Thorsten Krämer
Hier münden alle Ambitionen, wächst
zusammen, was nicht zusammengehört. Die Titel
fast schon ein Zuviel an Text, Echos
einer Parallelgesellschaft.
Leben und Lektüre
versöhnen sich im Simulacrum: die Utopie
der Schneekugel, eine Sehnsucht ohne Unterkellerung.
(für Che-Hi Choi)
26. November 2019 10:59
Thorsten Krämer
Schwarz auf Weiß stehen sie da, mitten
im Abteil (das ist natürlich
nur die Spiegelung) des Regionalzugs.
Du, unterwegs
in die Vergangenheit, bist ihnen nur
ein Schatten, der vorüberzieht.
30. Oktober 2019 11:57
Thorsten Krämer
sollte das werden, aber wir haben die Klangschalen
als Aschenbecher benutzt und schlechtes Karma
auf uns gezogen. Was gar nicht so schlimm ist, denn
das schlechte Karma raucht dieselbe Marke wie
wir, und nun stehen wir paffend am Strand. Schau,
der Himmel hat eine leuchtende Wunde, die kann
man sogar vom Mond aus sehen. Ich schenke dir
meine filterlose Aufmerksamkeit, du importierst sie
beiläufig. Sei still jetzt, Zeit, flüstere ich mit meiner
Muschelstimme, auf meine normale Stimme reagiert
die Zeit nicht. Das sind so Erfahrungswerte, die weißt
du auch. Was du noch nicht weißt: Der Regen ist eine
False-Flag-Operation. Wir schließen die Augen und
schlafen wie Erleuchtete.
12. September 2018 18:20
Thorsten Krämer
in den Sand geschrieben, aber der Sand
kann nicht lesen, und das Meer ist zu müde
für Haarspaltereien. Dann gehen wir eben
einkaufen, sagst du, und hast schon den
Kuli gezückt. Wir schreiben Listen als
Teambuilding, unser Enthusiasmus über-
fordert jeden Supermarkt. Mit streberhaft
gepackten Tüten folgen wir dem Radweg
bis zur Erschöpfung. Da liegen wir dann
so rum, wir könnten auch heldenhaft wieder
aufstehen, aber wozu? Kommissarisch werden
wir Weichtiere, der vorurteilsfreie Nachmittag
schüttelt mitfühlend unsere Hände. Also was
ist jetzt mit der Beule?
10. Mai 2018 07:46
Thorsten Krämer
ich habe noch einen zweiten, dritten und
fünften (der vierte ging schon im Vorjahr
kaputt), ich bin ja inzwischen mein eigenes
Ersatzteillager. Also gräm dich nicht, liebste
Knochenbrecherin, und verhalte dich bloß nicht
sanfter als sonst. Auch die Mücken fliegen weiter
dieselben Manöver, sie zeigen mir die Ungereimtheiten
meiner Haut. Und was zeigst du mir, verehrteste
Expertin? Hast du im Portemonnaie jetzt endlich
den Trainerschein? Die leichteste Übung ist
immer die nächste, ich hole tief Luft und lege
zwei Finger auf die Stoppuhr. Komm, wir üben
Karate mit Karacho, ein Handgemenge unter
verklärten Bedingungen.
25. April 2018 09:49
Thorsten Krämer
Die Schalen von zwei Kilo Schwarzwurzeln, ein Büschel Haare, eine Bleistiftmine, eine Handvoll Hasenkot, fünf Kopfschmerztabletten, 50 cm Kordel und ein Lorbeerblatt sehr fein schneiden und in etwas Öl anbraten. Mit reichlich Rotwein ablöschen, eine Viertelstunde weiter dünsten und dann passieren. Anschließend langsam zu einem Jus reduzieren. Mit diesem dann nach Belieben die acht Eckpunkte des Käfigs markieren.
Die elf Arten von Traurigkeit, für die dieser Käfig geeignet ist, lauten:
– die Traurigkeit eines Influencers in der Wüste
– die fünffüßige Traurigkeit
– die Traurigkeit, die ein frankophiler Elvis-Imitator nach seinem ersten Auftritt verspürt
– die Traurigkeit, die sich anfühlt wie eine kleine Raupe, die man an einem Montagmorgen in seinem Federmäppchen findet
– die ihr baldiges Verschwinden antäuschende Traurigkeit
– die silberne Traurigkeit
– die Traurigkeit einer strahlenden Herbstmaschine
– die Traurigkeit, über die man nicht spricht
– die Traurigkeit eines kernsanierten Fundbüros
– die andere Traurigkeit
– die Traurigkeit, deren rechter Ärmel ein bisschen zu lang ausfällt
16. April 2018 10:28
Thorsten Krämer
Was es zu wissen gibt über Gegel,
kann dir ein Russe in fünf Minuten erklären.
Aber in der Londoner Nacht
ist kein Russe zur Hand.
Und die Gespräche überkreuzen sich
bis zur Unverständlichkeit.
Gegel.
Hēgeru.
Hēigéěr.
Es gibt einen Witz, dessen punch line lautet:
„Everybody’s got to be somewhere.“
Auch das hat mit Gegel zu tun.
Schwarz.
Gitter.
Du.
Ich schreibe nach dem Hören.
Es gibt ja keinen Mangel an Sinn,
nur den Überfluss der Zeichen.
Gegel mit Gegel.
Gegel ohne Gegel.
Gegel gegen Gegel.
Was sich zu verstehen lohnt,
lässt sich nicht verstehen.
Wer das sagt, ist kein Russe
und hat keine Ahnung von Gegel.
Aber in der Londoner Nacht
liegt noch immer Mǎkèsī begraben.
(für Isolda Mac Liam)
7. Januar 2018 19:20
Thorsten Krämer
Einmal sah ich hier eine Horde Germanen
durch den Wald laufen. Sie stürmten schreiend
den Hang runter bis vor die Blue Lounge. Dort
tranken sie Latte Macchiato im Stehen und
warteten auf den Bus.
Eine Stadt wie
ein Symbolfoto: der Mittelstand, das Mittel-
gebirge, das mittlere Einkommen in the heart
of the heart of the Süderland.
Und der Zug
schlängelt sich durch die Landschaft wie das
weiche Deutsch eines Persers.
28. Dezember 2017 11:56
Thorsten Krämer
Der Moment in der RB48, kurz nach Mitternacht, wenn die
junge Frau am Fenster gegenüber auf den Klappmülleimer
kotzt, du hörst das Plätschern und blickst auf, reichst wortlos
ein Paar Taschentücher, wie sie dann aufsteht und in Richtung
Türen geht, und wieder hörst du dieses Plätschern — kein
lautes Würgen, Husten oder Spucken, nichts Expressives oder
Körperliches — nur dieses sanfte, freundliche Geräusch, die
unerschütterbare Unaufdringlichkeit.
22. Dezember 2017 17:55
Thorsten Krämer
Der Moment im Bett, wenn du nicht schlafen kannst und
plötzlich merkst, dass du ja in stabiler Seitenlage liegst, wie
nach einem Unfall, als hätte jemand anderes dich vorsichtig
in Position gebracht, damit du unbeschadet bleibst, der Kopf
geneigt, dass nichts die Atmung stört, und du verstehst, dass
dieser Jemand wohl dein Körper war — wie freundlich dieser
Körper also sein kann, auch wenn du diese Art der Fürsorge
für etwas übergriffig hältst.
9. Dezember 2017 13:49