Hans Thill

Der Goldene Fisch soll künftig heissen

»Hier sieht Arno Schmidt ein bisschen aus wie Heinz Rühmann«

18. Januar 2014 12:17










Christine Kappe

Leipzig 1

Wir stiegen auf den Müllberg
weil er der höchste war
und man auf ihm von Kindheit sprechen konnte

*

Die Luft roch nur hier wirklich nach Winter
nach Sylvestern
nach permanenten, heimlich gefeierten Sylvestern
dabei wurde lediglich in den Kaminen gefeiert
Sektkorken knallten dort, Bowle zischelte
Gelächter und übermütige Stimmen
der Rauch über den Dächern
der in der klaren Luft
zu etwas Zynischem erstarrte, schwarz

Die Fenster waren alle dunkel

nur nicht die, hinter denen gerade renoviert wurde

hie und da die obere Hälfte einer Trittleiter… oder eines Weihnachtsbaumes? – einerlei
von der Decke hingen in der Regel 60 Watt
zur Ausleuchtung der Augenhöhlen

15. Januar 2014 12:50










Markus Stegmann

Dachs drappierte Dackel

Dachs gewohnte
Degenlose wohnen
links am was ich dachte
in der Nacht warum Dachse in
verschonter Glut am Baum
dachte warum nicht
drei gelockerte Fragmente
Wolf womöglich lebende
Schwache die Bleibe
Wölfen geschuldet Datteln
im gewärmten Gaumen
glaub ich gabs Tabletten
gegen Dachse und deren
degenferne Zeit die immerfort
luchslose Passagen sog
zäh glänzte glasige Sicht
im Mai mit paar schwach
drappierten Dackeln

13. Januar 2014 21:53










Christine Kappe

Stöcken 2

Die Häuser trotzen dem Schnellweg mit kleinen Balkonen, auf denen sich alles, was schmückt, häuft, ohne zu schmücken. Das rührt mich. Der Wille, zu leben, kann sich nicht deutlicher ausdrücken.

Wir gehen weiter. Ich weiß nicht, ob es einen anderen Stadtteil mit so vielen Fahrrädern gibt. Sie sind natürlich schrott und stehen zwischen ausrangierten Kleintierkäfigen und Fenstern, durch die man in die Keller der Fabriken sehen kann. Nur dort ist es hell, warm und neu, aber auch die letzten machen jetzt Feierabend.

9. Januar 2014 10:15










Hans Thill

Einübung in 14

Die 14 ist eine alte Schlange,
ein rollendes Orakel
Die 13 mit abstehenden Ohren,
dicken Backen, eine Melone.
Die 14 wechselt die Richtung eines
runden Kopfes
Die Tiere haben den Müll aus
Tonnen gegessen wie
Hafer und Fleisch
Sie zählen das Geld, trinken
Wasser dazu.
Dreizehn, das falsche Wort für eine
zumindest ungenaue Zahl
Die 14, ein lächelndes Stück
Strecke

14, MODE D´EMPLOI

Le 14, un vieu serpent
oracle roulant
Le 13, avec des oreilles décollés,
joues enflées, un melon
Le 14 change la direction d´une
tête ronde
En ville les animaux
ont mangé les ordures
comme de l´avoine et
de la viande
Plus d´un verre d´eau,
ils comptent l´argent
Treize, bon mot pour
un chiffre inexact
après tout
Le 14, souriante partie
du trajet

DO THE 14

The 14 is an old snake,
rolling oracle
The 13´s ears stick out, her
chubby face, a melon
The 14 changes the direction of a
round head
The animals have eaten the trash
out of a bag like
oats and meat
Drinking water they
count the money
Thirteen, wrong word for
a reasonably vague number
The 14, a smiling
open line

6. Januar 2014 16:09










Hendrik Rost

Nutzlose Erinnerungen an eine nutzlose Kindheit

50 Pfennige versprach die Großmutter auf Besuch, wenn ich es schaffte, eine halbe Stunde Mittagsruhe zu halten. Ich lag auf dem Bett und verfolgte den gelähmten Zeiger des Weckers. 50 Pfennig für ein Leben, das sich seitdem in zwei Teilen misst, der Zeit vor der Zeit, in der es nur Unruhe gab und Bewegung und auch Müdigkeit ohne Maß, und die Zeit, die sich auf Dauer nicht lohnt.

Aus Wut darüber, das Zimmer aufräumen zu müssen, kam mir die Idee, die Fische aus dem Aquarium zu saugen. Erst als der Staubsauger hinten Schaum ausspuckte und stotterte und dann aussetzte, kam mir der Gedanke, dass ich keinen der Fische erwischte, bevor mir eine glaubwürdige Erklärung für den Zustand des Saugers einfiele. Überrascht sah ich in den Augen meines Vaters bei der erwarteten Bestrafung Erleichterung darüber, dass weder mir noch den Fischen etwas passiert war, und eine Art heimlicher Verbrüderung unter Tunichtguten.

Als jüngster einer Reihe von Brüdern war meine einzige Reaktion auf meine Mutter, immerzu „Hunger!“ zu brüllen, wenn ich sie sah. Immer wieder „Hunger!“, um etwas abzubekommen und ihrer Aufmerksamkeit keine Gelegenheit zu geben, sich abzuwenden. Hunger als Oberbegriff aller Bedürfnisse, die ich gar nicht kannte. Hunger noch, als ich mich als Jugendlicher längst auf Astralmaße abgeschmolzen hatte, der nicht gestillt wird. Nicht von euch. So nicht. Vielleicht im zigtausendsten Gedicht.

27. Dezember 2013 09:40










Mirko Bonné

Zum Tod von Helga M. Novak

Ich möchte nochmal durchatmen

Ich möchte nochmal durchatmen
und mit großen Schritten
offenen Auges und lächelnd
durch ein Land gehen
wo keiner ein blutiges Handwerk treibt
wo keine Schuldfrage steht
und wer hat angefangen
ich möchte nochmal alles vergessen
und mich selber
und durch ein Land gehen
das mich entwirrt und bewirtet
und meinen Kopf und meine Hände befreit
wo alle Verborgenheit sich in Rauch auflöst
wem nützt es denn wenn ich bleibe

*

Heute ist Helga M. Novak gestorben.

24. Dezember 2013 16:36










Hans Thill

Der Goldene Fisch

Baden verboten

soll heute heissen: »Landschaft mit Schwimmer«

21. Dezember 2013 00:38










Andreas H. Drescher

SONDERMARKEN

Das Reißen unter meinem linken Schulterblatt war ein sehr frommes Reißen. Bis heute Morgen. Denn von heute Morgen an arbeitet sich das Nicht-mehr-ganz-so-Fromme auf einer Welle aus mittel-hohem Adrenalin durch mich hindurch.

Genau in Richtung dieses frühen Abends, als ich ihren Koffer die elf Stufen zur Post hinauf schleppte. Den Stoff-Koffer, den die alte Dame mit den aufgelösten Haaren auf ein Metallgestell mit zu kleinen Rädern geschnallt hatte.

Oben angekommen, bedankte sie sich nicht, nestelte nur fahrig am leicht verrutschten Expander herum und drehte mir dabei so konsequent den Rücken zu, als wolle sie verhindern, dass ich ihr noch einmal meine Hilfe anbot.

Ich kümmerte mich nicht darum, ich machte mir schon Sorgen um meine Schulter, in der gerade auf der neunten der elf Stufen ein merkwürdig metallisches Springen zu verzeichnen gewesen war.

Schon beim Anheben hatte ich mich verschätzt. Der Koffer war weit schwerer gewesen, als ich erwartet hatte.

Erst nachts begann das Reißen, weckte mich und war selbst auch von drei Aspirin nicht mehr zum Einschlafen zu bringen.

Ich hatte nur diesen einen Trost: eben den, dass es ein frommes Reißen war, eines direkt aus der Menschenfreundlichkeit.

Natürlich war ich ein wenig irritiert, als sie mir noch häufiger mit ihrem Koffer in der Stadt begegnete, aber ich ließ mich davon nicht anfechten.

Bis heute Morgen. Denn heute Morgen war ich gleich nach dem Termin beim Chiropraktiker noch auf der Post, um Sondermarken zu kaufen.

Da zerrte die Alte mit den wirren Haaren ihren Koffer diesmal ganz ohne Hilfe die elf Stufen herauf, und die Postlerin flüsterte:

„Sie nimmt ihre Bücher mit, wenn sie aus dem Haus geht. Aus Angst, die werden ihr gestohlen!“

18. Dezember 2013 10:23










Markus Stegmann

Mars ohne Meer

Regenpunkte weiter westwärts
durchtrennen Rillenklingen die
Wolldecken der Erinnerung
als ich vergass und
es wieder regnete
schrauben wir uns westwärts
einer Bleistiftlinie längs als
wären wir Fäden kreiste
messerloser Mars ohne Meer

13. Dezember 2013 23:31