Mirko Bonné

Calw

Da legt eine Prau an, im scheinbaren Wind aus nichts Segel
So klingt der süße Singsang von den allerschwersten Dingen
Piet gießt vor dem Laden um Mitternacht noch die Narzissen
Unverkäufliche Blumen schwimmen eine Woche im Brunnen

So klingt der süße Singsang von den allerschwersten Dingen
Fast schmeckt der Regen nach dem Wein in meinen Händen
Unverkäufliche Blumen schwimmen eine Woche im Brunnen
Zwei Absätze weiter unten in der Geschichte der Zerrüttung

Fast schmeckt der Regen nach dem Wein in meinen Händen
Wie Sparbücher voll Ziffern morgens die Fachwerkfassaden
Zwei Absätze weiter unten in der Geschichte der Zerrüttung
Ich wusste überhaupt nicht, dass ich vollkommen nackt bin

Wie Sparbücher voll Ziffern morgens die Fachwerkfassaden
Und der Marder im Dachstuhl entkommt durch die Träume
Ich wusste überhaupt nicht, dass ich vollkommen nackt bin
Während David Crosby auf dem Markt Wooden Ships singt

Und der Marder im Dachstuhl entkommt durch die Träume
Piet gießt vor dem Laden um Mitternacht noch die Narzissen
Während David Crosby auf dem Markt Wooden Ships singt
Da legt eine Prau an, im scheinbaren Wind aus nichts Segel

*

9. März 2023 22:21










Hans Thill

Zettel

9. März 2023 12:32










Christian Lorenz Müller

ZILOKOWSKI-STRASSE – ECKE FRIEDENSSTRASSE

Die Tage trümmern                  der Himmel hat die ganze
Zeit Tobsucht                 dieser Schutt
macht mich krank diese Ruinen zerkanten
wir sollen es sagen, wenn unser Blick sich entzündet,
wir sagen es nicht, man hat uns vorgeschoben,
Ecke Wulyzja Zilokowiskogo – Wulyzja Myru,
sie werden bestimmt über die Friedensstraße kommen,
ab mit euch, ach, ich liebe den Humor
meines Kommandanten, ich hasse ihn,
ein paar Pappeln in der Zilokowskogo stehen noch,
da hat der Hausmeister seine abgekehrten Besen
mit dem Stiel in die Erde gesteckt und ist gegangen,
hat keine Lust mehr, verstehe ich,
hat keinen              das war nah sehr nah immer wenn das Besteck
in der Küchenschublade hinter uns             aufklirrt
ist es sehr nah                ist es mir, als wäre es
schon vorbei, als kauerte nur noch meine Seele
auf der verstaubten Isomatte, als blickte sie
verwundert hinüber zu dem tarnfleckigen Etwas, das der
Luftdruck                  zu der Küchenzeile
die Leute, die hier gewohnt haben, sind nicht arm gewesen,
der Kühlschrank ein weißer Sarg, die anderen
werden mich reinlegen und raustragen                 komisch
diese Krähe, die gestern ganz allein
in einem der Hausmeisterbesen saß, sonst schnäbeln hier
doch bloß die Splitterbomben scharf im Wind
diese                     Vögel fliegen immer im

7. März 2023 09:12










Björn Kiehne

Im Haus des Erzählers

Ein Sommerhaus wartend
mit weit geöffneten Fenstern zum Meer,
Möwen, die den Himmel teilen,
Katzen, die auf geheimen Wegen
die Insel durchstreifen,
hoch zur griechischen Kirche,
an die sich die Gräber drängen
wie uneingelöste Versprechen,
runter zum Hafen, wo die Schiffe
nach Kadıköy warten, jedes ein
Abschied, jedes eine Bitte,
uns die nicht zu nehmen,
die wir lieben.
Worte in den Wind gesprochen,
den Salzatem des Marmarameers,
den Zigarettenhauch Istanbuls,
die das Haus umflüstern,
flüstern in der Kammer unterm Dach,
flüstern in das Ohr des Erzählers,
der zum Hafen hinunter sieht,
die Kais absucht, den Blick
zurück auf die Geschichte lenkt,
die langsam vor ihm wächst,
deren Figuren er begrüßt
wie alte Freunde, um wieder
aus dem Fenster zu sehen:
wartende Schiffe,
Möwen, die den Himmel teilen,
Katzen, die die Insel durchstreifen,
zurückkehren in die Erzählung,
Zuflucht suchen in der Stille
zwischen ihren Zeilen.

Für Emre, Burgazada

5. März 2023 12:23










Christian Lorenz Müller

ER FRAGT NIE NACH SEINEM BOOT

Vor genau einem Jahr fing es an,
hörte etwas auf, er sagte nichts,
als ich ihm, das Mobilnyk noch in der Hand,
von Mutter und Zoja erzählte,
die in Charkiv im Keller saßen,
in Sicherheit, das konnte nur bedeuten,
dass draußen die Bomben fielen,
das Telefon ertaubte in meiner Hand,
als er schwieg, ins Wohnzimmer wechselte,
um den Fernseher einzuschalten,
er setzte sich auf die ausgezogene Couch,
zwischen unsere aufgewühlten Decken,
das quallig gewordene Gesicht seines Präsidenten
schwamm hinter dem Bildschirm vorbei,
giftig umklammerte der Tentakel
seiner Hand eine Tischkante,
Mutter und Zoja flohen noch am selben Tag
nach Ridnyj Kraj, auf die Datscha,
dort liegt das Boot,
das mein Mann gebaut hat, stundenlang
war er sommers draußen auf dem See,
er angelte Stille,
sie schimmerte in einem Eimer
den er abends in die Küche stellte,
Mutter freute sich immer, briet sie im August
zusammen mit Birkenpilzen,
vor genau einem Jahr fing es an,
hörte etwas auf, seit einem Jahr
hat mein Mann sich selbst am Haken,
ködert sein Schweigen aus den Tiefen
des Fernsehers, fragt nie nach Zoja,
nach Mutter, nach seinem Boot
und seinem See in Ridnyj Kraj.

24. Februar 2023 08:30










Mirko Bonné

Nizza

Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium
Kaum dass ein Baum dort in der blauen Dünung treibt
Kein Kletterer im Berg kennt den Berg, aber du
Wie eine alte Seemöwe nachts bei Mistral

Kaum dass ein Baum dort in der blauen Dünung treibt
Klirren die Sternbilder, bis du dich in Bewegung setzt
Wie eine alte Seemöwe nachts bei Mistral
Nur ein Häufchen Kiesel und Zigarettenkippen

Klirren die Sternbilder, bis du dich in Bewegung setzt
Dann schreckt manchmal sogar ein Schatten zurück
Nur ein Häufchen Kiesel und Zigarettenkippen
Freude zu finden bleibt trotzdem der Sinn einer Passeggiata

Dann schreckt manchmal sogar ein Schatten zurück
Und sei er aus den verschwundenen Wäldern des Libanon
Freude zu finden bleibt trotzdem der Sinn einer Passeggiata
Bis die Wellenbrecher alles achtlos zertrümmern

Und sei er aus den verschwundenen Wäldern des Libanon
Kein Kletterer im Berg kennt den Berg, aber du
Bis die Wellenbrecher alles achtlos zertrümmern
Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium

*

17. Februar 2023 22:58










Tihomir Popovic

weisheit, palma

vielfarbig die morgenluft
in deinem lied
meer und almudaina
in deinem schatten

auf den balkonen
flattern streifen
filme über den wind
und unsere schritte

gehüllt in wolken
und schnurrbartgrau
der basaltpatio
nimmt uns auf

und das tor schließt nicht
und von der straße
immer weiser
dein lied

11. Februar 2023 22:54










Christian Lorenz Müller

INSELPOST

Unseren Postkasten haben wir abmontiert,
denn der Wind ist hier sehr stark, er verwandelte
alle eingeworfenen Briefe in Möwen,
sie flatterten aus dem Schlitz
und schrien in vier oder fünf Sprachen
frech um unser Haus,
wenn wir nicht aufpassten,
stürzten sie sich durchs offene Fenster,
scheuchten die graue Zeitung
zu einem jungen Albatros, und das Blatt
mit einem angefangenen Gedicht
wurde zu einer Sturmseeschwalbe,
die hinaus auf den Atlantik flog,
selbst die dicksten Bücher
schlugen mit ihren Seiten,
sie flatterten aufgeregt von ihren Stellagen
wie unsere Hühner von der Stange,
wenn nachts der Fuchs kommt,
wir haben unseren Postkasten abmontiert
und stellen stattdessen das Auto
in Finnphort an den Rand der Straße,
wir öffnen das Seitenfenster einen Schlitz weit,
der Briefträger kennt unsere Adresse,
algengrüner Vauxhall Astra Mk.3
mit einer Windschutzscheibe in Taucherbrillenform,
wir setzen uns auf die eingeworfenen Briefe,
auf weiche Daunen, sie polstern uns
den Weg nach Knockvologan.

Miek Zwamborn und Rutger Emmelkamp zugedacht

7. Februar 2023 10:00










Mirko Bonné

Ein Glas Tränen

Trink das Glas, trink es und
Sommerwolken spiegeln sich.
Das Wasser fließt, ein Fließen

geht durch alle deine Jahre.
Grün der See, grün Seele.
Also fürchte dich nicht mehr,

die Sommerwolken spiegeln sich
auf Fluss und See. Im grünen Licht
trink aus dein Glas, trink es ganz leer.

*

21. Januar 2023 16:39










Christian Lorenz Müller

ODE AN EINEN URAL
(Pavel Ivanowytsch, Hochspannungselektriker,
gibt einer Journalistin ein Interview)

Ich mache das schon seit 31 Jahren,
nie hat sich jemand dafür interessiert,
und jetzt kommen Sie
und wollen einen Helden der Arbeit sehen,
tschjort, der wahre Held, das ist mein URAL,
der das Licht der Fabrikhalle erblickte
als Breschnew Chruschtschow stürzte,
beide wurden in der Ukraine groß, wussten Sie das?,
und mein Lastwagen ist kein Russe,
sondern ein echter Sowjet, aus Miass im Ural,
er kann nichts für das Z, das die Hebebühne
in die Landschaft schreibt, wenn wir
unter einer Leitung stehenbleiben, der URAL
brüllt dir bei 50 Sachen die Ohren taub,
aber er braucht keine Straße,
er kommt überall hin, so wie neulich,
als einer von diesen idiotischen Rasenmähern
iranischer Bauart einen Masten rasierte,
ich steuerte eisbrecherhaft über den Acker,
brach durch die gefrorenen Wellen schwarzer Erde,
vorbei am versackenden Wrack eines Panzers,
20.000 Dollar kostet so eine Drohne,
und dann macht sie nicht mehr kaputt
als ein paar Isolatoren, ein paar Streben,
nu, der Mast war ziemlich krumm,
aber was soll’s, er stand,
und wir malten unser Z in den Himmel
und hängten die beiden Kabel,
die am Boden lagen, wieder auf,
Bindebögen nach Charkiv, und als der Strom
endlich summte, setzten wir uns in den URAL,
er kann ja nichts dafür, dass sie ihm anderswo
Raketenwerfer auf den Rücken schrauben,
mein Sohn hat mir Fotos davon geschickt,
er wurde an dem Tag geboren,
an dem Jelzin in Moskau auf den Panzer stieg,
jetzt ist er in Bachmut, Artillerie, Kaliber
alles klar
, schreibt er, Zugmaschine ausgefallen,
wir schleppen das Geschütz mit einem Traktor
,
31 Jahre, hören Sie, seit 31 Jahren
mühen wir uns nur für meinen Sohn,
mein URAL und ich.

19. Januar 2023 10:52