Thorsten Krämer

Ein Käfig für die Aufzucht von Unterlassungsklagen

Man braucht vier komplette Sätze Registerkarten, alphabetisch geordnet. Diese werden am 7. des Monats in zwei getrennten Sitzungen (die Pause dazwischen sollte mindestens eine Stunde dauern) auf vier gleich große Plexiglasdreiecke geklebt, den Rand entlang. Zuerst die Vokale, dann die Konsonanten. (Wenn der 7. des Monats gerade erst vorbei ist und man nicht so lange warten will, geht auch der 22. des Monats.) Als nächstes lässt man im Baumarkt eine quadratische Buchenholzplatte zuschneiden, wobei die Seitenlänge so zu wählen ist, dass sich aus dem Quadrat und den Dreiecken eine Pyramide bilden lässt. (Buchenholz ist hier als erste Wahl zu verstehen, Lärche oder Eiche tun es zur Not auch. Und wer handwerklich geschickt ist, kann den Zuschnitt natürlich auch selbst besorgen. (Es ist auch der Fall denkbar, dass kein Baumarkt in der Nähe ist, dann führt ohnehin kein Weg am eigenhändigen Zuschnitt vorbei, es sei denn, man hat zufällig gerade eine Platte in der passenden Größe zur Hand.)) Bevor die fünf Elemente nun zusammengeleimt werden, schneidet man in jedes der vier Plexiglasdreiecke ein Loch. Das ist wichtig, um später das Streugut leichter wechseln zu können. Wem das zu aufwändig ist, der kann einfach eines der Dreiecke weglassen und stattdessen an dieser Seite zwei große Kochlöffel anbringen. (Wer die Möglichkeit hat, günstig an Küchenzubehör zu kommen, kann auch alle vier Seiten der Pyramide durch Kochlöffel ersetzen. Die Registerkarten werden in diesem Fall nicht benötigt.)

8. September 2017 16:15










Thorsten Krämer

Ein neuer Fisch im Schwarm: Jonis Hartmann



Jonis Hartmann lebt in Hamburg und arbeitet als Autor, Kritiker, Veranstalter und neuerdings auch als Literaturzeitschriftenmitmacher. 2016 erschienen sein Lyrik-Debüt „Bordsteinsequenzen“ im Elif Verlag und der Literatur Quickie „B-Texte“ mit Kurzprosa.

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Idee von einem Satz

Gestern sagte mir jemand, dass die Gedichte dieser Tag wie Prosa wären und die Prosa wie Müll. Wenn ich heut Abend jemanden träfe, könnte ich sagen, dass Worte Gefangene sind oder Entdecker, aber das wird nicht der Fall sein, denn heut Abend verlassen wir die Erde. Wie dumm von mir, nichts erwidert zu haben. Jetzt heißt es warten.


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Herzlich willkommen, Jonis!

30. August 2017 07:53










Thorsten Krämer

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Der Moment am Waschbecken, wenn du ins Innere
der Tube schaust, die Reste Zahnpasta in trübem
Rosa, wie Schimmel sieht das aus, die isolierten
Klumpen an der messingfarbenen Beschichtung, die
sonst kein Licht sieht und auch jetzt ganz stumpf
bleibt, trotz der Morgensonne, die grell die Szene
überstrahlt — ein bloßer Akt der Sparsamkeit, der
unversehens ins Obszöne kippt.

2. August 2017 11:07










Thorsten Krämer

Ich habe dein Deo vergraben und bereue

es nicht; ich lege mich mit dem Wind an, denn
er riecht nicht nach dir. Dabei bin ich sonst gar
nicht der streitsüchtige Typ, du kannst das
bezeugen, im Gegenteil: Ich stifte Frieden

zwischen Berg und Meer, du hast mich als
Botschafter gleich akzeptiert. Aber auch
die Symbolhandlungen sind letztlich nur
Ablenkungen, wie der Zangengriff um die

Nase, wenn die nächste Welle kommt. Ich
inhaliere jetzt nur noch auf Lunge und nehme
die Spätfolgen lächelnd in Kauf. Das gelobe
ich freihändig in diesem Moment höchster

Luzidität. Oder wie nennt man diesen legalen
Zustand des Weggeknalltseins?

28. Juli 2017 09:14










Thorsten Krämer

Ein handlicher Käfig für unterwegs

Ein Tischtennisball, in den mit einem Skalpell fünf Löcher von jeweils drei Millimeter Durchmesser geschnitten wurden. Zwei Grashalme, die Enden dick verknotet, sind derart durch vier der Löcher gezogen, dass sie sich im Innern kreuzen. Ist der Käfig in Gebrauch, steckt im fünften Loch ein Streichholz, dessen Kopf exakt den Mittelpunkt des Balles bildet.

20. Juli 2017 15:24










Thorsten Krämer

Ein Käfig für ein brennendes Auto

Eine geruchlose Masse, zäh wie Kaugummi, wird in Form gebracht durch einen darin befindlichen Luftballon, dessen langsames Aufblasen vom Abspielen der italienischen Nationalhymne begleitet wird. Nach dem Zerstechen des Ballons wird die verbleibende Öffnung vorsichtig geweitet. Dort hinein gibt man ein methodistisches Gebetbuch, zwei abgebrochene Schlüssel, eine Perücke aus Echthaar, die Gummifüße einer Leiter, fünf gefaltete Adressaufkleber und eine Meerschaumpfeife. Alles gut schütteln und eine Woche stehen lassen. Dann das brennende Auto behutsam einführen.

7. Juli 2017 21:30










Thorsten Krämer

Das Nilpferd

Was ihr über mich zu wissen meint, ist nur das, was ihr über mich zu wissen meint. Es hat nichts mit mir zu tun.

Der Aphorismus ist mein Habitat. Ich fülle jeden Satz aus.

Ich folge dem Lauf meiner Gedanken, bis er mich in die Irre führt. Dann wird aus dem Lauf ein Gang, ein Treiben, ein Schwimmen, Trudeln und Kreiseln, und aus den Gedanken ein großer Haufen Grünfutter.

Aus meinen Ohren wächst ein entzücktes Händeklatschen. Die Abfolge von Ursache und Wirkung ist immer schon amphibischer Natur.

Ich kann, wenn es sein muss, auf einem Grashalm balancieren. Aber ich führe keine Kunststücke vor.

Der Glanz meiner Haut ist ein Monument der Feuchte. Der Schlamm ist Erde, die ihren Horizont erweitert hat.

Wir müssen über mein Maul sprechen, mein riesiges Maul: Es ist der Kurzschluss meiner Existenz. Es ist der Mond, der sich öffnet und schließt. Es ist ein Widerschein, eine Ablenkung. Mein riesiges Maul ist nichts anderes als eine Abstellfläche für meine Zähne, meine riesigen Zähne.

Wenn mein Hunger zu groß wird, schwebt er davon. Ich schaue ihm hinterher, bis er nicht mehr zu sehen ist.

Luft und Wasser sind keine Gegensätze, sogar die Fische atmen. Ich bin ein Gegensatz.

Jede meiner Bewegungen ist eine Frage, eine Antwort und ein Lachen. Jedes Lachen ist die Negation der Bewegungslosigkeit. Jede Negation bewegt sich anders. Wenn ich müde bin, stelle ich selten Fragen. Wenn ich schlafe, gebe ich seltsame Antworten.

Das Riesige ist keine eigene Kategorie. Es ist nur das enthemmte Kleine.

Bei Regen bin ich intelligent. Der Rhythmus der Tropfen, die mich treffen, diktiert mir eine neue Erkenntnis. Ich stampfe mit den Füßen, um sie nicht zu vergessen.

Die Konsequenz meide ich konsequent, sie ist mein einziger natürlicher Feind. Aber manchmal schauen wir uns gemeinsam die Sterne an.

Alles, was ihr nicht über mich wisst, ist wahr.

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

9. Juni 2017 07:06










Thorsten Krämer

Das Okapi

Über dem Okapi strahlt die Okapisonne. Unter dem Okapi liegt der Okapischatten. Das Okapi mag den Klang seines Namens: Okapi Okapi Okapi. Doch dann verhallt der Klang, und es ist wieder still. In der Stille wird das Okapi unsicher; es weiß nicht mehr, ob es überhaupt noch da ist. Ein Blinzeln reicht, und es ist nicht mehr zu sehen.

Okapi, wo bist du? Komm heraus und zeig dich, Okapi!
Solche Rufe nützen gar nichts. Das Okapi ist nicht scheu, nur existenziell instabil. Es blendet ein und wieder aus und weiß selbst nicht so genau, was als nächstes passiert. Jetzt steht es hier an einem Wasserfall. Das Wasser rauscht so laut, dass man fast nichts mehr erkennen kann. Im Getöse wird das Okapi unsicher; es weiß nicht mehr, ob es überhaupt noch da ist. Hinter dem Vorhang aus Wasser verschwindet es gänzlich.

Nein, nicht gänzlich. Hier steht es jetzt unter einem Brotnussbaum. Es schnappt nach den süßen Früchten, die schon leicht vergoren sind. Jetzt hätte das Okapi gerne den langen Hals der Giraffe, seiner nächsten Verwandten. Aber man kann sich seinen Hals nicht aussuchen, nicht einmal das Okapi kann das. Mit seinen gestreiften Beinen ist das Okapi dagegen sehr zufrieden. Wenn es im richtigen Tempo trabt, bilden diese Streifen ein sich rhythmisch bewegendes Interferenzmuster, das fast schon eine hypnotische Wirkung hat.
Dann kommt Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz …

Und wo ist das Okapi jetzt?

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

27. Mai 2017 07:27










Thorsten Krämer

Der Marabu

Der Marabu ist von allen Vögeln derjenige, welcher in einer Sauna am wenigsten auffallen würde. Auch eine Fahrkartenkontrolle in einem Intercity würde er problemlos überstehen. Die Hässlichen sind die wahrhaft Unsichtbaren.

In Hamm lebte ein Marabu mehrere Jahre unbemerkt neben einer Tankstelle. Er ernährte sich von den Abfällen der Autofahrer und wärmte sich an der Abluft des angeschlossenen Bistros. Lediglich einige Kinder, die im richtigen Moment aus dem Fenster schauten, während ihre Mütter oder Väter mit der Zapfpistole in der Hand neben dem Wagen standen und den kurzen Moment der Ruhe in ihrem hektischen, durchgeplanten Tagesablauf auskosteten, diese Kinder sahen den Marabu. Doch wurde ihnen natürlich nicht geglaubt, denn einen solchen Vogel hatte hier in Hamm noch niemand sonst gesehen, zumindest nicht in freier Wildbahn. Nur bei einer Gelegenheit erblickten auch die Erwachsenen den Gast aus Afrika: wenn er oben am Himmel vorbeizog, aus der Ferne kaum unterscheidbar von seinem heimischen Verwandten, dem Storch.

Ein ähnlicher und doch ganz anderer Fall ist aus Jena bekannt. Dort richtete sich ein Marabu im Innenhof einer Behörde ein. Die Raucher, die sich in regelmäßigen Abständen dort zusammenfanden, hielten ihn für einen der ihren, und auch die wenigen Bürger, die vor einem wichtigen Termin noch einmal frische Luft schnappen wollten, nahmen keinerlei Anstoß an seiner Anwesenheit, grüßten ihn sogar vorsorglich für den Fall, dass sie ihm vielleicht später in einem der Zimmer gegenübersaßen. Sein beharrliches Schweigen nahm dem Vogel niemand übel, im Gegenteil, es wurde ihm als Lebensweisheit ausgelegt. Erst ein Ornithologe, der Privatinsolvenz anmelden musste, machte diesem angenehmen Leben ein Ende. Als der Marabu verstand, dass dieser Mensch ihn für das sah, was er war, breitete er die Schwingen aus und hob sich, nicht ohne Bedauern, in die Lüfte.

Wahrscheinlich hätte ich dir das besser nicht erzählt. Jetzt frage ich mich, wann es dir aufgefallen wäre, wenn ich nichts gesagt hätte.

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

14. Mai 2017 06:18










Thorsten Krämer

*

Der Moment im Zug, wenn plötzlich am Horizont Düsseldorf
aufleuchtet, unter einem bilderbuchblauen Himmel, eine
rheinische Epiphanie ohne Ansage, denn gerade noch warst
du vertieft in deine unleserlichen Notizen, hattest keinen
Sinn für das Wetter — und jetzt sitzt du hinter, nein vor der
Scheibe, und der Himmel und die Wolken und die Landschaft
sind keine Unterbrecher deiner Konzentration, sondern deren
Ausstülpung ins Flüchtige.

10. Mai 2017 09:02