Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (125)

8. Januar 2016, ein Freitag

Gestern Rückkehr aus Göttingen. Anreise vorgestern. Frau S. gastspielte mit dem Maskenstück Hotel Paradiso. Wir trafen uns zuvor in der Bäckerei Thiele am Rathausplatz zu Göttingen vis-à-vis dem Standesamt. Ich traf früh ein und überbrückte die Wartezeit mit Notizen, da ich im Notieren der Umwelt mich gut davor schützen kann, dass meine Umwelt von mir Notiz nimmt. Ich notierte:

Der gastliche Bäcker Thiele zu Göttingen herbergt Sanitär. Wer diesen Bereich aufsucht und die Türe hinter sich schließt, dem bleibt bei der Rückkehr die Gaststube verschlossen. Damen, eben noch erleichtert, klopfen bedrückt um Einlass. Doch auch glückliche Gäste des gastlichen Bäckers Thiele gibt es zuhauf. Sie genießen die matten Töne aus Vanille, Nuss und Traube unter Leuchten, die goldenen Austern gleichen. Sie saugen aus Strohhalmen, dick wie Rüssel. Glückliche Gäste blicken auf Fotografien mit glücklichen Gästen in sepia und sind also gemütlich und im Gemüt verbunden ans strahlende Göttingen von ehedem, als Göttingen noch siebenfach schöner strahlte in wissbegierigem Fachwerk, das heute etwas weich und morsch geworden und begrenzt ist durch Gemäuer des Funktionalgewerbes. Auch Pflanzliches spendet Leben den Gästen des gastlichen Bäckers Thiele. Blüten, jeweils rot und weiß, stecken paarweise in gehäckseltem Kork, traulich verbunden durch Wickelringe aus Tesafilm. Auch kleines Baumwerk mit Blattbestand verscheucht Verdacht auf lebloses Gewerbe. Wählerisch war der gastliche Bäcker Thiele bei der Wahl des Innenausstatters. Eben verschwand erneut eine Dame diskret im sanitären Bereich, verschaffte sich aber schwungvoll Einlass. So verschlossen wie erhofft scheint die Tür doch nicht zu sein.

An dieser Stelle betrat Frau S. die Bäckerei. Abends die Theater-Aufführung: fein gewebtes Gespinst, herzwärmend lieblich. Und ei was!: An der Garderobe stehen vor mir drei Männer gesetzteren Alters, die allesamt kleiner sind als ich. Göttingen ist nicht so hässlich wie Kiel und nicht so hübsch wie Tübingen, Göttingen, Stadt von Gauss und Lichtenberg, du warst, für einen Tag, meine Stadt.

8. Januar 2017 13:42










Hendrik Rost

Rites de Passage

Wir werfen Heringe auf die Terrasse
und hoffen, Albatrosse werden sie holen.
Bitterkalt ist es heute, wir fahren

zum Einkaufszentrum, lassen kurz
das Kind im Wagen, es will weiter Fleurs
hören. Zurück auf dem Parkplatz, da steht

eine Traube Menschen am Auto, Polizei –
sie holen einen erfrorenen Hund
aus dem Wagen neben unserem.

Das Kind wedelt mit den Armen,
imitiert die gigantischen Antarktissegler.
Sprache nutzen wir fast nur, um

über Verständigung zu spotten, Blubb,
oder Meinungen, vermischt mit Fakten,
als Grimasse aufzusetzen: Demütigung

und Verschleiß. Wir müssen Furchtbares
aushalten, austeilen, um den Alltag zu genießen.
Seit dem Ende der Sterndeuterei

wird unsere Liebe von Matrosen bedroht.
Wir sind träge, ein gemaltes Schiff
auf einem gemalten Meer. Der Wind

bläst gut und weiß schäumt die Flut.

(neue Version)

6. Januar 2017 15:29










Mirko Bonné

Reise der drei Waisen

this was all folly
T. S. Eliot

Waisen nannten sich die Drei, die mich mitnahmen.
„Hereinspaziert bei den Waisen vom Gutenmorgenland!“
Sie führten sich auf wie gerade noch davongekommen.

Die Wege waren aufgeweicht, „soft hands, das Wetter“,
meinte das Mädchen, das der Alte bloß Bunny nannte.

Sein Kollege saß vorn, im Mantel eines Katalanen,
dessen Leichnam jetzt in einer Benzinlache liege,
irgendwo in einer Kranwagenhalle. Der Stoff stank,
besonders nachts, wenn sie die Heizung aufdrehten.

Sie waren Blender, und ihnen gehörte nichts außer
dem Zeug, das sie am Körper trugen, und dem, was
sie grölten und ihnen kurz ihre Langeweile vertrieb.

„An was sich erinnern?“, fragte der Alte mal. „Alles
ist ein Film. Rückwärts läuft nichts.“ Nein, besser,
in einem kaputten Mitsubishi auf Schleichwegen
und hinein in Ortschaften fahren, wo der Trübsinn
an einem fraß wie Ruß am schmelzenden Schnee.

Bunny kreischte was, das aber niemand verstand.
Sie sprang raus und steckte vor einer Videothek
den Papp-Bond in Brand. Von dem Grünstreifen
zwischen zwei Parkbuchten flogen Spatzen auf,
als sie da tanzte, während ich fassungslos zusah.

Der Alte stieß die Fahrertür auf, sprang raus und
trat den brennenden Agenten wortlos zusammen.

Ich fing an zu brüllen wie sie, aber dozierte dabei
noch immer von „Passage zurück in die Geburt“,
schon lachte mich der ganze Klub still. Wir fuhren
durch leergefegte Nester in die Berge hinauf, feucht,
duftend nach Grün, knapp unterhalb der Schneegrenze.

Auf der Suche nach einer Tanke mischten die Drei jaulend
die Käffer auf, die den Katzen gehörten. Wir beschlossen
– oberste Regel: Sonnenbaden ist für Untote tabu! –,
tagsüber zu schlafen, in der Nähe von Wasser, und,
süß singende Stimmen im Ohr, nur nachts zu fahren.

„Ihre Haut ist so blass wie Gottes einzige Taube, Liebe,
wie eine schreiende Blume, Liebe, die stirbt jede Stunde.“

Sie sangen. Doch was sie sagten, hatte keine Bedeutung,
ihr Ziel war vielleicht eine Huldigung, möglich, aber kaum
die des göttlichen Kindes, eher die der Leere in ihnen.
War der Tank voll, „wie der Mond“, dann ging es weiter.

Kurz nach dem Festfressen der Kolben, kurz nachdem wir
den Hafen erreichten und im Schatten, den ein Frachter
durch das Nachmittagslicht auf die Mole warf, hielten,
fiel dem Alten hinterm Lenkrad plötzlich das Haus ein.

Für das Mädchen und Mantelmann war die Reise aus,
als sie Betten witterten. Das Land, endlich in Reichweite.

Ein Klepper leckte den Regen vom Zaun. Ich sah Vögel
auf kahlen Bäumen den Harsch von der Rinde hacken.

Als hätten wir die Wahl, schnitten wir uns Teller zurecht
und hörten wieder zu reden auf. Im Tausch mit den Bauern
gingen Schals weg, eine Posaune, und der Alte holte Lexika,
Tassen und Fotoalben aus dem Kofferraum, während Bunny
im Schneeanzug am Mittag am Campingtisch Pasta kochte.

Sie kam in mein Bett und sagte, sie mache alles, freiwillig,
wenn sie dafür meine Jacke bekäme. Ich gab sie ihr so,
und sie rannte runter, und ich hörte den Anlasser heulen.

Als ich wieder aufwachte, war es still. Das Licht stand
im Klappfenster. Im Garten des Nachbarhofs wuchsen
Blumen, die aussahen, als fotografierten sie das Gras.

Geborenwerden und Sterben sind manchmal dasselbe.
Ich wünschte mich nicht länger zurück. Ich lebte wieder.
Leben war mehr als Warten. Und so vergaß ich das Kind,
vergaß die drei Waisen und zuletzt das Gutenmorgenland.

6. Januar 2017 00:17










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (124)

5. Januar 2016, ein Dienstag

Nach dem Fortgeschrittenen-Training besuchte ich gestern das Training für Aikido-Anfänger, manche von ihnen mit einer grobschlächtigen Ruppigkeit, die nicht leicht aufzufangen ist. Das Arbeitsjahr der Ego-Zertrümmerung beginnt.

Traum: im Elternhaus zu Besuch ist Ex-Freundin N., die allerdings mit ihrem Ex-Freund (er ähnelt Bundeswehr-Kamerad O.) ins Obergeschoss geht. Argwöhnend begebe ich mich ins Bad und lauere hinter der Häkelgardine durch das Badfenster, und richtig, schon spaziert das Paar gemeinsam – wohl entschlüpft durch ein Balkonfenster – draußen im Garten, als führe es einen Hund aus. Während ich noch hinausstarre, erscheint N. ganz nah auf der anderen Seite des Fensters, hinter dessen Häkelgardine ich mich verborgen glaubte; sie gibt mit einer Bemerkung zu verstehen, dass sie auf mich gewartet habe; dann geht sie fort. Ich stehe hinter dem Waschbecken, halb versteckt, halb sichtbar, schreie (ins Wohnzimmer, von wo man mich rief?); beim Aufwachen zieht sich alles in meinem Kopf zum Schmerz zusammen.

Indem ich den Traum notiere, löst sich der Kopfschmerz. Der Rest der Nacht ist angenehm.

5. Januar 2017 10:45










Tobias Schoofs

RHEIN 3

beeck ruhrort hochfeld wannheimerort d’dorf
rhein rhein rhein rhein rhein rhein rhein rhein
rhein kahn rhein rhein rhein rhein rhein rhein
rhein rhein rhein rhein kahn rhein rhein rhein
rhein rhein rhein rhein rhein rhein rhein rhein
baerl homberg rheinhausen uerdingen neuss

4. Januar 2017 22:11










Christine Kappe

Hell wird es plötzlich

Hell wird es plötzlich – das ist kein allmählicher Vorgang, wie man denkt, wenn man die Naturgesetze kennt. Vielmehr ist es ein kurzer Moment, in dem man plötzlich alles erkennt, und dann ist es hell.

Vorher ist es noch blau, nur blau, tiefblau, blau ist das Ende der Dunkelheit. Die Müdigkeit endet anderswo. Leider ist sie nicht an die Nacht gekoppelt. Sie ist eine Pflanze mit starken Wurzeln. Eine schmale Straße, an derem Ende ich dich weiß.

Eine weiße Straße. Ich sehe mich über ein Gitter aus weißen Straßen stolpern. Weil alle dein Alter haben, bist du mir nah. Ich selbst bin durchsichtig, mit ein paar Flecken, meine Haut reflektiert das Licht nicht. Reste von Eitelkeit und Person. Raketen.

4. Januar 2017 13:44










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (123)

3. Januar 2016, ein Sonntag

Es ist binnen weniger Tage ruckartig kälter geworden. Der Wagen röchelt, die Fensterscheiben sind vereist.

Neujahrstag mit Frau S.: Truffauts Geraubte Küsse, Ovids Metamorphosen, Diskussionen, bei denen Frau S. ihre borstige Seite zeigt, gerade, wenn es um Gender-Fragen geht, was mich eher anödet, sie eher befeuert.

Gestern flog Frau S. in aller Frühe Richtung Stuttgart ab, um Theater zu spielen. Freies Training mit I.: diese Einheiten mit Dehnung und Massage sind – speziell mit I. – ein denkbar erotisches Aikido.

Heute, beim Sonntagstraining, erwiderte L., deren technische Fehler immer wieder erschauern lassen, meine vorsichtige Korrektur mit harschem „Pscht!“ Blasiertes Rebhuhn.

3. Januar 2017 10:37










Hendrik Rost

Silvester und so

Die toteste Zeit im Kalender,
wir hängen Meisenknödel
in den Schmetterlingsflieder.
Ein heller Stern steht anonym
südlich überm Garten.
Im Hochnebel hollern Gänse.
Pica pica schwadroniert
durch den Jahreswechsel –
ihr Schwarz weiß es schon.
Der Garten rotiert um den Knödel.
Ich halte mich am Kraut
der Goldrute fest; Sentimentalität,
Fett und Getreide vermengt.
Der Abend wetzt seine dunkle
Klinge am nicht zu leugnenden Jahr.
Es riecht nach Wolken.
Wir fliegen auf, auf zu den Meisen.

1. Januar 2017 19:07










Thorsten Krämer

*

Der Moment am Morgen nach der Feier, wenn du als erster
wieder wach bist und im Wohnzimmer stehst, auf dem Tisch
die ungespülten Gläser, Reste Alkohol, die Aschenbecher
mit den achtlos aufgehäuften Kippenpyramiden, und du
findest immer, was du suchst: die halb geleerte Schale
mit den Chips, die eine Nacht lang das Aroma dieses
Zimmers eingesogen haben: klamm wie Pappe, ein
Geschmack von Asche und Erwachsensein.

1. Januar 2017 12:06










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (122)

1. Januar 2016, ein Freitag

Unter Vermeidung jeder Geselligkeit verbrachten Frau S. und ich Abend und Nacht in meiner Wohnung. Fröhlich ins neue Jahr gevögelt. Dann vom Bett aus durch das Fenster über den Balkon ins Feuerwerk geschaut und sanft geschlummert bis 2 Uhr. Dann in der Küche gegessen.

Tags um den Weissensee spaziert und zwei Origami-Kraniche ausgesetzt, beschrieben mit folgenden drei Wünschen: (…).

1. Januar 2017 10:24