Thorsten Krämer

Meine fünfte Büchnerpreisrede

ließ ich im ICE nach Berlin liegen. Ich frage mich, was aus ihr geworden ist. Zwei-, dreimal habe ich versucht, sie aus dem Gedächtnis noch einmal zu schreiben, aber schon nach wenigen Sätzen verlor ich immer den Faden. Wenn ich an sie denke, sehe ich nur einen Umriss, ich höre einen hohen Ton und meine, ein dezentes Zimtaroma zu riechen. Sobald ich versuche, eine dieser Sinneswahrnehmungen zu fokussieren, wird alles plötzlich noch vager, und ich spüre nur noch den Puls in meinem Hals schlagen. Mein Bruder meint, das sei ein Anzeichen für erhöhten Blutdruck, ich sollte mal besser zum Arzt gehen. Aber das Phänomen tritt ausschließlich auf, wenn ich an diese spezielle Rede denke, und so oft denke ich wirklich nicht an sie.

6. November 2022 10:11










Thorsten Krämer

Meine erste Büchnerpreisrede

war voller Fehler. So behauptete ich, dass Helmut Heißenbüttel im Krieg seinen rechten Arm verloren hätte, dabei war es der linke. Ich zitierte den Satz: „Verwechseln Sie, was ich zu sagen versuchen werde, nicht mit Eindrücken‟ und schrieb ihn Marie Luise Kaschnitz zu; dabei ist er natürlich, wie alle Welt weiß, von Ingeborg Bachmann. Der Spott blieb nicht aus: „Dichter verwechselt rechts und links‟, titelte die BILD-Zeitung; bei den RTL-News wurden vor dem Wetter spaßige reaction videos einiger besonders gehässiger Kolleg*innen gezeigt. Ich reiste nach Hagen und ließ nichts mehr von mir hören. In einer neu möblierten Zwei-Zimmerwohnung am sterbenden Stadtrand saß ich nachts wach und lauschte dem fernen Gedröhn der Autobahn. Tagsüber tobte eine Horde Kinder durchs Haus, es waren gerade Sommerferien. Ich fühlte mich erstaunlich gut. Schließlich griff ich zum Handy und rief B. an. Den Inhalt unseres Gesprächs kann ich hier nicht wiedergeben; jedenfalls war eine Folge dieser denkwürdigen drei Stunden, dass ich am nächsten Tag meine Sachen packte und zurück nach Wuppertal fuhr. Zu meiner Erleichterung war der Skandal längst Schnee von gestern, die nächste Sau wurde bereits durchs Dorf getrieben (die Dichterin M. hatte aus Versehen ein Sonett mit 15 Versen veröffentlicht). Ich setzte Kaffee auf und duschte lange. Dann zog ich ein frisches Blatt in die Schreibmaschine ein und begann zu tippen.

26. Oktober 2022 10:35










Thorsten Krämer

Sfumato I

Das ist nicht die Vergangenheit, das war erst
gestern. Es ist noch viel zu früh, die Dinge
abzuschließen, sie verwischen bloß am Rand.

We brake for nobody: So steht es am Heck der
Gegenwart. Sie schiebt sich endlos durchs
Bild, im Hintergrund die Leere des Alls.

Trägheit und Nervosität, diese Kombi sorgt für
Unbestimmtheit. Was bleibt, ist dieser
Überhang, ein Rest von Raserei

im Sirup dieser Tage.

17. September 2022 12:27










Thorsten Krämer

Contre-jour III

Ich will auch gar nicht ins Detail gehen, das hat so
was Obszönes. Wird alles weggelasert, Staub und
Dreck und was so anfällt. Die Abstraktion
ist eine Vetternwirtschaft, ich unterschreibe
keine Wechsel mehr.

Ich bin das Gegenteil vom Fluchtpunkt, ich stehe
gerne hier rum. Die Welt ist alles, was meine
Augen bedeckt. Das Gegenlicht ist an
und für mich.

3. September 2022 07:46










Thorsten Krämer

Contre-jour II

Ich kann leider nur Konturen, das muss ein
Geburtsfehler sein. Ich kompensiere das mit
makellosem Stellungsspiel. Auf Dauer allerdings
macht sich die Flächigkeit bemerkbar, ich fülle
Inhalte mit der Pipette.

Das hier ist auch so ein Inhalt, weiß der
Himmel, wo der herkommt. Die Langsamkeit
des Blicks dagegen ist dem Sonnenstand
geschuldet.

27. August 2022 15:38










Thorsten Krämer

Contre-jour I

Ich bin das Schattenauge, das sich selten rührt. Bleib
bitte jetzt so stehen. In anderen Verhältnissen
wäre ich ein Sonnenbrand, ich schnitte die Aloe Vera
tiefgekühlt. Nur du trennst mich noch von der
Blindheit, und ich erkenn dich nicht.

Es macht auch keinen Unterschied, ob du den
Kopf zu mir drehst oder nicht. Der Schatten ist
ein Sinnverschlinger, und ich bin mittendrin, schon
immer. Bleib bitte jetzt so stehen.

20. August 2022 13:57










Thorsten Krämer

Ich aß ein Mettbrötchen in Hamm

auf dem Weg zu mir. Das war der Tag, als die
Züge streikten. Ich aß es schüchtern, nahm es kaum
aus der Tüte heraus, die Maske unters Kinn geschoben.

Man wird das später alles nicht verstehen – Maske?
Mett?
Bald bin ich 50. Ich aß ein Mettbrötchen in Hamm
und es schmeckte mir.

2.9.2021

2. September 2021 17:53










Thorsten Krämer

*

30. Mai 2021 21:59










Thorsten Krämer

Sonnet 116

Sonett 116

6. Dezember 2020 11:57










Thorsten Krämer

Löcher

Ob Strümpfe, Schuhe oder Pantoffeln:
Am Ende gibt alles nach.

Im Vergleich zum Freiheitsdrang meiner großen Zehen
bin ich nur ermüdetes Material.

27. Oktober 2020 11:03