Björn Kiehne

Im Haus des Erzählers

Ein Sommerhaus wartend
mit weit geöffneten Fenstern zum Meer,
Möwen, die den Himmel teilen,
Katzen, die auf geheimen Wegen
die Insel durchstreifen,
hoch zur griechischen Kirche,
an die sich die Gräber drängen
wie uneingelöste Versprechen,
runter zum Hafen, wo die Schiffe
nach Kadıköy warten, jedes ein
Abschied, jedes eine Bitte,
uns die nicht zu nehmen,
die wir lieben.
Worte in den Wind gesprochen,
den Salzatem des Marmarameers,
den Zigarettenhauch Istanbuls,
die das Haus umflüstern,
flüstern in der Kammer unterm Dach,
flüstern in das Ohr des Erzählers,
der zum Hafen hinunter sieht,
die Kais absucht, den Blick
zurück auf die Geschichte lenkt,
die langsam vor ihm wächst,
deren Figuren er begrüßt
wie alte Freunde, um wieder
aus dem Fenster zu sehen:
wartende Schiffe,
Möwen, die den Himmel teilen,
Katzen, die die Insel durchstreifen,
zurückkehren in die Erzählung,
Zuflucht suchen in der Stille
zwischen ihren Zeilen.

Für Emre, Burgazada

5. März 2023 12:23










Christian Lorenz Müller

ER FRAGT NIE NACH SEINEM BOOT

Vor genau einem Jahr fing es an,
hörte etwas auf, er sagte nichts,
als ich ihm, das Mobilnyk noch in der Hand,
von Mutter und Zoja erzählte,
die in Charkiv im Keller saßen,
in Sicherheit, das konnte nur bedeuten,
dass draußen die Bomben fielen,
das Telefon ertaubte in meiner Hand,
als er schwieg, ins Wohnzimmer wechselte,
um den Fernseher einzuschalten,
er setzte sich auf die ausgezogene Couch,
zwischen unsere aufgewühlten Decken,
das quallig gewordene Gesicht seines Präsidenten
schwamm hinter dem Bildschirm vorbei,
giftig umklammerte der Tentakel
seiner Hand eine Tischkante,
Mutter und Zoja flohen noch am selben Tag
nach Ridnyj Kraj, auf die Datscha,
dort liegt das Boot,
das mein Mann gebaut hat, stundenlang
war er sommers draußen auf dem See,
er angelte Stille,
sie schimmerte in einem Eimer
den er abends in die Küche stellte,
Mutter freute sich immer, briet sie im August
zusammen mit Birkenpilzen,
vor genau einem Jahr fing es an,
hörte etwas auf, seit einem Jahr
hat mein Mann sich selbst am Haken,
ködert sein Schweigen aus den Tiefen
des Fernsehers, fragt nie nach Zoja,
nach Mutter, nach seinem Boot
und seinem See in Ridnyj Kraj.

24. Februar 2023 08:30










Mirko Bonné

Nizza

Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium
Kaum dass ein Baum dort in der blauen Dünung treibt
Kein Kletterer im Berg kennt den Berg, aber du
Wie eine alte Seemöwe nachts bei Mistral

Kaum dass ein Baum dort in der blauen Dünung treibt
Klirren die Sternbilder, bis du dich in Bewegung setzt
Wie eine alte Seemöwe nachts bei Mistral
Nur ein Häufchen Kiesel und Zigarettenkippen

Klirren die Sternbilder, bis du dich in Bewegung setzt
Dann schreckt manchmal sogar ein Schatten zurück
Nur ein Häufchen Kiesel und Zigarettenkippen
Freude zu finden bleibt trotzdem der Sinn einer Passeggiata

Dann schreckt manchmal sogar ein Schatten zurück
Und sei er aus den verschwundenen Wäldern des Libanon
Freude zu finden bleibt trotzdem der Sinn einer Passeggiata
Bis die Wellenbrecher alles achtlos zertrümmern

Und sei er aus den verschwundenen Wäldern des Libanon
Kein Kletterer im Berg kennt den Berg, aber du
Bis die Wellenbrecher alles achtlos zertrümmern
Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium

*

17. Februar 2023 22:58










Tihomir Popovic

weisheit, palma

vielfarbig die morgenluft
in deinem lied
meer und almudaina
in deinem schatten

auf den balkonen
flattern streifen
filme über den wind
und unsere schritte

gehüllt in wolken
und schnurrbartgrau
der basaltpatio
nimmt uns auf

und das tor schließt nicht
und von der straße
immer weiser
dein lied

11. Februar 2023 22:54










Christian Lorenz Müller

INSELPOST

Unseren Postkasten haben wir abmontiert,
denn der Wind ist hier sehr stark, er verwandelte
alle eingeworfenen Briefe in Möwen,
sie flatterten aus dem Schlitz
und schrien in vier oder fünf Sprachen
frech um unser Haus,
wenn wir nicht aufpassten,
stürzten sie sich durchs offene Fenster,
scheuchten die graue Zeitung
zu einem jungen Albatros, und das Blatt
mit einem angefangenen Gedicht
wurde zu einer Sturmseeschwalbe,
die hinaus auf den Atlantik flog,
selbst die dicksten Bücher
schlugen mit ihren Seiten,
sie flatterten aufgeregt von ihren Stellagen
wie unsere Hühner von der Stange,
wenn nachts der Fuchs kommt,
wir haben unseren Postkasten abmontiert
und stellen stattdessen das Auto
in Finnphort an den Rand der Straße,
wir öffnen das Seitenfenster einen Schlitz weit,
der Briefträger kennt unsere Adresse,
algengrüner Vauxhall Astra Mk.3
mit einer Windschutzscheibe in Taucherbrillenform,
wir setzen uns auf die eingeworfenen Briefe,
auf weiche Daunen, sie polstern uns
den Weg nach Knockvologan.

Miek Zwamborn und Rutger Emmelkamp zugedacht

7. Februar 2023 10:00










Mirko Bonné

Ein Glas Tränen

Trink das Glas, trink es und
Sommerwolken spiegeln sich.
Das Wasser fließt, ein Fließen

geht durch alle deine Jahre.
Grün der See, grün Seele.
Also fürchte dich nicht mehr,

die Sommerwolken spiegeln sich
auf Fluss und See. Im grünen Licht
trink aus dein Glas, trink es ganz leer.

*

21. Januar 2023 16:39










Christian Lorenz Müller

ODE AN EINEN URAL
(Pavel Ivanowytsch, Hochspannungselektriker,
gibt einer Journalistin ein Interview)

Ich mache das schon seit 31 Jahren,
nie hat sich jemand dafür interessiert,
und jetzt kommen Sie
und wollen einen Helden der Arbeit sehen,
tschjort, der wahre Held, das ist mein URAL,
der das Licht der Fabrikhalle erblickte
als Breschnew Chruschtschow stürzte,
beide wurden in der Ukraine groß, wussten Sie das?,
und mein Lastwagen ist kein Russe,
sondern ein echter Sowjet, aus Miass im Ural,
er kann nichts für das Z, das die Hebebühne
in die Landschaft schreibt, wenn wir
unter einer Leitung stehenbleiben, der URAL
brüllt dir bei 50 Sachen die Ohren taub,
aber er braucht keine Straße,
er kommt überall hin, so wie neulich,
als einer von diesen idiotischen Rasenmähern
iranischer Bauart einen Masten rasierte,
ich steuerte eisbrecherhaft über den Acker,
brach durch die gefrorenen Wellen schwarzer Erde,
vorbei am versackenden Wrack eines Panzers,
20.000 Dollar kostet so eine Drohne,
und dann macht sie nicht mehr kaputt
als ein paar Isolatoren, ein paar Streben,
nu, der Mast war ziemlich krumm,
aber was soll’s, er stand,
und wir malten unser Z in den Himmel
und hängten die beiden Kabel,
die am Boden lagen, wieder auf,
Bindebögen nach Charkiv, und als der Strom
endlich summte, setzten wir uns in den URAL,
er kann ja nichts dafür, dass sie ihm anderswo
Raketenwerfer auf den Rücken schrauben,
mein Sohn hat mir Fotos davon geschickt,
er wurde an dem Tag geboren,
an dem Jelzin in Moskau auf den Panzer stieg,
jetzt ist er in Bachmut, Artillerie, Kaliber
alles klar
, schreibt er, Zugmaschine ausgefallen,
wir schleppen das Geschütz mit einem Traktor
,
31 Jahre, hören Sie, seit 31 Jahren
mühen wir uns nur für meinen Sohn,
mein URAL und ich.

19. Januar 2023 10:52










Björn Kiehne

Ein gutes Land

Zieh den Nebelmantel an
und lass uns über die Heimat
sprechen, das gute Land in dir.

Dein Haar, ein Wald im Gebirge,
die Vögel warten in den
Zweigen auf das erste Licht,

das die Nebelschwaden
leuchten lässt und den
Wind befreit aus den Tälern.

Über Schläfen, Wangen,
Nasenrücken treibt er
sie, eine Herde Wasserwesen,

auf Pfaden alter Erzählungen
über Mund, Kinn durch
das Urstromtal zum Nabel,

zurück zum Anfang der Welt,
an dem der Wind abnimmt und
die Stille beginnt zu singen.

Es gibt einen sicheren Ort,
grenzenlos, friedlich und frei,
und, wenn sie in den Krieg ziehen,

zieh du den Nebelmantel an
und sprich über die Heimat,
das gute Land in dir.

15. Januar 2023 09:53










Tihomir Popovic

die baasler

ihr rhein
voller goldvische
duftet nach kirchenschatten
im frühherbst
ihr fährmann
im kupferharnisch
streitet mit bräsigen
bogenbrücken
ihr münster
müderot lehrfreudig
überragt die silberzikkurats
am anderen ufer
steine entzwei
bricht ihr lachen

15. Januar 2023 08:53










Christian Lorenz Müller

GEBORGEN HINTER FICHTEN FUHREN WIR NACH LVIV

Lviv – Slavske, etwas über zwei Stunden,
was war ich froh, aus der Stadt hinaus-
zukommen, es klackklack-, klackklack-,
klacklackte der Zug durch die Ebene,
eine unversehrte Hochspannungsleitung
schwang ihre Kabel über das winterbraune Land,
das Gediesel der Generatoren blieb hinter mir,
die Abgasschwaden verrauchten,
und ich freute mich auf die Stelle
bei Stryi, an der die Kinder sich immer
ans Fenster gedrängt hatten, immer liegt Schnee
auf den Gipfeln meiner Erinnerung,
immer war es Anja, die die Säge trug,
jedes Jahr erzählte ich den Kindern,
vom 5.1.92, immer wollten sie wissen,
wie groß der Baum gewesen sei,
viel zu groß, sagte ich, viel zu groß
für die zarte junge Frau,
der ich durch den Wald gefolgt war,
sie war leicht, sie lief über einen  Deckel
aus gläsern gefrorenem Schnee,
der mein Gewicht nicht hielt,
ständig brach ich ein, es harschte splittrig
gegen meine Knie, und meine Stiefel
waren Kellen, die Eiseskälte schöpften,
oberhalb des Gürtels schwitzte ich,
als sie endlich stehen blieb, vor diesem
viel zu großen Baum, eine Eisensäge
aus dem Rucksack holte und sich niederkniete,
ich merkte wohl, wie sie sich mühte,
wie das viel zu feine Blatt durch das Splint-
holz schmierte, ich bot Hilfe an,
sie lehnte ab, sie hatte Zacken, Kanten,
die der Säge fehlten, zweimal ging das so,
dann nahm sie an, sie ließ es sogar zu,
dass ich den großen Baum zur Haltestelle zog,
sie trug meinen kleinen, entlang der Gleise
war ein junger Wald gewachsen,
in dem die Passagiere standen,
und als die Elektrytschka anhielt,
wanderte der Wald hinein,
geborgen hinter Fichten fuhren wir nach Lviv,
Anja und ich, und es war warm
im duftenden Waggon, und als es dunkel wurde
fiel vor dem Fenster daunig-leichter Schnee.

 

4. Januar 2023 10:03