Björn Kiehne

Kurfürstenstraße

Ich zeige dir die Nacht,
lass dich teilhaben
am Hunger der Stadt;

für dich die Rose,
die Schrift aus Schnee,
in der ich deinen
Namen auf den Asphalt schreibe;

du läufst auf und ab,
ziehst im Gehen seine Linien nach,
versuchst dich zu erinnern:
das Dorf, der Garten, das Lachen;

die hungrigen Autos warten,
stehen Schlange für dich,

das Mädchen, die Straße, die Welt,
die Welt mit der Wunde
zwischen den Beinen;

später dann leuchtest du
die Nacht aus mit Blicken,
die dir nicht mehr gehören;

wachst am Morgen zwischen
Müllsäcken auf,
wo es nach Erbrochenem riecht
und vergossenem Wein;

Gedanken lösen sich aus deiner Stirn,
legen einander die Hände
auf die Schultern,
reihen sich zu einer Polonaise
hinunter zum Kanal,

dorthin,

wo ein Schiff auf dich wartet,
ein Schiff, das dich fortbringt,
fort aus dieser hungrigen Stadt.

11. Juni 2014 13:07










Mathias Jeschke

Freibad

Stille lockt im glucksenden Leuchten.
Über dem Becken ragt der Turm.
Ich springe und lass mich verschlucken.

Seht, in der Sonne der brennende Dorn!
Hinunter, um mich in Blau zu kleiden.
Stille lockt im glucksenden Leuchten.

Zu Spott nicht zu werden, zu knicksen,
nicht schwer mich verstiegen zu haben:
Ich springe und lass mich verschlucken.

Was mich erwartet im Feuchten?
Kann ich mich hinter mir lassen?
Stille lockt im glucksenden Leuchten.

Furcht in den Sprung hineingenommen,
mit dem Scheitern gemeinsam gestürzt.
Ich springe und lass mich verschlucken.

Ein Taucher, beherzt. Zu den Korallen!
Hinunter, um lustig hinaufzugischten.
Stille lockt im glucksenden Leuchten.
Ich springe und lass mich verschlucken.

10. Juni 2014 21:41










Mathias Jeschke

Tankstelle

Halle aus Licht am Rand des Geländes,
mein fahriger Blick streift Ungefähres.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

In der Rechten flexibel den Schlauch,
in der Linken den dinglichen Stutzen.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.

Der scharfe Geruch ein sinkender See,
an der Säule salutieren die Zahlen.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

Es klirren die Sporen an meinen Stiefeln,
im Radio die Beichte einer Gitarre.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.

Was hinter mir liegt, schafft eine Leere,
die will ich befüllen mit all meiner Kraft.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

Es liegt ein duftendes Sehnen im Abend,
dies sei der Moment, in dem es geschieht.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.
Ich führe den Stutzen behutsam ein. 

9. Juni 2014 23:08










Hendrik Rost

Zeitgeist

„Da trat Petrus auf, zusammen mit den Elf! Diese Männer sind nicht betrunken, wie ihr meint:
Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. “
Buch der Taten

An einer umtosten Kreuzung
wartet einer mit seinem Rollator
im Trikot der Männer

der Spielerfrauen schwer atmend
in der Pfingsthitze. Das Gefährt
geschmückt mit Fahnen

in Farben, die wir lieben
zu verachten, dann springt
die Ampel um. Die Grünphase

dauert Sekunden. Auf alles,
was heilig ist! Siege und Lebenslagen
stecken tief in den Knochen.

9. Juni 2014 15:42










Markus Stegmann

weniger als

weniger als
war
wieviele
waren weniger
dran
oder
drin waren
wieviele als
wenig weniger
wurde im
weniger
waren
wären sie
fast nicht
mehr
wieviel von
wenig wäre
weniger als
nichts

für rebecca f.

7. Juni 2014 20:59










Hans Thill

… von den Wäldern …

Von den alten Wäldern haben wir noch
die Finger, zwanzig an jedem Gerät,
um zu wählen und drei in einem nächtlichen Organ

Die Schrift verstummt im Imperfekt,
im Schlaf reißen wir uns die Beine aus.
Während der Baum das Licht liebt und wir noch
Sätze aus Salz reden, sieht er schon die
lange Kolonne der Tanks

und der ganze geschmeichelte
Wald öffnet sich einer Armee. Die Soldaten
haben Flecken am Gebein, Grün an den Helmen.
Sie tragen Namen auf der Brust, Blüten im Mund von einem
geschlagenen Baum

5. Juni 2014 22:22










Mirko Bonné

Elizabeth Street

Es ist schwer, wenn die Abschiede beginnen,
denn alles sagt es, Verschwindenmüssen,
Wiederkehr möglich, doch nie mehr so.
Darum dräng ihn zurück, den nächtlichen
Himmel, in den du hineinfliegen wirst. Geh,
zwischen herbstlichen Wohntürmen, und
in Gedanken nimm die Tram zur Bucht.
Red dir ruhig ein, dass es gut war, besser,
du sagst dir, es ist gut. Behalt keinen Kiesel.
Du vergisst bloß, wo er mal lag, auf dem Dach
eines dunklen Hotels, die Nacht, wie sie roch,
und im Regen die Ufer der Elizabeth Street.
Es wird Zeit. Bye bye pride! Es ist gut.
Nimm sie mit – jetzt ist es soweit –,
das große Licht, die Freundlichkeit.

*

5. Juni 2014 10:40










Andreas Louis Seyerlein

~

2.21 – Ich erinnere mich an ein Gespräch vor fünf Jahren mit Din. Ihre leise singende Stimme. Sie sei, als die Panzer kamen, in eine Seitenstrasse geflüchtet. Wie sie ihre Augen schloss, wie sie sagte, sie habe keine Menschen mehr gesehen nach kurzer Zeit, einige Freunde nur, die sich an Häuserwände drückten. Die Hand ihrer großen Schwester. Die Druckluft, die auf ihrem kleinen Körper bebte. Aber Menschenstille. Wie sie nach Wörtern suchte, nach Wörtern in deutscher Sprache, die geeignet gewesen wären, zu beschreiben, was sie in dem Moment, da ich auf die Fortsetzung ihrer Erzählung wartete, hörte in ihrem Kopf. Das feine, seltsame Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie am Ausdruck meiner Augen bemerkt, dass ich wahrgenommen haben könnte, dass die Bilder, die ich wusste, tatsächlich geschehen waren, das Massaker auf dem großen Platz, stolpernde Menschen, Menschen auf Bahren, zermalmte Fahrräder, der Mann mit Einkaufstüten in seinen Händen auf der Paradestraße vor einem Panzer stehend. Dann die Flucht ins häusliche Leben zurück wie in ein Versteck, das stumme Verschwinden junger Leben für immer. – Du solltest mit Stäbchen essen, sagte Din, das machst Du so, schau! – stop

0.05 – Kurz nach Mitternacht: Leichter Regen. Aber nicht wirklich Regen, sondern Regen, weil ich in mein Notizbuch notierte: 18. April – Regengeräuschwörter sammeln. Also spaziere ich durch die Wohnung und versuche, mangels wirklichen Regens, Regen vorzustellen. Das ist eine sehr angenehme Übung: Regen in den Wäldern, Regen im Gebirge, Regen in der Stadt. Oder Nachtregen, Herbstregen, Regen, der auf ein Fährschiff fällt. Gestern Abend habe ich Regengeräusche gehört, die durch ein Telefon übertragen wurden. Als ich noch Kind war, verließ ich gern das Haus ohne Schirm, wenn es regnete. Kaum war ich auf der Straße, kamen Schnecken unter den Bäumen hervor. Der Regen machte sie schnell und mutig. Sie kannten den kleinen Schneckenjäger noch nicht, der sie sammelte, der sie in Gläser steckte. Wenn ich sie betrachtete, hatte ich den Eindruck, ihr schimmernder Körper würde sich mit Regen gefüllt haben. Seither ist die Farbe des Regens von der Farbe der Schneckenfüße. – stop

> particles

5. Juni 2014 01:38










Mathias Jeschke

Liederhalle Stuttgart

Die Matthäuspassion ist ein Raumschiff,
das über der Erde schwebt.
Zerrüttung und dann Glück heißen die Tage,
an denen es dir spürbar nahe kommt,
Einfriedung die, an denen du einsteigen kannst
in diese Tränengondel aus einer anderen Welt.

Das Kreuz – omg! – ist das heilige Steuerrad
und Masaaki Suzuki lenkt das immense Schiff,
verlässlich und ruhig, ein Commander,
Tai Chi-geschult, tänzerisch wie ein Jedi beinahe,
in einer Spannung aus Gelassenheit und Präzision
durch dein grämlich ungeordnetes,
dein ach so elend ungeerdetes Leben.

Die Stimmen der Solisten – der Evangelist, kraftvoll
und erhebend spielerisch, wenn du
jemanden je gerne erzählen hörtest, dann ihn.
Jesus ein cooler Käpt’n Nemo, das Evangelium
ist seine Nautilus, unterwegs in unsrer Unterwasserwelt.

Die Sopranistin, in die Passion fühlt sie sich ein,
stellvertretend für uns alle.
Blicke ihr ins Angesicht und siehe die Schmerzen
auf ihrer Stirn, in ihrer Brust ein Schwert,
ihre Rechte formt die Worte der Schrift.
Wärst Du ein Setzer, du bräuchtest ihr nur zu folgen.

Dies die Tage der Empfindsamkeit und des Mitgefühls.
Meister Suzuki hebt auf die Gravitation.
Er bringt unser ewiges Leiden in Schwingung.
Wir gehen nach Hause, erfüllt
von der schlichten, Leben schaffenden Erkenntnis
Johann Sebastian Bachs, Musik in unsren Ohren:
Nicht an sein Vergeben reicht dein Vergehen.

3. Juni 2014 18:45










Hendrik Rost

Liebe Sprotten,

im Jahre 2002 gehörte ich zu den glücklichen Finalisten des Lyrikpreises Meran. Das allein war schon eine wunderbare Sache. Darüber hinaus habe ich dort aber auch einige Kolleginnen und Kollegen getroffen, deren Werk ich seitdem verfolge und schätze. Das ist zum einen Sylvia Geist, die damals ausgezeichnet worden ist, und die jüngst ihren großartigen Gedichtband „Gordisches Paradies“ veröffentlicht hat (bei Hanser Berlin).

Zum anderen ist es Mathias Jeschke, der ebenfalls dort gelesen hat und mir als ein ausgesprochen freundlicher und interessierter Mensch in Erinnerung geblieben ist. Wiedergesehen habe ich ihn erst über zehn Jahre später bei einer gemeinsamen Lesung im Kieler Literaturhaus. Gedichte, die er dort an den tief verschneiten Fördehängen gelesen hat, stammen aus seinem neuen Buch: „Der Fisch ist mein Messer“. Erschienen in der edition AZUR, Dresden 2014.

Mathias Jeschke tritt nun auch auf Einladung von Andreas Drescher in unseren Schwarm ein. Herzlich willkommen. Er wird ihn sicher mit seinen Texten von weltältesten Booten und anderen maritimen Ideen etwa über die See bereichern: „… und ich kann nicht anders als denken,

daß es keinen Ort auf der Welt gibt, der so sehr
ein Ort ist, den es überall auf der Welt gibt.

3. Juni 2014 15:18