Mirko Bonné
Christian Saalberg
aus: DIE KANONEN VON SEWASTOPOL (I – X)
II
Angesichts dieser Verlockungen kann ich euch nur empfehlen,
Hut und Mantel zu nehmen, den Kragen hochzuschlagen
und rechtzeitig von dieser Erde zu verschwinden, die sich
schon auf dem Rost ihrer Vulkane vor Schmerzen krümmt.
Schießscharten erwachen mit fröhlichem Gezwitscher.
Überall wandernde Türme auf der Suche nach einem
Unterschlupf, selbst in Turin, einer Stadt hinter Glas,
Die dem Himmel näher ist, seit ihre Uhren ausgelaufen sind.
Ich würde gern wissen, welches Panorama die Pyrenäen
auf der Promenade von Pau bieten, falls sie der
Wind nicht längst fortgeblasen hat.
Und wo ist das anmutige Toben der Blumen geblieben,
das Rauschen der Wellen an einem Strand mit
leichtem Geröll?
Wo früher die Heide ein- und ausging, kreuzen sich
jetzt die Wagenspuren vieler Völker, die umherirren,
bis sie spurlos verschwunden sind.
*
Aus: Christian Saalberg, Offenes Gewässer, zu Klampen Verlag, Springe 2005
und: Christian Saalberg, In der dritten Minute der Morgenröte, Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von Mirko Bonné und Viola Rusche, Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2019
*
3. März 2022 20:24
Mirko Bonné
Christian Saalberg
Aus: DIE KANONEN VON SEWASTOPOL (I – X)
I
Es ist wieder so weit.
Die Augen der Kanonen von Sewastopol schauen
uns an und der Tod hüpft von Ast zu Ast.
Auf den Wegen unruhige Steine, schmelzende Sonnen und
eine Zitadelle, die die weiße Fahne hißt.
Selbst die Karyatiden knicken zusammen, obwohl sie
nichts mehr zu tragen haben, nur die leichte Last
Der Wolken und die Erinnerung an das Licht, sein
zärtliches Fingerspiel.
Am Abend öffnet sich eine Muschel und zeigt ihre
Perlennacht, die mit einem Seufzer die
Beseelten Ruinen verlässt.
Unterirdische Zwiegespräche und ein großer Durst
nach Farben, bis ein langandauernder Regen die
Leere füllt, das große Loch zwischen den zwei Welten.
*
Aus: Christian Saalberg, Offenes Gewässer, zu Klampen Verlag, Springe 2005
und: Christian Saalberg, In der dritten Minute der Morgenröte, Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von Mirko Bonné und Viola Rusche, Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2019
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27. Februar 2022 13:00
Mirko Bonné
Anfang Oktober Winterbeginn,
Birkenmoore. Birkenmoore
im Dunst der Zellulosefabrik,
Girlies auf Glitzerpumps
stöckeln über Schlaglöcher
zu einer Rostlaube im Garten.
Da lehnen Männer an dem Wolga
und kippen einem Schäferhund
vor der Baracke Wodka ins Maul.
Alle zehntausend Seen sind grau.
Groß wie ein Meer ist der Onega
und Murmansk einen Tag entfernt.
Bei der Holzkirche am Wasserfall
tosten zu Parteizeiten Baumstämme
wie Breschnews Panzer die Suna flussab,
wo jetzt der Ministerialbau steht,
wuchsen Hagebutten und Heckenrosen,
so war es. Aber jetzt ist es anders.
Eine Elchkuh ertrinkt, dazu fiepen
elektronische Autotürverriegelungen,
und vorbei wankt blau ein Trolleybus.
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22. Februar 2022 21:20
Mirko Bonné
Entsorgen wollen sie mich, meine Lieben,
wie ihre Mutter unseren Hund – nein, das
weiß nur noch ich. Ein gelber Collie-Mix,
der so treu war, dass er mir des Öfteren
zu weinen schien. Jetzt verstehe ich ihn.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.
Natürlich, seinen Vater soll man zerstören.
Meiner, der schlug einmal meinem Hund
fluchend mit der flachen Hand aufs Maul,
weswegen ich nie wieder ein Wort mit ihm
sprach. Er ist tot, und ich gebe nicht nach.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.
Innigkeit fällt uns nicht zu, sie hat triftige
Gründe, aber einen Anspruch auf Liebe
niemand. Doch ist jeder ihrer wert, jeder
Hund, der treu war, nicht bissig, nur nicht
beliebt. Gut, wenn es ihn nicht mehr gibt.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.
*
27. Januar 2022 21:36
Mirko Bonné
Die einzige Hostie deines Lebens schmolz
auf deiner Zunge in dieser Bauernkirche.
Deine Jüngste bestaunt die Einritzungen
im Geländer der Empore: Gleichaltrige
schickten ihr Nachrichten, vom Juli 1759.
Tölz, Isarhochwasser, und das Spaßbad,
du hast da schwimmen gelernt, abgerissen.
Regenfälle, als versuchten die Berghänge
flüssig zu werden. Es schwemmt sie weg,
deine Wurzeln, und: Du hast eh nichts mehr
zu suchen hier, du Spross einer Gegend.
Hirschwirtkind. Du Umbruchsohn. Du Leser
leerer Schatten, von singbarem Schwund.
Und jedes Und ein Grund zur Versöhnung.
*
19. Januar 2022 18:03
Mirko Bonné
Die Leere in den Bibliotheken, in den Gärten, in Schulen: die Leere
an der See, im silbernen Licht, die leeren Straßen, Märkte. Die Leere
in den Gesichtern, in den Sätzen, den Bergen, die Leere der Sainte-
Victoire in den Zügen, im Schnee. Die Leere in den Träumen: Leere.
In den Liebesbekundungen, in den Klubs, Mails, Wolken, Stadien: die
Leere. Am Himmel die Leere, auf den Wegen, in den Innenstädten,
den Schwimmbädern: Leere, wo ich stehe, wohin ich gehe, woher
du kommst. Aus deiner Leere in meine. Die leeren Versprechungen,
Erinnerungen, die Leere im Wind, in den kahlen Bäumen, Lokalen,
Perspektiven, Phrasen, Grünflächen: die Leere der hohlen Gesten.
Die Leere des Blicks da im Spiegel, in den Spielen der Kids und in
den Kirchen, im Bus: die Leere, die leer ist, nichts weiter, nur leer.
*
22. Dezember 2021 21:01
Mirko Bonné

Zur Erinnerung an Marie T. Martin (1982 – 2021). Mein Foto zeigt Marie im Januar 2015 am Nord-Ostsee-Kanal in Rendsburg gemeinsam mit Tom Schulz.
10. November 2021 23:14
Mirko Bonné
Phänomenale Simulationsentlarvung
durch die Grünfinken. Es gibt sie noch,
die helle Pracht im Bronzenen und im
Silbernen und im Goldenen Oktober.
Im Garten Edenkoben ja. Die Äpfel
rollen ins Gras, das sie davon abhält,
weiter zu stürzen, weiter zur Erdmitte.
Ich gehe in der Fliegenmansarde unter
dem Dach umher, Stubenfliegenrettung,
damit nicht alles sterben muss im Licht
der ausgesperrten Sonne.
Die Fenster
sind verschließbare Öffnungen in Tag
und Tod. Nachts leuchtet der Regen.
Nichts leuchtet nachts wie Regen
aus dem Weinberg herauf, Regen,
der nach Riesling duftet. Die Bläue
ist groß, das Gras aber grüner, weil
ich es so will. Ich werde umziehen
ins Grünfinkenzimmer. Ich werde
die Unwirklichkeit abschütteln mit
einem Bussard als bestem Freund.
Für Ernest Wichner
*
21. Oktober 2021 14:02
Mirko Bonné
Er trägt auf dem Rücken als Zeichnung
ein einzelnes, blinzelndes, bewimpertes
Auge. Was es eräugt, fliegende, fliehende
Beute, frisst er nicht. Er kann warten,
wie Hitze, Gott warten. Er lähmt, zerrt
alles Wände hoch in Staubwinkel. Im Stillen,
für dich, in deiner Stachelsprache, nenn ihn
Mensch. Nur sprich das Wort nicht aus.
Für Andreas Altmann
*
16. September 2021 12:10
Mirko Bonné
Den uralten Pfad hinauf. Nur Schotter.
Und entlang dann, dann hindurch unter
Strauchwerk, scharf, stachlig, immergrün.
Alles war bewaffnet, Jannis, wie wir da
kampflustig so zur Kapelle hinanstiegen.
Thymian, Lavendel. Salbei. Phönizischer
Wacholder im Sommerradau der Zikaden.
Unbeugsam der Widerstand, unerbittlich
wie die Sonne die Schattenbemühungen
verhärteter Früchte und was der Ilex lehrt,
wenn das Licht ihn malträtiert: Wahr werden
alle Färbungen von allem, das aufbegehrt
und dabei doch gerechtbleibt wie die Grille,
die Eule. „Nichts“, so du da oben, „ist härter.“
Weißt du noch? Drei Tage lang hatten wir
bei Dauerregen alles alte Holz vom Keller
ins Haus geschleppt, zerkloppt und im Kamin
verfeuert. Unser Qualm, Jannis, quoll fabelhaft
über das Dach. Wolken wurden das Laufgitter
meiner Liebsten, Stühle, Rahmen, ein Sessel
und die alte, halbe Gute Frau von Forcalquier.
Vorbei an der Kapelle, in deren glaslose Fenster
Kinder mit dem Mistral riefen – drei Gespenster –,
stiegen wir zum Schloss hinauf. Weißt du noch,
der Trümmergipfel seit fast tausend Jahren?
„Ich bin zu lang schon tot. Und Griechenland,
mein Hellas ist verbrannt“, so da oben du.
Das Laufgitter meiner Liebsten, Stühle, Rahmen …
alles sah ich unter Kiefern, wie neu, da oben stehen.
Es war dein Haus. Nur die Tür und alle Fenster fehlten.
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26. August 2021 08:05