Tobias Schoofs

DAS UNSICHTBARE BILD

hier hinter ist das bild verborgen
die pigmente sagt der guide
hat man nachgewiesen aber
noch ist es nicht freigelegt

es zeigt ein wollknäuel aus pferden
auf ihrem rücken amüsiert sich
cosimos katze er lacht und geht
eine rauchen beim gespräch

enthüllt er dann: es sieht so aus
wie guernica beim luftangriff
wer will das sehen · man ahnt

und das genügt wer braucht denn
die stummen schreie der biester
das bringt sie auch nicht zurück

5. Dezember 2015 16:34










Andreas Louis Seyerlein

~

3.25 – Bahnsteig 23, Centralbahnhof, Dienstag, 28 Minuten nach 10 Uhr abends. Auf einer Bank sitzt eine Frau in dunklem Gewand, über ihrem Kopf ein Tuch von ebenso schwarzer oder dunkelgrauer Farbe, das ihr Haar lose bedeckt. Die Frau scheint von hohem Alter zu sein und müde und scheu, noch nicht einmal drei Stunden ist es her, dass sie an diesem Ort eingetroffen ist. Ich höre, der junge Mann, der an ihrer rechten Seite sitzt, sei ihr Enkel, er war es gewesen, der die alte Frau aus dem Zug getragen hatte, weil sie nicht mehr laufen konnte, so erschöpft waren ihre Füße vom wochenlangen Wandern durch halb Europa, außerdem waren zuletzt Schuhe kaum noch vorhanden. Ein Mädchen hat ihren Kopf im Schoß der Urgroßmutter geborgen und schläft. Eigentlich müssten da noch zwei Jungs sein, der ältere Bruder des kleinen Mädchens, aber der ist tot, und auch ihr jüngerer Bruder ist nicht da, weil er tot ist, und auch ihre Mutter nicht, da ihre Wohnung von einer Granate getroffen worden war, als das kleine Mädchen auf die Straße rannte ganz allein, was eigentlich verboten war im November des vergangenen Jahres in einem Dorf 16 Kilometer weit entfernt von der Stadt Homs. Auch der Urgroßvater des überlebenden Mädchens ist nicht da, weil er tot ist. Allerdings ist der Urgroßvater zur üblichen Zeit eines natürlichen Todes gestorben und in Form einer Fotografie nach Europa mitgekommen, die die alte Frau in diesem Moment in ihrer Hand hält und betrachtet. Ihr Sohn, der Vater des jungen Mannes, der seine Großmutter aus dem Zug getragen hatte, spricht gerade mit einer fröhlichen Person, die eine Weste trägt, welche leuchtet, dass es in den Augen nur so schmerzt. Er versucht der jungen deutschen Frau zu erklären, dass er vor Stunden seine Ehefrau aus den Augen verloren habe, er sagt immer wieder ihre Namen auf, damit man unverzüglich nach ihr suchen könne. Sein Sohn, der junge Mann, der neben seiner Großmutter sitzt, erzählt indessen in englischer Sprache, seine Großmutter habe das Dorf, aus dem die Familie vor Monaten geflüchtet war, in ihrem ganz Leben nicht ein einziges Mal verlassen, und jetzt sitzt sie also hier auf einer Bank in diesem Nordland, Bahnsteig 23, Centralbahnhof, versteht kein Wort, von dem was da so überall um sie herum gesprochen wird, und streicht mit ihren Händen behutsam über das Haar des schlafenden Kindes. Immer wieder schaut sie zu ihren Füßen hin, als wäre sie nicht sicher, dass diese Füße ihre eigenen Füße sind. Vorsichtig bewegt sie sie hin und her, noch keine Viertelstunde ist vergangen, da hatte sich ihr Enkel vor ihr niedergekniet, um ihr nagelneue feuerrote Turnschuhe anzuziehen von Puma. – stop

0.22 – Wäre es nicht vielleicht doch sinnvoll, anstatt unschuldige Kindermenschen der Stadt Rakka zu bombardieren, elektrische Datennetze zu attackieren, welche von Riad aus Gotteskrieger mit Entwicklungshilfe versorgen? Immer wieder das Fragen üben. Auch nach Fragen suchen. Gestern sprach ich mit einer jungen Muslima über ihre Schulzeit, viel zu kurz, sagte sie, viel zu früh zu Ende. Es ist so, dass sie, H., der festen Überzeugung ist, von Adam und Eva unmittelbar abzustammen. Da sie jedoch nicht dogmatisch lebe und denke, wäre sie bereit, zu akzeptieren, dass ich, Louis, ein Affenmensch sei oder eben ein Menschenaffe. Wir lachen ganz herzlich. It works! – In der vergangenen Nacht habe ich mein Radio gelehrt, in der beruhigenden Sprache der Nachtzikaden zu sprechen. Guten Morgen! – stop

> particles

3. Dezember 2015 21:13










Christine Kappe

Zeit. Die Zeit im Herbst. Die kurze. Sonst eigentlich lang.

…  weiß schon gar nicht mehr, was ich damit sagen wollte, aber die Schnelligkeit und die Verallgemeinerungstendenz des Internet passen einfach nicht dazu.
Und sicherlich ist es idiotisch, wenn Eskimos jetzt anfangen, vegan zu essen, bestimmt auch total ungesund für die. Aber die Idee, die Idee!

30. November 2015 13:48










Christian Lorenz Müller

VIDEO

Plötzlich pilzt er im Himmel,
rot im Grau. Giftige Sporen, knallen die Patronen
aus den Läufen der Kalaschnikows.
Du siehst ihn zappeln,
ein Myzel aus Angst im Bauch.
Das symbiotische Geschrei
der Bewaffneten, Kameragewackel, Schnitt –

Stephan Maria Karl
Vorsintflutliche Menschen …
Schreibe einen Kommentar …

Die Gleitschirmflieger an sonnigen Tagen.
Die leergekauften Waffengeschäfte.
Die Glasfaserkabel, die im Solarplexus enden.

27. November 2015 10:58










Mathias Jeschke

DIE VORSOKRATIKER von William Carpenter

Diese Gespräche werden immer komplizierter,
je weiter man sich entfernt.
So spät hast du angerufen, ich schlafe geregelt.
Ich wache auf mit diesem Klingeln im Ohr.
Du machst die Dinge viel größer, als sie sind. Übermäßig.
Es ist unmöglich, dass du „Parmenides in die Arme gelaufen“ bist.
Wie sollte er gesagt haben, dass „die Sonne täglich neu ist“?
Vielleicht haben sie so gedacht, die Vorsokratiker.
Sie waren so wunderbar naiv in jenen Tagen.
Vielleicht waren sie auch jeden Tag bis zu ihrem Tod einfach jung.
Wie ich es sehe, sehnt sich die Sonne nach dem Tod,
so wie jeder andere.
Jetzt gerade kannst du es sehen, am späten Nachmittag,
sie möchte ein roter Riese werden.
Sie möchte mit ihrer eigenen Spiegelung die Ehe schließen.
Sie möchte in ein Becken steigen, voll von ihrem eigenen Blut.
Ehrlich, ich fürchte mich vor diesen langen Abenden.
Fernsehen bringt’s grad auch nicht mehr.
Es geht auch niemand mehr raus, die Straßen sind gefährlich.
Das Kino, in dem wir „Eraserhead“ sahen, wurde abgerissen.
Wenn die Sonne jeden Tag neu ist, gilt das auch für die Nacht.
Das Telefon sitzt da, eine Hand auf dem Herzen,
sein langer, gelockter Schwanz.
Du bist zornig, weil du nie Kinder hattest.
Es ist immer dasselbe, was soll ich antworten?
Die Chinesen nehmen ein Sonnenbad an ihren gelben Flüssen.
Sogar die Sonne ist schwanger auf der anderen Seite der Welt.
Es gibt keine Autobahn, die von diesem Haus zu deinem Haus führt.
Sie befinden sich nicht mal auf derselben Karte.
Ich trage jeden Morgen eine neues Hemd oder eine neue Weste.
Ich versuche, glücklich zu wirken.
Bestand hat nur die eine Bedeutung einer Straße: Dass es sie gibt.

(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke.)

21. November 2015 21:38










Sylvia Geist

Fotobeweis

20. November 2015 11:22










Markus Stegmann

Mein Grab, dein Grab

Ich sitze auf meinem Grab, und es geht mir gut. Vielleicht bist du ja auch tot, nicht nur ich. Vielleicht sitzt du auf dem Grab neben mir, und ich kann dich nur nicht sehen. Wenn ich das Gefühl habe, auf meinem Grab zu sitzen, wäre immerhin vorstellbar, dass etwas nicht stimmt. Warum sollte ich tot sein ohne dich? Wenn es mich betrifft, warum betrifft es dann nicht dich? Warum betrifft mein Tod immer nur mich? Ich möchte es nicht immer mit mir zu tun haben. Ich würde gern gelegentlich von mir absehen und die Lage von ausserhalb betrachten. Wenn du auf deinem Grab neben mir wärst, könnte ich dir wenigstens zuwinken. Selbst wenn du ein paar Gräber weiter entfernt wärst, könnte ich winken. Aber warum winken, frag ich mich, warum nicht mein Grab verlassen und gemeinsam auf deinem Grab sitzen? Fühlte ich mich auf meinem Grab wohler, als auf deinem? Aber warum? Und wenn du auf deinem Grab gar nicht bist, wo bist du dann?

19. November 2015 22:04










Mathias Jeschke

DIE TOTEN von William Carpenter

Unverzeihlich, diese Vergesslichkeit der Toten.
Sie würden nackt herumlaufen, wenn wir sie ließen, nicht
wegen irgendeiner bestimmten Unschuld, sie hätten
einfach vergessen, wo sie aus ihren Kleidern gestiegen waren.
Sie wollen, dass wir uns erinnern.
Das ist alles, was wir für sie tun können.
Was hätten sie denn davon, wenn wir essen, Sex haben,
am Strand herumliegen?
Sie wollen, dass wir uns hinsetzen und uns erinnern.
Sie sind froh, wenn wir dasitzen und über die Vergangenheit nachdenken.
Darin sind sie enthalten.
Meist sind sie die Stars der Szenerie.
Die Nebenrollen sind verblasst, die Details.
Sie wollen, dass wir uns an die italienische Küste erinnern,
wenn man von Venedig kommt,
die Bar, in der uns das Tintenfischsoufflé serviert wurde,
die Fahrt hinauf nach Urbino im Fiat 500.
Die Toten sind nicht nur lebendig,
sie sitzen am Steuer, sie fahren und essen.
Sie haben ein kleines umbrisches Restaurant entdeckt,
das nichts anzubieten hat außer Schinken und Käse.
Zu allem anderen sind sie strenge Vegetarier.
Sie picken den dünn geschnittenen Schinken heraus
und geben in uns, den Lebenden.
Sie sehen in uns Kannibalen oder Schweine.
Sie finden ihren Weg die steile Straße hinauf
zum Hotel Raffaello.
Sie feilschen mit dem Nachtwächter.
Die Toten sind gewieft in Finanzangelegenheiten,
weil sie in die Zukunft blicken können.
Sie wollen ein Zimmer mit Blick auf den Dogenpalast.
Sie führen uns auf den Balkon hinaus.
Fünf Stockwerke unter uns, da schreit eine Katze.
Die Toten haben keine Höhenangst.
Sie können im Mondlicht schwimmen, ohne zu ertrinken
oder verloren zu gehen.
Sie wollen, dass wir uns lieben, während wir noch angekleidet sind.
Sie sagen: „Das ist ein Notfall!“
Münzen aus unseren Taschen fallen
durch das Eisengitter.
Die Toten haben diese heftigen Orgasmen
in denen sie völlig verschwinden.
Am Morgen kommen sie von dort, wo sie waren,
hungrig zurück.
Sie wollen, dass wir ihnen ein paar von diesen kleinen Brötchen bringen –
Pannini, eine Frucht,
irgendetwas, eine Banane.
Sie hamstern, sie stecken sich ein Brötchen in die Tasche.
Sie wissen nicht, woher sie demnächst etwas zu essen bekommen werden.
Sie interessieren sich für Piero della Francesca.
Seine Figuren haben sich selbst vergessen.
Man kann durch ihre Körper hindurchsehen.
Hinter ihnen befinden sich Beispiele von Bauwerken und Bäumen.
Sie interessieren sich für Darstellungen von Christus als Kind,
weil Er von Anfang an verurteilt war,
davon kannst du erzählen wegen des Zweigs einer roten Koralle
um Seinen Nacken.
Die Toten starren aus den breiten Fenstern
und vergeben Machiavelli, Hemingway und Ezra Pound.
Weil sie kein Gedächtnis haben, können sie alles vergeben,
sogar während es gerade geschieht.
Deshalb wissen wir, dass wir bei ihnen sind.
Wir können fühlen, dass sie vergessen.
Wir werden im Auto aus Urbino hinausfahren.
Es wird regnen.
Sie vergessen den Regen.
Wir halten in einem hügeligen Städtchen
namens Sansepolcro.
Sie vergessen den Namen schon,
während wir ihn auf dem kleinen Schild lesen.
Wir werden nach Pieros Auferstehung suchen.
Christus wird ein erwachsener Mann sein.
Er wird ein Banner tragen.
Sein Fuß wird auf der Ecke des Grabes stehen.
Sie werden es vergessen.
Die Soldaten waren betrunken und schieden aus.
Sie sind Römer, in ihren Träumen geht es um Frauen.
Er hat ihnen bereits vergeben.
Alles, was Er will, ist mit Seinen Freunden über Land zu gehen.
Die Toten sind ein bisschen scheu und tolpatschig im Bett.
Sie wollen, dass wir etwas tun, trauen sich aber nicht, zu fragen.
Sie können nicht schlafen, erzählen von Alpträumen.
Wenn wir sie berühren, sprechen sie davon, sich im Regen aufzulösen.
Sie glauben schon lang nicht mehr an sich selbst.
Vergiss es, sagen sie. Das ist es nicht wert.
Sie schließen ihre Augen.
Sie bestehen darauf, im Schlaf zu sprechen.

(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke)

18. November 2015 00:08










Christian Lorenz Müller

Über

Baum Beugt sich über Baum
am Abend.
Ein Blatt fällt einem Blatt entgegen.
Du schaust dir beim Betrachten zu,
blickst auf die Brücke,
die sich doppelt Schwung gibt.
Ein Angler fischt nach sich selbst.
Langsam schwindet die Schnur,
schwindet das Licht.
Schatten huschen übers Wehr.

13. November 2015 19:10










Tobias Schoofs

CHIADO

hier stehn sich dichter auf den füßen
touristinnen sitzen auf pessoas schoß

das ist der erträumte ruhm verkleidet
als glamour ein älteres ehepaar steht
vor chiado satirischer dichter liest er

fünfzehn nochwas ging vielleicht auch
genauer im schutz der dämmrung pisst
einer camões an den sockel gute wahl

wer schon so viel nation im urin hat
braucht keine ultrarechten parteien

8. November 2015 14:53