Mirko Bonné

Schneeinvestment

Der verharschte Schnee und
die Spuren darin. Was oder
wer lief da, wohin, woher.
Alles Weite soll sich zeigen,
das ist die Schneeinvestition.
Alles wird Flocke, das Treiben
nimmt kein Ende, der Schnee ist
das beschlossene Aus alles Engen.
Was werden die Kinder behaupten
von dir, falls sie sich überhaupt
deiner erinnern. Du da, der du
früher vielleicht einmal warst,
bist du im Schneegestöber wieder.
Deine Hellseherkräfte haben reichlich
Rost an den Kufen, aber wer weiß schon,
wer hat von Weisheit einen Schimmer. Einer
der Jungs auf den Schlitten bleibst du für immer.

*

4. November 2022 13:45










Christian Lorenz Müller

WLADIMIR WLADIMIROWITSCH ERZÄHLT
SEINEM AUSSENMINISTER EINEN TRAUM

Die Särge waren offen, Sergei, Gondeln,
fuhren sie die Moskwa hinunter,
hunderte von Müttern standen in den Hecks,
sie ruderten und zeigten ihren toten Söhnen
unsere Hauptstadt, sie deuteten
auf die tausend Fenster des Ministeriums
für Verteidigung, auf tausend Spiegel,
in denen sich die Sonne untergehen sah,
sie streckten ihre Finger
gegen die Christ-Erlöser-Kathedrale,
gegen die Kuppel, einen vergoldeten Stahlhelm
im beginnenden Abendrot, ja, Sergei,
ich erkannte mit Schrecken, dass die Sonne
im Osten sank, ich stand im Rüstkammerturm
des Kremls und blickte auf den Fluss hinunter,
als sie kamen, tausende von Särgen,
die sich unter den Brücken zu verkeilen begannen,
Schollen aus Zink, die die Moskwa
binnen Minuten mit Eis überzogen,
Kälte fuhr mir in den Körper,
als die blassen Gesichter der Mütter
sich verwirbelten, als Schneesturm
in das offene Fenster der Rüstkammer fuhren
während es dunkel wurde über der Stadt.

27. Oktober 2022 16:18










Thorsten Krämer

Meine erste Büchnerpreisrede

war voller Fehler. So behauptete ich, dass Helmut Heißenbüttel im Krieg seinen rechten Arm verloren hätte, dabei war es der linke. Ich zitierte den Satz: „Verwechseln Sie, was ich zu sagen versuchen werde, nicht mit Eindrücken‟ und schrieb ihn Marie Luise Kaschnitz zu; dabei ist er natürlich, wie alle Welt weiß, von Ingeborg Bachmann. Der Spott blieb nicht aus: „Dichter verwechselt rechts und links‟, titelte die BILD-Zeitung; bei den RTL-News wurden vor dem Wetter spaßige reaction videos einiger besonders gehässiger Kolleg*innen gezeigt. Ich reiste nach Hagen und ließ nichts mehr von mir hören. In einer neu möblierten Zwei-Zimmerwohnung am sterbenden Stadtrand saß ich nachts wach und lauschte dem fernen Gedröhn der Autobahn. Tagsüber tobte eine Horde Kinder durchs Haus, es waren gerade Sommerferien. Ich fühlte mich erstaunlich gut. Schließlich griff ich zum Handy und rief B. an. Den Inhalt unseres Gesprächs kann ich hier nicht wiedergeben; jedenfalls war eine Folge dieser denkwürdigen drei Stunden, dass ich am nächsten Tag meine Sachen packte und zurück nach Wuppertal fuhr. Zu meiner Erleichterung war der Skandal längst Schnee von gestern, die nächste Sau wurde bereits durchs Dorf getrieben (die Dichterin M. hatte aus Versehen ein Sonett mit 15 Versen veröffentlicht). Ich setzte Kaffee auf und duschte lange. Dann zog ich ein frisches Blatt in die Schreibmaschine ein und begann zu tippen.

26. Oktober 2022 10:35










Andreas H. Drescher

DIE STIMMEN DER BIENENSCHONERIN

Die Stimmen der Bienenschonerin im Rauch
des Rasenmähers angehört die Großmutter
stimme der Sechsjährigen mittendrin die sich
verliert in den Präliminarien ihrer ersten Fahr
radtour sie muss nur noch den Namen dieser
winzig blauen Blüten vergessen das sollte doch
nicht zu schwer sein „Na, setz dich mal drauf,
dann wird es schon gehen!“ ruft eine Männer
stimme Der Rest nicht mehr zu hören im Auf
orgeln der Mäander Dann endlich der Bagger

25. Oktober 2022 08:01










Tihomir Popovic

der kugelblitz
aus glitzerndem kaschmir
verließ mein sonnengeflecht
er reiste ab im morgengrauen
wie ein verlegener gast

die windhunde
verfolgten ihn
durch den aprilschnee
verloren ihn
drüben am ufer
er wandte sich um
und er blitzte

sein siegel blieb
auf den wellen
sein leuchten lag
auf den stadtmauern
noch tagelang

20. Oktober 2022 18:30










Christian Lorenz Müller

GÖNNEN SIE SICH GELEGENTLICH
EIN PAAR ÜBERRASCHENDE FORMULIERUNGEN!

Dieses Gedicht glaubt schon lange nicht mehr
an sich selbst, aber erst vor ein paar Wochen
gestand es sich das wirklich ein
und begab sich zum Psychologen.
Er vermochte nichts Auffälliges festzustellen
bis auf eine milde Form von Narzissmus,
aber das, sagte er, sei nicht weiter schlimm,
da gehe das Gedicht mit allen anderen Arten
zeitgenössischer Kunst konform,
er habe schon ganze Opern behandelt,
Theaterstücke, einmal sogar ein Gemälde
von der Größe eines halben Fußballfelds:
Überall die gleiche Ichbezogenheit, das sei
inzwischen Standard, also brauche er
keine Diagnose zu stellen,
im Gegenteil, er gratuliere dem Gedicht
zu seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein
dann riet er ihm, sich gelegentlich
ein paar überraschende Formulierungen zu gönnen,
auf Wiedersehen, er schüttelte dem Gedicht die Hand
und brachte es zur Tür.

Draußen blies ein Herbstwind,
den einer der längst verblichenen Vorfahren
des Gedichts erfunden hatte,
rotes Buchenlaub raschelte über die Straße,
und ratlos machte sich das Gedicht auf den Weg,
es musste also gar nicht an sich glauben,
es konnte sich guten Gewissens im Spiegel betrachten,
in der Anthologie, in der es bald abgedruckt,
in dem Online-Blog, in dem es sich
schon morgen selbst veröffentlichen würde,
voll verzweifelter Fröhlichkeit schleppte es sich
über eine Brücke und dachte einen Augenblick daran
sich ins Wasser zu stürzen, ließ es mit dem Gedanken
an die fehlende ironische Distanz zu sich selbst,
die sich darin ausdrücken würde, aber bleiben
und schlurfte in Richtung Apotheke,
dort ließ es sich von einem verhinderten Aphorismus,
der ihm schon öfters geholfen hatte, bedienen,
„Sinn in Tablettenform ist selten eine runde Sache“,
zitierte der Aphorismus sich selbst,
er lachte ordinär, aber er fragte nicht
nach dem Rezept.

19. Oktober 2022 08:38










Markus Stegmann

Dunkelblaurot

15. Oktober 2022 21:55










Markus Stegmann

selbst ohne nicht

der dunkelblaue silben mischte
grünblau und wetterlos verteilte
doch niemals allein selbst wenn er
dunkelblau motorlos verweilte
wenn du nach amerika-erlach willst
nehme beleuchtungen reportagen des
staubes mit „wiederkehre ich vielleicht
in rom“ erwiderte willem de kooning
in schmaler kofferfahrt auf fragiler
limmat im winterlicht „alle meine lieder“
sagte er und „ungefähr ohne tod“
tagte libelle am dunkelblauen
ausgang hing sie dir im nacken
der du alleine bist und
selbst ohne nicht

15. Oktober 2022 21:50










Mirko Bonné

Roma Termini

Der dunkelblaue Ventilator
    eines Septembergewitters
        rotiert über Trastevere.

Ohne Schirm, nur im Hemd
    unterm alten Maulwurfkostüm,
        läuft er im Regen zum Fluss,

vorbei an einem Zentaur: Junge,
    junges Ding auf den Schultern.
        Gioletti. Letzte Pferdetram.

Schwitzend, mit Stützstrümpfen
    eine abgetakelte Schwuchtel,
        so sitzt man nicht im Greco.

Und mitten auf der Piazza Cavour
    ein zahnloser Mensch, genäht
        in Sacktuchfetzen, genau

da auf dem nachtdunklen Pflaster
    lümmelte Bosie am Cafeteriatisch
        in der Sonne, Weste, Hut weiß,

grinsende Muttergotteserscheinung.
    Auch der Lebensbogen hat sein
        Gedächtnis. Darum ist man ja

niemals allein, selbst der nicht,
    der für sich sein will, wenigstens
        in den schlimmsten letzten Momenten.

*

13. Oktober 2022 12:40










Julia Trompeter

Mon Prix

 

Ernie, Etna, Emma, Jane

alle essen Birnen gern

Monsieur, Madame, Fernand, Mathieu

alle sagen mal Adieu

 

Veranstaltung, Geschenk, Betragen

sorgen oft für Unbehagen

Ernte, Kippe, Schmierpapier

davon leben viele hier

 

Schaufenster und Untertassen

hiervon kann ein Schelm nicht lassen

Rente, Ente, Tellerwäscher

reimt sich da schon deutlich schlechter

 

7. Oktober 2022 21:28