Mirko Bonné

Schnee im Mirabell

Im Garten knackt das Eis. Die Nacht
legt sich zu einem Tuch aus Frost
um alles, was sie spiegelt, und
der Himmel wandert. Jemand lacht

im Wind der weggebeizten Sterne,
vielleicht weil oben, heller Blick,
so groß der Mond steht. Dunkelblau
zieht es zwei Fahnen in die Ferne,

und in den Lichthof stürzt der Schnee,
als könnte er sich damit retten.
Sechs Uhr. Die Glocken. Eine Frau
am Ufer bettelt noch. Ich geh

und sink zu ihr durch stumme Zeit –
zu Felsen und Musik der Toten,
dick Eingemummten in den Bussen,
dem Schmerz in der Genügsamkeit.

Für Hans Weichselbaum

17. Februar 2013 09:15










Sylvia Geist

Kleine Barena

Wenn ich mich verspielte
in der schwarzweißen Allee,
sah es aus wie Zuhause
nach der Flut.

Kein Ziegel mehr am Abend,
Lagune unter Terpentin, das Wolkenöl
von einer Wand gewaschen, Schimmel
für den hohlen Zahn des Campanile,

krumm wie mein Urgroßvater
ihn nie gesehen haben kann –
alles fand sich im Gemälde
über dem Klavier

verkehrt und trieb
mit den zerschlagenen Puppen
der Töne den Tauben zu, den Stillen
ans Fenster. In sich

verkehrt und wunderlich,
die Stadt im Ordovizium, wo er
in einer Gondel lebte, in seinem selbst
gemachten Anzug und in Taubentönen

das Gesicht. Vernünftige Farben
hatte er keine, Rot kostete das nasse Brot,
Grün behielt Gott – oder Blatt – schau,
sagte er mal zu seiner Jüngsten und

ich glaubte ihm. Natürlich haben wir
nicht geredet, doch ruderten wir manchmal
die Barena hoch in einem Lied,
klarte es auf über dem Boot.

9. Februar 2013 15:29










Andreas H. Drescher

LITERATUR-PERFORMANCE „POETOSPHÄRE“

Die Poetosphäre mit den Texten „Frottee“, „Prometheus-Raben-Rätsel“ und „Katzenmusik“.

8. Februar 2013 18:46










Hans Thill

Der Text als Test

Die Fasenacht kommt mit Gekreisch
Thill zeigt der Wörter heisses Fleisch

(Mainzer Poetikdozentur der Akademie der Wissenschaften
und der Literatur an der Johannes Gutenberg-Universität
Mainz mit Hans Thill
Öffentliche Vorlesung: ›Der Text als Test‹
den 8. Februar 2013, 14 Uhr c.t., P2)

6. Februar 2013 18:04










Björn Kiehne

Abendbrot

Der Abend füllt
die Küche mit Licht.

Auf dem Tisch die
Krumen des Tages.

Ein Nachtvogel
fliegt herein,

pickt sie auf, ölt sein
schwarzes Gefieder.

1. Februar 2013 10:45










Christine Kappe

Zustellversuch 3

Krausen 11a: Durch den langgezogenen Glasbaudurchgangseingang, der zur Briefkastenanlage führt, schaut man in den hinteren Teil der Kaffeerösterei. Oft sitzt hier ein Mann an einer alten Kaffeebohnen-Sortiermaschine beim Licht einer gusseisernen, mit zwei rostigen Gewichten stabilisierten Schreibtischlampe. Aus einem grobgewebtem Jutesack fallen die Bohnen auf ein von der Lampe beleuchtetes, langsamrüttelndes Förderband, von dem aus sie auf eine Rutsche unter dem Tisch rollen, über die sie sekundenschnell in einem Kanister verschwinden – bis auf jene, die der Mann mit einem Kugelschreiber vorher zur Seite geschnippst hat, jene etwas helleren und jene etwas dunkleren, jene etwas schrumpligen, gefleckten, kleineren, zerbrochenen… Wenn der Mann dort nicht sitzt und die Maschine stillsteht, im Dämmer, im Un-Licht, liegen die nicht gewollten Bohnen mit ihren unterschiedlichen Brauntönen und Formen in ehemaligen Marmeladengläsern oder einfach nur herum.

30. Januar 2013 17:21










Andreas Louis Seyerlein

6.36 – Ich hatte ein Gespräch mit einem Freund, der seit vielen Jahren in digitalen Räumen arbeitet, beinahe könnte ich sagen, ich hatte ein Gespräch mit einem Freund, der seit vielen Jahren in digitalen Räumen zu existieren scheint. Zahlreiche seiner Arbeiten verbinden sich mit Arbeiten anderer Menschen, weil man auf ihn verweist, weil man auf ihn wartet, auf Texte, auch auf Bilder, Filme, Geräusche, die er aufnimmt, sobald er etwas Interessantes zu hören meint. Mit jeder Minute der vergehenden Zeit wächst sein elektrischer Schatten. Er macht das ähnlich wie eine New Yorker Fotografin, die stundenlang durch die Stadt spaziert und mit einem iPhone all das fotografiert, was ihr ins Auge fällt. Manchmal sind es hunderte Fotografien an einem einzigen Tag, die nur Sekunden nach Aufnahme von ihrem Fotoapparat, mit dem sie gleichwohl telefonieren kann, an das Flickr – Medium gesendet werden. Mein Freund erzählte, dass er den Eindruck habe, die junge fotografierende Frau in Echtzeit zu beobachten, ihr im Grunde so nah gekommen zu sein, dass er kurz vor Weihnachten fürchtete, etwas Ernsthaftes könnte ihr widerfahren sein, weil drei Tage in Folge keine Fotografie gesendet wurde. Am vierten Tag erkundigte er sich mittels einer E-Mail, die er an Flickr sendete, ob es der schweigsamen Fotografin gut gehe, er mache sich Gedanken oder Sorgen. Man muss das wissen, mein Freund hatte der Fotografin nie zuvor geschrieben, kannte nicht einmal ihren wirklichen Namen, sondern nur ein Pseudonym: Emilia Nabokov No2. Ein halbe Stunde, nachdem die E-Mail gesendet worden war, erschien, als habe ihm die spazierende Künstlerin zur Beruhigung geantwortet, eine Fotografie ohne Titel. Diese Fotografie erzählte davon, dass sich Emilia Nabokov No2 vermutlich nicht in New York aufhielt, sondern in Montauk, weil auf der Fotografie ein Leuchtturm auf einem verschneiten Hügel zu sehen war, der eindeutig zur kleinen Stadt Montauk an der nordöstlichen Spitze Long Islands gehörte. Im Hintergrund das Meer, und vorne, ob nun mit Absicht oder nicht, ein Fuß in einem Gummistiefel von knallroter Farbe. – stop

7.05 – Dass mein Vater älter wurde und müde, war seiner Schrift deutlich anzusehen. Die Buchstaben wurden kleiner, manche standen senkrecht, andere neigten sich einer unsichtbaren Linie zu, auf der sie sich wortweise vorwärts bewegten. Ich könnte sagen, die Schrift meines Vaters wirkte so, als wäre ein Sturm seitwärts über sie hinweggefahren, zerzaust, und doch waren alle notwendigen Buchstaben für jedes der Wörter, die mein Vater geschrieben hatte, gesetzt. Er notierte zuletzt gerne mit Hilfe der Tastatur seiner Computermaschine, das war nicht so anstrengend, er vermochte die Größe der Zeichen zu variieren, so dass er sehen konnte, was er gerade auf den Bildschirm brachte. Einmal musste mein Vater einen Brief unterzeichnen, es war ein Oktobertag, mein Vater wartete lange Zeit vor dem Papier, das auf dem Tisch vor ihm ruhte, hielt den Stift, den man ihm gereicht hatte, in der Hand, betrachtete diesen Stift, drehte ihn zwischen den Fingern, er zögerte den Moment hinaus, da er mit der Aufzeichnung seines Namens beginnen würde. In diesem Moment ahnte ich, dass mein Vater seinen Namen malen würde, dass seine nichtbewusste Signatur, die ein Leben lang gültig gewesen war, nicht länger zu existieren schien, oder dass er unter den Augen eines Beobachters sich nicht länger traute, seine ureigene Signatur auszuführen. Ja, mein Vater fürchtete sich, weil der Wind der vergehenden Zeit seine Schrift erfasste. Sie war einmal eine akkurate Schrift gewesen, eine Schrift wie gedruckt, sie notierte komplizierte mathematische Formeln, ohne je ihre Fassung auf den Papieren zu verlieren. Als Junge beschloss ich, diese Geheimschrift der Zahlen und Wörter zu entschlüsseln, bis sie noch vor meinem Vater selbst zu verschwinden begann. Zurückgeblieben sind nun seine Stifte in einer Schublade: Kugelschreiber, Füllfederhalter, Bleistifte, Buntstifte, auch ein Werkzeug, mit dem man in weisser Farbe notieren kann, vielleicht um zu korrigieren, vielleicht um Nichtsichtbares auf das Papier zu setzen. – stop

> particles

24. Januar 2013 21:17










Christine Kappe

Zustellversuch 2

Wrede 2. Seltsame Angewohnheit, Hauseingänge in Tordurchfahrten zu bauen…. Hier zieht es immer. Die silbernen Knöpfchen der Klingelanlage leuchten, aber klingeln nicht. Wenn es besonders ungemütlich ist, schreibe ich vorher schon „K.E.“ auf die Briefe und steuere Wrede 1 an, denn ich muss mich beeilen, nachher schlafen die Kinder, ohne dass ich mit ihnen geredet habe und ich kann nichts machen, außer mit den Tellern klappern. Die Söhne des Kioskbesitzers rufen mir von weitem etwas zu; der eine hat ein Mädchen dabei, welches jetzt nach links abdriftet, die Söhne verschwinden im Kiosk und kommen mit zwei Dosen Bier und zwei neuen Frisuren wieder heraus. Es ist kurz nach 10.

22. Januar 2013 09:01










Thorsten Krämer

Die weiße Nacht geht vorüber

Noch: Atemholen, Innehalten. Ein Parkplatz-
Panorama kurz nach Mitternacht, die angestrahlten
Zwischenräume. Das neue Jahr macht eine
Kunstpause, still liegt die Welt
wie bei Sendeschluss.
                                        Aber wir
sabotieren den Schnee, schaufeln bei
Morgengrauen unser verstreutes Leben zu.

(für Hellmuth Opitz)

19. Januar 2013 11:18










Sünje Lewejohann

..
15. Januar 2013 09:28