Carsten Zimmermann

zum beispiel du spazierst
über den alexanderplatz
an einem mittelgrauen
vormittag

oder im wald
ein teich, worin
frösche quaken
du stehst da, wehrst
den mücken

das bild würde dich umwerfen,
wenn es dich nicht
enthielte

(das sehende unendlich
gelassen)

8. Februar 2009 20:31










Rebecca Maria Salentin

Vorfahren

Meine Vorfahren waren Tataren.
Ich stelle mir vor, wie mein Urgroßvater auf seinem kleinen Takhi durch die Gräser der Steppe galoppiert. In der Hand hält er die Urga, mit der er das Vieh wieder einfängt, das es gewagt hat, sich zu weit von der Herde zu entfernen. Sein stämmiger Körper und seine buschigen Haare verschmelzen mit dem Takhi zu einer urigen Gestalt.
Meine Großmutter liegt an der Brust ihrer Mutter. Sie ist schon fünf Jahre alt, aber das Leben ist hart und Nahrung rar. Durch die Milch der Mutter bekommt sie alles, was ihr kleiner Körper braucht. Sie schmiegt sich in die Felljacke meiner Urgroßmutter und atmet den vertrauten Geruch nach Schaf und Schweiß ein.
Zu dieser Zeit haben sie sich am Fuß des Altai niedergelassen. Hier werden sie bleiben, bis die Urgroßmutter niedergekommen ist, und sich genügend von der Geburt erholt hat. Alle ihre Kinder hat sie am Ufer des Durgen-Nur geboren. Danach wird sie das neue Kind in Felle wickeln und auf ihrem Rücken wird es mit der Familie den Dzabhan entlangziehen.
Meine Urgroßmutter sitzt am Feuer und singt die alten schamanistischen Weisen, die ihr eine gute Geburt und dem Kind das Leben bringen sollen. In ihrem seltsamen Singsang wiegt sie sich dabei vor und zurück während sie die Felle trocknet. Das ist die Musik des Tages. Nachts schläft meine Großmutter mit ihren Geschwistern eng aneinandergedrängt in der warmen Jurte. Wieder riecht sie den vertrauten Geruch des Schweißes ihrer Eltern, hört die Geräusche, das Atmen und Schnarchen der gesamten Familie. Das ist die Musik der Nacht.

8. Februar 2009 16:35










Markus Stegmann

kommende nacht

habichtlose himmel fallen aus den organen der zeit die laue luft im märz
fristet unterm dach im darin eingenisteten stroh vor den krallen der nacht
geschützte brut mit viel zu wenig magenhaut verfroren dann der wind in
grauer farbe gestrichne stirn am nächsten morgen hinter dünner haut aus
warten kocht die suppe mit angehefteten mündern erstaunt stecken die
augen im erbsenbeet und blicken senkrecht zum mond der mit stangen sich
von der erde abstösst und vom wald der sich fürchtet vor der kommenden nacht

6. Februar 2009 12:55










Andreas Münzner

Geschäftsbericht

Dieses Jahr wieder ein, zwei Wahrheiten
in den Onlineschlagzeilen, die wir immer
schon wussten. Wie damals, die Erfindung des Gleitschirms.
Der erfolgreiche Paarmensch im Schlafzimmer
erwähnt nur das Positive, Betriebe überleben, wenn sie wachsen,
ein Organismus oft noch danach. Sind

die Grauwerte ausgelagert, werden Berichte zu einer notorisch
verspäteten Gattung. Worüber sollen wir noch reden?
Lacher wirken verdächtig. Das 21. Jahrhundert ist eben
gelandet, so früh hat es niemand erwartet. Jetzt stehen wir, stetig,
uns nur noch selbst im Weg. Der Rest ist Arithmetik.
Die Pessimismen von früher dürfen belächelt werden. Ein Tor ist,

wer seine Träume nicht umbenennt. Der Ton ist härter geworden zwischen
den Geschlechtern. Für Nostalgien habe er
keine Zeit mehr, meinte kürzlich ein Bekannter.
Gestern das Telefonat mit den Eltern: Sie mischen
noch mit. Eine Generation weit weg, und so viel Misstrauen schon.
Gesenkt werden konnten die Kosten für Kommunikation.

6. Februar 2009 10:59










Andreas H. Drescher

Katharina von Bora

Sie schreibt jetzt an der Ruhe als Familiengeschichte
An ihrer Hartnäckigkeit und ihrer Wiederholung

Vor allem an den ungeraden Namen

Es interessiert sie gar nicht
Wie ihr Mann im Taufregister heißt

Seine Dorfnamen interessieren sie
Seine Spitz- und Spottnamen

Lächelnd stibbt sie die aus ihrem Tintenfass

Von ihrer Heirat angefangen
Bis zu seinem schlanken Tag vorm Petersdom

 
bora

5. Februar 2009 21:03










Christine Langer

Zum Tod von Michael Hamburger – eine Interpretation eines seiner Gedichte.

Anläßlich seines 80. Geburtstages im Jahr 2004 wurde ein Geburtstagsprojekt verwirklicht – ein Buch, an dessen Übersetzung über vierzig Kollegen mitgewirkt haben. Michael Hamburger, 1924 in Berlin geboren, lebte seit 1933 in Suffolk. Seine Lyrik thematisiert vordergründig eher unscheinbare Wunder des Alltags, sei es das Beobachten von Libellen, Schleiereulen und Mauerschwalben oder die jährliche Ernte von Kürbissen und Pflaumen, deren Blau in Nuancen wahrgenommen wird. Das Betrachten der Wolken gehörte für Michael Hamburger, der es liebte, Bäume selbst zu pflanzen, zum Ritual eines gewöhnlichen Tages, und das Bestaunen selbst wird wie die „erdverhaftete“ Sinnlichkeit zum glückhaften Augenblick. Tiere, verschiedene Arten von Vögeln, das Land und das Wetter, Gewächse und viele Sorten von Blumen finden seine wache Aufmerksamkeit. Michael Hamburgers Kunst ist es, das flüchtig Gesehene zu bebildern, Verborgenes wird ganz unmittelbar entdeckt, die Gedichte wirken mit ihrer Nähe zum Dunklen und Tiefgründigen, zum Tod und zur Vergänglichkeit wahrhaftig.

Schwäne im Winter

Ist ihre lange Zeit als Paar zu Ende gegangen? Getrennt auf Weiden,
Weniger durch unsren Wassergraben als durch selbstgewählten
Abstand,
Gelassenheit, die in unsern Augen Gleichgültigkeit scheint:
Während sie, nicht zusammenkauernd, an niedrigen Kräutern und
Gräsern picken,
Wogt der langsame Hals, als könnte kein Reißzahn, kein Wetter
Auch nur die Seide kräuseln, die er trägt.
Für sie ist das Land eins, den ganzen Lauf des Bächleins entlang;
Fließen, allein beständig, wenn auch jetzt zu schnell,
Angeschwollen durch starke Regenfälle, um ihnen Nahrung zu geben.
Doch müssen ihre Hälse einander nicht begegnen,
Noch Blicke sich treffen, so fest sind sie gepaart.

Aus dem Englischen von Gerhard Falkner

Mit einer grundsätzlichen Frage beginnt dieses Gedicht. Woher kommt der Zweifel, gerade während der kalten Jahreszeit eine gefestigte Bindung in Frage zu stellen? Der angekündigte „Winter“ wird hier weniger als Jahreszeit, sondern eher als innere Verfassung geschildert. Aber ist der „selbstgewählte Abstand“ der beiden Schwäne als Zweifel an ihrer Bindung zu verstehen? Selbstbestimmung: Spielraum der Freiheit; oder sagt die menschliche Moral etwas anderes. Während die „Gelassenheit“, mit der sich jedes der beiden Tiere selbständig ernährt, beim Beobachter angenehme Assoziationen hervorruft, evoziert der Begriff „Gleichgültigkeit“ negative Vorstellungen. Stolz und erhaben wirkt der einzelne Schwan mit seinem langen, weich schimmernden, zierlichen Hals, als würde er mit aller Ruhe und Langsamkeit plötzlichen Bedrohungen trotzen. Allmählich erkennt der Betrachter mit Bewunderung die gelassene Ruhe der beiden Schwäne trotz ihrer äußerlichen Trennung. So leicht vermutet er deren Empfinden, so sorglos und frei im Einklang mit den Gegebenheiten der Natur. Die eigene Wahrnehmung jedoch bleibt subjektiv und an das Ich gebunden. Sie regt dazu an, Erahntes zu formulieren und geistige Parallelen zu finden. Wie erleichternd ist es, am Beispiel der Schwäne zu erkennen, daß die Gewißheit der Nähe des anderen weit hinausreicht – voller Vertrauen.

Michael Hamburger:
Unterhaltung mit der Muse des Alters
Gedichte
Hanser Verlag 2004 (geb., 191 S, EUR 16,90)

4. Februar 2009 21:07










Nikolai Vogel

Nacht und die Stunden der Lektüre

Die Müdigkeit hat sich schlafen gelegt. Die Worte kommen heraus, besehen sich die Welt, fragen nach der Meinung.

4. Februar 2009 12:10










Gerald Koll

Aus dem Kakaofilmparadies

Weiß und braun sind die Farben des Paradieses. Wie weicher Kakao mit einem Turban aus Sahne sieht es aus, und es schmeckt nach gutem Film aus einem Spitzenjahrgang.
In Berlin wird es wahr, das Paradies, in Berlin, der Staubstadt und Zeitfressmaschine, im Mundgeruch-Moloch, in dem am Tag die Löffel zum Takt des Mischmaschinenmotors im Kaffeeglas klingeln. Doch es ist Nacht geworden und warm wie Kakao. In Regalen stapelt sich die Zeit, man kann sie zupfen: Frankreich 1973.

Ein blasser Gott regiert das Reich der Zeit, das Negative-Land heißt. Er schweigt, fragt man nach Bdelliumharz und Karneolsteinen. Will man aber „La Maman et la Putain“ von Jean Eustache, in dem in Schwarz und Weiß die Liebe und das Leben einander müde reden, bis Jean-Pierre Léaud um Gnade winselt, weiß der Gott aus seinem Kopf, dass auf dem Band die ersten vierzig Sekunden fehlen, zugegeben: fünfzig.
Treibt dich draußen der Pischon nach Osten, wird es wieder warm und braun und weiß, cremig weiße Stühle stehen da, Kakao liegt matt in Glas und Becher, Kakao gestreut auf Brot, kakaobraun ist die Haut schöner Schultern aus Paris.
Am schönsten an diesen Pariserinnen ist, dass sie kein französisch können, sie führen stummen Dialog mit dem Ambiente. In Paradiesen fehlt der Reiz, hier jedoch geht ein Schamane ein und aus, mit Sofakissen auf dem Kopf, er spricht besetzte Tische an, singt für sie Lieder, ist Schlangenbeschwörer und farbiger Klecks.

Im kakaobraunweißen Paradies bestellt ein Mann der Frau und sich je einen Cuba Libre. Schon geht die Nacht zur Neige. Der Wirt ist höflich, er gewährt die letzte Runde. Es wird halb drei. Die entzückende Bedienung zückt das Portemonnaie. Hat es geschmeckt?
Höflichkeitshalber bemerkt der Mann, die Ehrlichkeit gebiete das Geständnis, sein Cuba Libre habe nicht geschmeckt.
Höflichkeitshalber sagt die Bedienung, es läge vielleicht an der ungewöhnlichen Cola. Ja, diese Cola ändere wohl den Geschmack.
Höflichkeitshalber sagt der Mann, nein, die Cola sei bestens, wirklich, es läge vielmehr an dem Rum, ja, es sei der falsche Rum gewesen, nur als Hinweis.
Höflichkeitshalber flankiert die Frau des Mannes, es sei ja so, dass der Cuba Libre mit sechs Euro auch nicht eben billig sei.
Höflichkeitshalber sagt die Bedienung, es sei vielleicht ein anderer, sicherlich nicht ein schlechterer Rum verwendet worden, und die Zubereitung sei mit diesem wie mit jenem Rum die gleiche.
Höflichkeitshalber ergänzt die Frau es Mannes, sie hätten drüben in der Bar, gleich schräg dort gegenüber, soeben einen billigeren und, nichts für ungut, besseren Cuba Libre getrunken.
Höflichkeitshalber fragt der Wirt, was es mit dem Rum denn auf sich habe. „Havanna Club“ gehöre in den Cuba Libre, sagt der Mann und fragt höflich, welcher Rum sich denn in diesem sogenannten Cuba Libre befunden hätte. Havanna Club? Der Wirt, er lacht. Seine Marke, wehrt er höflich ab, würde ihm, dem Mann, sicher nicht viel sagen.
An dieser Stelle, eigentlich zu spät, hört die Höflichkeit auf, Worte plumpsen wie weiche Äpfel. Ins laue Blau der Dämmerung schwanken die Vertriebenen.

3. Februar 2009 21:15










Thorsten Krämer

Full springtime in Chattanooga, Tennessee

Hinterm Haus spielen die Kinder, streiten sich
schreiend vor der brüchigen Mauer, in jeder
Hand ein Spielzeugauto. Im Umkreis

des Hauses verwischen die Grenzen zwischen
den Grundstücken, geflickte Zäune
schrecken hier niemanden ab. Die Kinder

schleudern ein Auto durch ein Loch in der
Mauer, und sofort, ohne zu zögern, setzt das
Kleinste sich in Bewegung.

3. Februar 2009 10:19










Fernando Offermann

Meinekestraße

Jepsen wollte immer so sterben, und gestern ist es einer noch unbekannten Frau tatsächlich passiert. Oder vorgestern. Stehst auf der Straße und wirst erschossen, aus einem um die Ecke biegenden Wagen heraus. Täter unbekannt, Zeugen haben nichts gesehen, ging so schnell. Jepsen hatte sich eine Maschinengewehrsalve gewünscht, doch wer weiß, ob es die überhaupt noch gibt oder sind das jetzt automatische Handfeuerwaffen?

Auf der Straße ist Opa Scheel havariert, mitten im Berufsverkehr, Joachimsthaler Ecke Kant. Handkrampf im Rollstuhl mit neunzig, aber er dachte ganz bestimmt nicht an Autos, nur an die Meinekestraße. Stand eine Weile auf dem Asphalt und quakte mit Spasmen, Leute zückten Telefone, und bevor jemand kam, waren wir schon unterwegs zur Pension Lutz. Opa Scheel erzählt von der Schwester, bei der wir klingeln müssen, sie rasiere ihn sogar, und zwischendurch heult er frohblöd auf, wenn wir mit dem Rollstuhl auf dem Kudamm die Passanten abdrängeln und sie zur Achtsamkeit nötigen, wie auf der Autobahn mit Dauerlinksblinker. Jepsen hätte es geliebt. Opa Scheel quiekt auf, die Passanten misstrauisch, doch dann sehen sie uns, und er beschimpft die träge Masse, die umhertreibt und keinen Platz macht, endlich Platz macht, weil wir doch durch wollen, durch zur Pension.

Auf offener Straße erschossen, mit 23 Jahren. Tags drauf rammt einer dem Türsteher ein Messer in die Leber und rennt in den Tiergarten, andere hinterher, sticht der Kerl die anderen im Park auch noch ab. Dann wird er geschnappt. Aus Spandau. Pension Lutz sagt danke, bei Opa Scheel vertschüßen, zurück in den Verkehr.

 
meinekestrasse

3. Februar 2009 06:21