wie Sparbücher voll Ziffern morgens die Fachwerkfassaden
Und der Marder im Dachstuhl entkommt durch die Träume
Ich wusste überhaupt nicht, dass ich vollkommen nackt bin
Während David Crosby auf dem Markt Wooden Ships singt

Und der Marder im Dachstuhl entkommt durch die Träume
Piet gießt vor dem Laden um Mitternacht noch die Narzissen
Während David Crosby auf dem Markt Wooden Ships singt
Da legt eine Prau an, im scheinbaren Wind aus nichts Segel

*

9. März 2023 22:21










Mirko Bonné

Nizza

Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium
Kaum dass ein Baum dort in der blauen Dünung treibt
Kein Kletterer im Berg kennt den Berg, aber du
Wie eine alte Seemöwe nachts bei Mistral

Kaum dass ein Baum dort in der blauen Dünung treibt
Klirren die Sternbilder, bis du dich in Bewegung setzt
Wie eine alte Seemöwe nachts bei Mistral
Nur ein Häufchen Kiesel und Zigarettenkippen

Klirren die Sternbilder, bis du dich in Bewegung setzt
Dann schreckt manchmal sogar ein Schatten zurück
Nur ein Häufchen Kiesel und Zigarettenkippen
Freude zu finden bleibt trotzdem der Sinn einer Passeggiata

Dann schreckt manchmal sogar ein Schatten zurück
Und sei er aus den verschwundenen Wäldern des Libanon
Freude zu finden bleibt trotzdem der Sinn einer Passeggiata
Bis die Wellenbrecher alles achtlos zertrümmern

Und sei er aus den verschwundenen Wäldern des Libanon
Kein Kletterer im Berg kennt den Berg, aber du
Bis die Wellenbrecher alles achtlos zertrümmern
Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium

*

17. Februar 2023 22:58