Andreas H. Drescher

DIE SCHWIERIGE WIRTIN 1

Vor dieser Nase schließt sich die Zeit

18. November 2009 23:56










Martin Zingg

Vierzehnter November

Sass da, die Beine übereinander-
geschlagen, und nicht bereit zu sterben.

Jetzt ist alles wieder gut,
sagte mein Ohrenarzt, die Ablagerungen
der Zeit, in den Gängen, auf dem Trommelfell.

Was dachte er, was ich hören will oder muss,
ob alles gut wird wieder, leichtfertig war mein
Augenblick ja nie, was weiss ich,
ob es jetzt, ich meine, ob es nur noch an den Ohren liegt,
was weiss ich, was ich lieber hören muss.

18. November 2009 23:47










Andreas Louis Seyerlein

~

Ein Nachtfalter segelte durch mein Arbeitszimmer. Das Tier war so müde und so schwach, dass es nachgab und sich der Luft anvertraute. Kurz darauf saß der Falter auf dem Boden und ich hob ihn auf und setzte ihn behutsam an eine Wand. – Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Ein Paar Diodenlichter glühen zu mir herüber. Ob ich den Falter füttern sollte, über den Winter bringen? Er könnte vielleicht 250 Jahre alt, er könnte ein Lichtenbergfalter sein, der rasch bei mir zu Kräften kommen möchte. Ich notiere:

~ : louis
to : Mr. jonathan noe shapiro
subject : CONEY ISLAND

Mein lieber Shapiro, das müssen Sie wissen, ich bin glücklich, fühle mich leicht, alle Sorgen der vergangenen Wochen sind von mir gefallen, ein Mensch, der mir nahe ist, wird weiterleben. Wie schweren Zeiten, leichtere Zeiten folgen! Nun wieder ein angenehmes Arbeiten. Bin zu atlantischen Phänomenen zurückgekehrt, das Hörvermögen der Tiefseelefanten, natürlich, eine unendliche Geschichte. Habe darüber nachgedacht, ob es nicht vielleicht möglich sein könnte, dass Tiefseeelefanten über kleine, kaum noch sichtbare Ohren verfügen, die an ihren Rüsselspitzen gewachsen sind über Jahrmillionen ihres heimlichen Lebens hinweg, um hören zu können, was man spricht in der Trompetensprache jenseits des Wasser. So könnte ich weiterkommen in dieser Angelegenheit. Es ist nun beinahe sicher, dass ihre Herden bereits in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts vor Coney Island im Staate New York wahrgenommen worden sind. Ein Herr schrieb mir von Hand, seine geliebte Rose habe ihm, während eines Ausfluges an den Strand, von Erscheinungen erzählt, die alle unsere Vermutungen bestätigen. Ich füge, lieber Shapiro, meinem Brief eine Fotografie hinzu, die an genau jenem Tag der Beobachtung aufgenommen worden sein soll. Sieht sie nicht hinreißend unsterblich aus, Mrs. Rose, wie sie so sitzt und sich über das Tiefseeleuchten ihres Kopfes zu freuen scheint? – Ihr Louis, ihr Vogel.

gesendet am
14.11.2009
22.58 MESZ
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atlantik
louis to jonathan
noe shapiro >>

16. November 2009 18:38










Hans Thill

Das heisse Fleisch der Wörter

JOSÉ MARIA DE HEREDIA

Grabepigramm

Hier liegt die Grille, die zwei Jahre lang
die junge Helle, Fremder, aufgezogen
und deren Flügel zitternd unterm Bogen
des Zackenfußes in den Büschen sang.

Die Muse, ach! des Feldes und der Brache,
sie ist verstummt, die Leier der Natur;
geh schnell vorüber, Freund, laß keine Spur,
damit aus leichtem Schlaf sie nicht erwache.

Dort ist es. In den Strauß von Thymian
hat jüngst den weißen Grabstein man getan.
Wieviele Menschen mußten so nicht enden!

Von Kindestränen wird ihr Grab benäßt,
auf das die Morgenröte Weihespenden
von Tau in Tropfen niederrinnen läßt.

Aus: Die Trophäen / herzlichen Dank an den Übersetzer Hanns Grössel

12. November 2009 14:15










Hendrik Rost

Alte Meister

Auf den Wanderdünen der
Vielfalt sammelt sich Unruhe,
hinterm Horizont lodert Distanz.

Bei Gott ist das Wetter,
wenn es in den Augen hagelt
oder der Stress brandet.

Vieles kennt man durch Atmen,
zum Beispiel Umwege links
und rechts an Statuen vorbei,

ohne Körperkontakt mit sich selbst.
Wenn das Verbotene stört,
bedank dich bei den Verästelungen

der Imitation. Veduten aus Krisen-
zeiten wehen im Wind. Museen
sind der Kardinalfehler.

9. November 2009 19:23










Sylvia Geist

Wiederfund (11): Die Metterling-Listen

„Der Verlag Feil & Söhne hat endlich den lang erwarteten ersten Band der Wäschelisten Metterlings (Die gesammelten Wäschelisten Hans Metterlings, Band I, 437 Seiten, XXXII Seiten Einleitung, Register, DM 39,50) mit dem fundierten Kommentar des bekannten Metterling-Schülers Günther Eisenbud veröffentlicht. Die Entscheidung, dieses Werk getrennt und vor Abschluß des gewaltigen vierbändigen Oeuvres herauszubringen, ist so erfreulich wie vernünftig, wird doch dieses eigensinnige und schillernde Buch im Nu die ekelhaften Gerüchte aus der Welt schaffen, Feil & Söhne wollten, nachdem sie mit den Romanen, dem Theaterstück und den Notizen, Tagebüchern und Briefen Metterlings guten Gewinn gemacht hätten, bloß versuchen, weiter Gold aus derselben Ader zu schlagen. Wie unrecht diese Intriganten hatten! Fürwahr, schon die erste Wäscheliste Metterlings

Liste Nr. 1
6 Unterhosen
4 Unterhemden
6 Paar blaue Socken
4 blaue Oberhemden
2 weiße Oberhemden
6 Taschentücher
Bitte nicht stärken!

macht uns auf vollkommene, geradezu totale Weise mit diesem geplagten Genie bekannt, das seinen Zeitgenossen als der „Irre von Prag“ ein Begriff war. (…)“

Und so geht es weiter in dem rororo-Bändchen 4574, das 1995 unter dem Titel Wie du dir, so ich mir einige Stories Woody Allens versammelte. Natürlich wagt sich Allen auch an diverse Projekte zur Sinnfindung und allgemeinen Daseinsorientierung, z.B. in Form eines Volkshochschulprogramms (Das Frühjahrsprogramm), in dessen Philosophiekursangebot es u.a. heißt: „Erkenntnislehre: Ist das Wissen wissbar? Wenn nicht, wie können wir das wissen?“ Ich kramte das Büchlein vor ein paar Tagen wieder heraus, übrigens nachdem mich ein Werbespot – „…das Große, die Dose, die Rose – mach´es zu deinem Projekt!“ – daran erinnert hatte.

Liste 2

9. November 2009 12:31










Nikolai Vogel

Hallo

ist da wer?

8. November 2009 22:57










Hans Thill

Das heisse Fleisch der Wörter

JOSÉ MARIA DE HEREDIA

Lupercus
M. Val. Martialis Lib. 1, Epigr. 118

Lupercus sprach sobald er mich erblickte:
»Dein neues Epigramm ist eine Zier;
wie wäre es, wenn jemand ich zu dir
nach allen Rollen deines Werkes schickte?«

– »Nein, denn dein Sklave hinkt, bedarf der Schonung:
Mein Haus liegt ganz im andern Teil der Stadt;
du wohnst am Palatin? Genau dort hat
Artrecus, mein Verleger, seine Wohnung.

Am Forum, im Geschäft, verkauft er viel:
Terenz und Phädrus, Plinius, Vergil, –
das Buch des Lebenden und die der Toten;

Dort wird – gewiß nicht an der letzten Wand! –
gebimst, in einem roten Band,
Martial für fünf Denare feilgeboten.«

Aus: Die Trophäen / herzlichen Dank an den Übersetzer Hanns Grössel

8. November 2009 12:50










Björn Kiehne

Vorwort

Wohin du willst, frage ich,
und baue dir schüchtern
einen Raum aus Schweigen.

Du flüsterst:
Phanerozoikum,
keine Gedanken am Horizont,
Proterozoikum,
keine Ichschlieren auf den Wellen,
Archaikum,
keine Nebel über dem Wasser,
Hadaikum,
in den Raum vor den Urknall.

Ich zögere, setze erneut an,
doch deine Augen bitten:

Jetzt keine Worte,
die Stille singt so schön.

7. November 2009 13:59










Andreas H. Drescher

STUDIENBEGINN

Ich treibe durch die Stadt. Eiliger durch unbegangene Straßen. Südstadt. Hier gelingt das Schlendern wieder. Dann ist die Aufgabe da, die Passanten gründlich anzusehen. Das ruft Unmut auf. Niemand will sich im Blick des allein Gehenden finden. So verlege ich meine Aufgabe ins Akustische und werde zum Heraldiker der abgerissenen Gesprächsfahnen, die an mir vorüberwehen. Breiter werde ich im Sammeln. Blasonierungen. Ein Bär greift von einem Greifen seinen Krummstab ab. Kugeln ohne Tinkturen. Löwe und Maulwurf tauschen einen Wulst aus. Schuppenschnitt, Wellenschnitt, Dornenschnitt. Aus ihren Schraffierungen treten Figuren. Die Wappen der Damen haben Rautenform. Nacht tüpfelt sie mit kleinen, schwarzen Punkten. Der Austausch von sechszackigen Sternen gegen drei Schindeln. Meine Freude an dieser Sammlung steigert sich bis zur heraldischen Benommenheit. Ich sehe mir beim Taumeln zu. Und ich bin nicht der einzige, der mir dabei zusieht. So verlasse ich das Große Quartier, bin mir nun selbst als eine Figur besät. Taumel als Schräggitter. Offene Netze. Wer mich ansieht, hält mich für betrunken. Die Verkleinerungsform des Umzugs ist die innere Einfassung. Trockene Blätter unter meinen Füßen. Die früheste Position des Heraldikers war hoch aufgerichtet, mit nur einer Pfote am Boden. Flanken sind die Seiten des Schildes, die abgetrennt sind. Kauerndes Tier. Mitren und Pfeile. Der Schlachtruf dekorativ über der Helmzier. Ein Renault. Ein Renault als Renault. In die Kneipen hier werden zum Herbstfest die trockenen Blätter eingekehrt. Knisternd hinterdrein. Um der inneren die äußere Betrunkenheit hinzuzufügen. Die sichere Aufmerksamkeit der schwarzen Punkte.
Nacht.

(Für Thorsten)

7. November 2009 10:29