Mirko Bonné

Mitte

Da schweben sie hin und staunen
sich ins Gesicht. Da ist Leben aus
dem Häuschen. Ich glaub, ich möcht
für immer sein dein Freund. Hände
um den Mate-Tee. Man geht vorbei,
so wie alles irgendwie vorbeigeht,
aber es bleibt ja immer die Liebe.

Und der Sinn des Ganzen? Keiner.
An einem dunklen Fenster stehst du
und rauchst in die Nacht. Gelächter
in einem Hof. Die letzten Maschinen
landen in Tegel, und nicht weit weg
wohnte Dora Diamant. Zeit vergeht,
die Pergola blüht. Wieder Sommer.

Für Gerald Koll

*

14. Mai 2012 21:06










Gerald Koll

Karwendel im Frühling

Am ersten Frühlingsmorgen nach langen, sich hinziehenden Wintertagen und vorschnell drängelnden Sommertagen, ging Karwendel unter Bäumen hin durch die von Lokalen und Cafés flankierte Straße seines Viertels und staunte über den Farbverlust, den das Gegenlicht verursachte. Er bemerkte eine Frau, die ihm entgegen kam, doch kaum dass er sie wahrgenommen hatte, verschwand ihre Gestalt hinter einem Baumstamm. Gleich würde sie wieder auftauchen, doch sie tauchte nicht wieder auf. Die Frau musste, dachte Karwendel, in genau der gleichen Geschwindigkeit den Baum passieren wie er, dachte Karwendel und fühlte eine große Hingezogenheit und Seelenverwandtschaft und verliebte sich für drei Sekunden. Da war er an dem Baum vorbei, und hinter dem Baum war niemand.
Herr Karwendel bestellte beim Bäcker einen Kaffee und las. Auf die sonnenbeschienene Seite seines Buches setzte sich ein rötliches Insekt. Es verdeckte nicht einmal die Hälfte eines Buchstabens, aber in kurzer Irritation wischte Herr Karwendel das Insekt fort. Auf dem Papier blieb ein roter Strich, der um ein Vielfaches länger war als das gewesene Lebewesen. Wieder fühlte Karwendel eine große Hingezogenheit und Seelenverwandtschaft. Und er dachte, dass das Insekt all dies wohl anders wahrnahm als er: möglicherweise mit vielfach verlangsamter Zeit, in der es seinen Tod auf Jahre hinaus hat kommen sehen, während eine riesenhafte Hand ausholte und ihm entgegenkam, ohne dass es sich seinem Schicksal hätte entziehen können.

14. Mai 2012 10:06










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (19)

Die naht bî Parzivâle er stuont,
da in bêden was der walt unkuont
und dâ se bêde sêre vrôs.
dô Parzivâl den tac erkôs,
im was versnît sîns pfades pan:
vil ungevertes reit er dan
über ronen und manegen stein.
der tac ie lanc hôher schein.
ouch begunde liuhten sich der walt,
wan daz ein rone was gevalt
ûf einem plân, zuo dem er sleich:
Artûs valke al mite streich;
dâ wol tûsent gense lâgen.
dâ wart ein michel gâgen.
mit hurte vlouger under sie,
der valke, und sluog ir eine hie,
daz sim harte kûme enbrast
under des gevallen ronen ast.
an ir hôhem fluge wart ir wê.
ûz ir wunden ûfen snê
vieln drî bluotes zäher rôt,
die Parzivâle fuogten nôt.
von sînen triwen daz geschach.
do er die bluotes zäher sach
ûf dem snê (der was al wîz),
dô dâhter «wer hât sînen vlîz
gewant an dise varwe clâr?
Cundwier âmûrs, sich mac für wâr
disiu varwe dir gelîchen.
mich wil got sælden rîchen,

Sît ich dir hie gelîchez vant.
gêret sî diu gotes hant
und al diu crêatiure sîn.
Condwîr âmûrs, hie lît dîn schîn.
sît der snê dem bluote wîze bôt,
und ez den snê sus machet rôt,
Cundwîr âmûrs,
dem glîchet sich dîn bêâ curs:
des enbistu niht erlâzen.»
des heldes ougen mâzen,
als ez dort was ergangen,
zwên zaher an ir wangen,
den dritten an ir kinne.

er pflac der wâren minne
gein ir gar âne wenken.
sus begunder sich verdenken,
unz daz er unversunnen hielt:
diu starke minne sîn dâ wielt,
sölhe nôt fuogt im sîn wîp.
dirre varwe truoc gelîchen lîp
von Pelrapeir diu künegin:
diu zuct im wizzenlîchen sin.
sus hielt er als er sliefe.

Auszug aus Wolfram von Eschenbach: Parzival. 6. Buch: 282/283.

13. Mai 2012 19:20










Andreas Louis Seyerlein

~

0.22 – Kamele sind Tiere, die ich schon immer mochte. Sie erscheinen mir vertraut, als hätte ich einen Teil meines Lebens unter Kamelen zugebracht. Ihre großen Augen, die leicht aus dem Kopf hervorstehen, ihr samtig ledriger Mund, ihr Geruch, ihr warmer Bauch, das weiche dichte Fell. Ich erinnere mich, dass man mir vor langer Zeit einmal erzählte, ich sei während meiner Besuche mit meinem Vater im zoologischen Garten immer wieder gern bei den Kamelen gewesen. Auch soll mein Vater mich auf den Schultern getragen haben, während ich seinen großen Kopf mit meinen kleinen Armen umfasste. Merkwürdig ist, dass ich mich an keine Fotografie erinnere, die mich dort oben als einen stolzen Reiter zeigt, vermutlich deshalb, weil mein Vater vor Jahren der einzige Fotograf der Familie gewesen war. Es existieren überhaupt nur wenige frühe Bilder, die ihn und mich gemeinsam zeigen. Und so habe ich nun folgendes probiert. Ich habe eine Fotografie in meinem Kopf illuminiert, ein Dokument, das nie existierte und doch sehr wirklich werden könnte, wenn ich nur lange genug daran arbeite. Das Dokument ist eine schwarzweiß Aufnahme. Sie zeigt einen Mann in weiten dunklen Hosen mit hellem Hemd, das ist mein Vater. Auf seinen Schultern sitzt ein kleiner Junge, auch er trägt ein helles Hemd, Sandalen und kurze Lederhosen, das bin ich. Über uns verzweigt sich ein Ulmenbaum. Es ist ein mächtiger Baum. In seinem Schatten hinter einem Zaun stehen zwei Kamele, sie schauen uns an. Da ist noch ein Flamingovogel, hungrige Gestalt, der auf einem Bein mitten auf dem Spazierweg steht. Das sieht alles schon sehr gut aus, finde ich. Ich habe mir dieses Bild vorgestellt, bis ich es so genau vor mir sehen konnte, dass ich es auf einem vorgestellten Tisch drehen und wenden könnte. Mein Vater, den ich jetzt in dieser Weise sehen kann, war ein junger Mann, der lachte. Er zeigte in die Richtung der Kamele. Und auch ich zeigte mit einem Finger in die Richtung der Kamele und auch ich lachte. Es war Sommer. – stop

15.14 – Wie ein nahender Tod in den Bewegungen der Menschen auf Hospitalfluren, in Gesprächen, Nachrichten, Telefonaten, auch in den Blicken pflegender Schwestern und behandelnder Ärztinnen nach und nach erscheint. Das Licht des kommenden Endes wird sichtbar im Leiserwerden der Stimme des Sterbenden, ein Mund, der sich öffnet wie der Mund eines jungen Vogels, nach Luft suchend, nach etwas Wasser, Tee, Aprikose. Letzte zärtliche Berührungen, die Kühle der Glieder, wandernde Farben der Haut, liebevolle Sätze von Dank, Klagen, Weinen, Gebete. Ja, das Licht eines nahenden Todes erscheint nach und nach unaufhaltsam wie das Licht der Farben auf einer Polaroidfotografie erscheint. – stop

> particles

12. Mai 2012 11:38










Mirko Bonné

Widerstände

4 – Animal Collective

Animal Collective \"Sleeper Factory\"

His voice (…) conveys the emotional impact of the rhythm and harmonies, which is what A(nimal) C(ollective) is all about. It’s tribal in that the sound is meant to be acted on and SCREAMED. (kosigan86, gepostet auf youtube)

Animal Collective \"Summertime Clothes\"

*

10. Mai 2012 20:53










Gerald Koll

Zazen Sesshin (18)

„Vladimir’s Night“ ist ein Hybrid aus Kinderbuch, einer äußerst blutigen Märtyrergeschichte und einem verschachtelten politischen Traktat. Vladimir (Putin – auch wenn der Name nie genannt wird) ist gleichzeitig ein kleines Kind und ein politischer Führer, der in seinem Sommerhaus Ferien macht. Vor dem Einschlafen sieht er in der Maserung seines Schlafzimmerschranks Gesichter.
Die Gesichter beginnen sich zu bewegen, ein Mund öffnet sich, belebte Objekte fliegen heraus, um mit Vladimir zu kuscheln, ausgelassene Freunde tauchen aus einer Schublade und aus Vladimirs Tasche auf. Das fröhliche Treiben schlägt aber rasch in Gewalt um. Vladimir wird vergewaltigt, gefoltert und am Ende von den Objekten ermordet…
Der israelische Künstler Roee Rosen steckt hinter dem russischen Schriftsteller und Künstler Efim Poplawski (1978-2011) aka Maxim Komar-Myshkin. Dieser war stark von Daniil Charms‘ zugleich komischer und schauriger Form des Absurden beeinflusst, die für ihn zwei scheinbar unvereinbare Zustände verkörperte: eine durch die Kunst gewonnene heitere, aufsässige, irrationale Autonomie und das allumfassende Gefühl eines realen rachsüchtigen Animismus.
Roee Rosen (*1963): „Vladimir’s Night“ by Maxim Komar-Myshkin, 2011/2012. Auswahl aus einem Album mit 40 Gouachen und Text auf Papier, je 55×36,5 cm.
(Programmtext der Broschüre zur Ausstellung/Konferenz Animismus, 16.3.-6.5.2012, Haus der Kulturen der Welt, Berlin.)

6. Mai 2012 17:30










Mirko Bonné

Widerstände

3 – Mati Shemoelof:

Mein toter Vater

Die Briefmarken sammelten die letzten Tage
meines Vaters in Ländern die
er nie bereiste,
er legte sie in die Wasserschale seiner Seele
und löste sie vom Umschlag der Vernachlässigung
in den Arbeitervierteln der Stadt Haifa,
die Krakenarme staatlicher Behörden
aber gaben die Marke nicht frei
und als Kainsmal blieb die schwarze
Tinte.

*

30. April 2012 16:28










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (17)

Der ist auch schon da, der dürre Raubtierkopf, Sternbild aus Astlöchern der Diele. Ein wenig dürrer wirkt er heute. Mehr als einem Löwen gleicht er einem Panther, dem man die Zähne zog und Augen stach: Baghira beim Wiedersehen mit Mowgli, der heimkehrt in den Dschungel, ihn zu roden.
Das zum Rad aufgestellte Kissen schont die Knie. Das Rad wird Sägeblatt mit winzigen Vibrationen. Nach vierzig Minuten schlagen seine Zähne klappernd auf die meinen. Zusammen hoffen wir, zersägte Hälften, auf das Frühstück. Der Brei wird zäh und klebrig sein, er ist mein Reisverschluss.
Der dritte Tag würde der härteste, hatte man gewarnt. Er begann vor langer Zeit. Es ist 05:20 Uhr.

30. April 2012 06:54










Sylvia Geist

Yttrium

hinterm mond
ohne horizont für die dünen ohne biologie und
bildschirm verpasste ich den start. drinnen streiften sie das
mmmmnackte staunen über ihre gesichter bläulich vor dem stillstand
eines allgemeinen herzens flackerten sie mit den teuren missionaren
dem verlust

der erdenschwere
entgegen. ich war nicht dabei. sah den dandy
schwebend im raum seines lichten anzugs nicht den boden
mmmmproben den wir nie verlassen hatten. verpasste die geschichte
draußen ohne mond und horizont und ebenso kalfatert
von derselben

dunkelung durch
die es schon wieder auf uns zu flog
apollinisches projektil zurück vom ziel kleine trümmer der heimatfiliale
mmmman bord mutterkörner pechvogelgewölle. einen augenblick in den dünen
der dächer diodenjahre weiter. ich übersah die strecke nicht
die kürze.

25. April 2012 16:33










Hendrik Rost

Das letzte Gold

Gedichte klemmte ich mir ans Fahrrad. Ein kleines Büchlein mit Texten von Trakl war mein liebstes. Ich lernte An den Knaben Elis auswendig, Grodek und andere. Auf dem Weg zur Schule kam ich über Land, 13 Kilometer durch Maiswüsten. Wie schwermütig ich war, das las ich in den Texten. Die Bewegung regte mich an, das Auswendiglernen war Abbild der Bewegung im Geiste. Insgesamt war das alles lächerlich: der Mais, die Gedichte, das Fahrrad, die Schwermut. Und es war grandios. Ich fuhr Komplexen für den Moment davon und träumte dabei nie von künftiger Größe. Ich träumte ohnehin nicht viel, sondern las, von den Fingern der Mönche, von traurigen Tieren und von dunkler Deutung. In der Schule zehrte ich von meinem Image als Sonderling, etwas Schauspieler, etwas Sportler, etwas ehemaliger Rebell. Und etwas Leser. So ging es weiter. Wer weiß, wozu das noch gut sein wird?

25. April 2012 16:01