Andreas Louis Seyerlein

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22.15 – Inwiefern würde sich die Welt der Bilder verwandeln, wenn wir über die Möglichkeit verfügten, unsere Schlafträume zu fotografieren? Ich meine so zum Beispiel, während eines nächtlichen Spazierganges über einer Hochebene flammender Ahornbäume die Anweisung zu geben: stop.aufnahme.jetzt. Schon am nächsten Morgen dann auf dem Küchentisch neben Kaffeetasse, Melonenscheibe, Morgenzeitung, jener Stoß im Traum gebannter Momente, glühende Baldachine, sagen wir, über schneeweißen Wolken, Elefanten der Tiefsee, federleicht im Spiel vor Neufundland, die schillernde Küste Louisiana’s. Wie man sich neuerdings zur Ruhe legt lange vor der üblichen Zeit, im Sammelfieber blitzende Augen. Wo und womit wäre nun in der Verwirklichung der Idee des Traumbildapparates anzufangen?

> particles

28. Mai 2010 16:44










Marjana Gaponenko

Chanson Pour un Homme Triste

Man sieht dich:
Du sitzt reglos im Zimmer
und taumelst umher
im Dickicht der Luft.

“Geschliffene Träne,
sag mir die Stunde,
wann du fällst!
… trois, sept, as …”

Das ist dein Lied.
Dein Lied, das dich biegt.
Dein Lied, das deine Züge verzerrt,
das zum Wolkengestein heranwächst.

Man sieht dich:
Du kriechst darüber
bis an den Rand.

… trois, sept, as …

25. Mai 2010 16:58










Gerald Koll

steine

EINSTEINSAGTNEINEINSTEINVERNEIN
TEINSTEINSAGTNEINEINSTEINVERNEI
NTEINSTEINSAGTNEINEINSTEINVERNE
INTEINSTEINSAGTNEINEINSTEINVERN
EINTEINSTEINSAGTNEINEINSTEINVER
NEINTEINSTEINSAGTNEINEINSTEINVE
RNEINTEINSTEINSAGTNEINEINSTEINV
ERNEINTEINSTEINSAGTNEINEINSTEIN
VERNEINTEINSTEINSAGTNEINEINSTEI
NVERNEINTEINSTEINSAGTNEINWEINT
EINSTEIN

25. Mai 2010 09:04










Gerald Koll

Vertraute Fremde

Auf einer Bank liegt ein 48-jähriger Architekt. Nach einem Schwindelanfall ist er als 14-jähriger in der Vergangenheit erwacht. Er ist ein Mann im Leib des Knaben. Er denkt:

„Wie hoch der Himmel war …
Trotzdem hatte ich das Gefühl, die träge dahinziehenden Wolken seien zum Greifen nah. Der Himmel war doch etwas wunderbares …
Er stand über der Zeit und war immer da.
Wenn man von Ewigkeit sprach, konnte man genauso gut von ihm sprechen …“

„Wahrscheinlich wurde niemand jemals erwachsen …
Denn tief im Herzen bewahrte sich wohl jeder das eigene Kind, das immer weiterexistierte …
Genau wie der Himmel …
Die Zeit ließ die Menschen nur so tun, als würden sie erwachsen werden …
Und die Fesseln des sogenannten „Wachstums“ drängten das kindlich freie Herz immer weiter zurück.
Jetzt … da ich ein zweites Mal als 14-jähriger leben durfte, hatte ich das Gefühl, alles, was ich bisher übersehen hatte, deutlich vor mir zu sehen.“

(Jiro Taniguchi: Vertraute Fremde. (1997) Carlsen Verlag, Hamburg 2007, S. 174/175.)

21. Mai 2010 18:34










Mirko Bonné

Savoy

Als man lieber Inder war, lieber
als ein Kind, als man ein Kind nicht
mehr und kein Inder war:
mmmm mmmm mmmmmlieber man,
die mottenkugelsicheren Schränke
der Ahnen durchleuchtet, durch-
röntgt mit rot unterlaufenen
Augen: Rotes! Da!
mmmm mmmm mRotes Tuch,
Zeug: Klamotten, rot Stiefeletten,
rote Ringe wie unter übermüdeten
Inderaugen. Augenringe geschwärzt
mit Kippenasche, ja, Javaanse-
raucher, Patschuli-überzeugt:
mmmm mmmm mmmm mmmMan
ist dann so durch die Nacht geheizt,
im Karmann ins Savoy, den Spiegel-
tempel, Stempel, und Kornelkirschen-
Mala tanzen lassen mit Ma Anand Grit,
Swami Thorsten in roter Latzhose was
zubrüllen, Roten Afghanen einfüllen:
mmmm mmmm mmmm mmmmmmSo
lehnte man da, dachte nichts. Das Nichts
sehr rot. Man lehnte rot ins Nichts. Komm,
rief wer. Zerhackt! Nur wer. Komm doch,
wem rief man zu. Es blutete das Stro-
boskop, sah man, und sich: Wer
mmm mmmwar das noch.

*

Mit Dank an Sylvia für Einrücken, Wundern und Wiederfunde

*

19. Mai 2010 09:58










Sylvia Geist

Wiederfund (12): Das Geheimis des Struwwelpeters

„Ungezogenheit ist der Verdruß des Kindes darüber, daß es nicht zaubern kann. Seine erste Erfahrung der Welt ist nicht, daß die Erwachsenen stärker (sind), sondern daß es nicht zaubern kann.
(…)
Das Geheimnis des Struwwelpeters: Diese Kinder sind alle nur ungezogen, weil ihnen keiner was schenkt, darum ist das Kind, das ihn liest, artig, weil es schon auf der ersten Seite so viel geschenkt bekommt. Ein kleiner Geschenkregen fällt da vom dunklen Nachthimmel. So regnet es unaufhörlich in Kinderwelten. In Schleiern, wie Regenschleier sind, fallen Geschenke auf das Kind herunter, die ihm die Welt verschleiern. Ein Kind muss Geschenke kriegen, sonst wird es wie die Kinder im Struwwelpeter sterben oder fortfliegen. Das ist das Geheimnis des Struwwelpeters.“

aus: Walter Benjamin – Über Haschisch. Mit einer Einleitung von Hermann Schweppenhäuser

Das Geheimnis des Struwwelpeters ist eines aus einer Reihe von Geheimnissen, die sich Benjamin während seiner Rauschexperimente zeigten. In einem der Experimente dieser „Vorschule der profanen Erleuchtung“ (Schweppenhäuser) begegnete er auch einem sie alle einigenden Geheimnis der Wahrnehmung, als ihm ein verschleiertes Gesicht erschien, „das selber nur Schleier ist – das ist viel zu himmlisch, um weiter darüber zu reden“. Das hat etwas Eleusisches: der Schleier hebt sich sozusagen in dem Moment vom Geheimnis, in dem der Schleiercharakter des Offenbarten hervortritt. Fritz Fränkel, der mehrere Rauschexperimente Benjamins protokollierte, schrieb dazu: „Es ist für den Haschischrausch ein ebenso gewöhnlicher wie charakteristischer Vorgang, daß das Sprechen mit einer Art Resignation verbunden ist, daß der Berauschte schon darauf verzichtet, auszusprechen, was ihn wirklich bewegt, daß er sich bemüht, etwas Beiläufiges, Unernstes an der Stelle des Eigentlichen aber Unsagbaren zum Ausdruck zu bringen…, daß – dies ist das Merkwürdige und der Aufklärung sehr Bedürftige – das gewissermaßen auf Abbruch Geäußerte weit merkwürdiger und tiefer sein mag als das, was dem Gemeinten entsprechen würde.“ Vielleicht ist das auch die Verbindung zwischen Imaginationszuständen des Haschischrauschs und solchen der Dichtung, oder der Verselbständigung von Sprache im poetischen Wahrnehmungsprozess, eine geistige Verfassung, die Benjamin gemeint haben könnte, als er vom Denken als von einem „eminenten Narkotikum“ sprach. Nach dem Geheimnis des Struwwelpeters ließe die poetische Wahrnehmung Geschenke regnen, die die Welt verschleiern und das Schleiergesicht der Dinge zeigen, Geschenke, ohne die man vielleicht „sterben oder fortfliegen“ würde wie die Kinder im Struwwelpeter.

18. Mai 2010 12:39










Hans Thill

Haus der Silben

stein aus papier

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Stein aus Papier
Faul wie eine Spinne lag sie hinter Wänden, die so dünn waren, daß jeder zusah, wie sie ihren Tee schlürfte, oder beim Husten bauchte sich die Wand aus, ein atmendes Stück Stroh mit Lehm, vor Urzeiten gestampft, zu Zeiten geknetet, heute gesehen, morgen schon auf der Briefmarke. Das Silbenhaus. Do Mi Si La Do Re.

14. Mai 2010 10:02










Thorsten Krämer

Uff

Frikadellen für Berlin: wir wollten den fremden Bruder
durchfüttern, in keinem der Klassiker war sein schwarzes
Schaf zu finden, eine Nachlässigkeit nur der Gegenwart.

Der Geruch beim Aufblättern der Zeitung war unübersehbar.
Uff, sagte die Mutter, und: Das hat er mit Absicht gemacht.

(für Thomas Maria Malangeri)

13. Mai 2010 18:06










Gerald Koll

Familie

Hintergrund: Carl Gustav Carus, Brandung bei Rügen, 1819.

9. Mai 2010 15:55










Thorsten Krämer

Es gibt einen Ausweg

Schon seit Jahren gehe er nicht mehr ohne Tür aus dem Haus.
Auf einem Flohmarkt in Prag habe er eine faltbare aus Papier gefunden, die stehe auf seinem Schreibtisch im Büro. In Brasilien produzierten sie welche zum Aufblasen; es gebe sie auch gestrickt, aus Edelstahl, als Reiswaffel zum Essen und mit wärmeempfindlicher Oberfläche, die sich bei Berührung verfärbt. Die Vielfalt sei zwar schön, aber nicht notwendig – vielleicht reiche ihm schon bald eine App, er sei da sehr zuversichtlich.

(für Aléa Torik)

8. Mai 2010 20:03