Julia Trompeter
Immer bei Regen ziehen Schwaden von Zigarre
vom Innenhof hinauf zu mir und den Meinen,
die mir nicht gehören, und vernebeln unsere Luft,
die wir abwechselnd ein- und ausatmen, ein und aus, und ich frage mich:
Wer im Hinterhaus raucht hier Zigarre?
Das lesbische Paar mit den winzigen Töchtern, die nie schlafen, ist es nicht
Der Geiger mit der Armprothese, der unendlich üben kann, ist es nicht
Die verräterische Oma mit dem Veilchenparfum ist es nicht
Die Stadtreinigung ist es nicht
Auch Bob Dylan ist es wahrscheinlich nicht
Bleibt noch der Hofhund wider Willen
Bleibe noch ich, vor Jahren
Bleibt noch
x
6. Juni 2019 19:52
Christine Kappe
Regenschirm, Taschenlampe, Taschenmesser
Landkarte nicht vergessen
An der Trampe wartet schon
die Dunkelheit auf mich
Gleich das erste Auto hält
Zwei junge Typen, kaum älter als ich
Sie fahren wie die Henker
Und nur bis zum nächsten Dorf
Aber dann habe ich schonmal ein Stück geschafft
Hätten wir bloß nicht meine Cousine überholt
Sie wird mich verpetzen
Aber erst nach der Tagesschau
(work in progress: Kindheitsgedichte)
6. Juni 2019 09:25
Hans Thill
DAS NÄCHSTE DORF so dahingesagt und dann wieder weggequatscht. Hat man es verstanden, ist es ein Wald vor lauter Bäumen oder eine Liebe, die mit ihrem Tüchlein in der Lichtung steht. Das Dorf der Tiere? Anderswo. Frag einmal Marie Laurencin mit dem Blauen Denim aus Nîmes. Frag einmal die Hutfrauen, eine nach der anderen, ob ihnen die Obacht schwer fällt.
4. Juni 2019 09:47
Christian Lorenz Müller
Einheitlich marschieren sie
morgens hinaus auf die Felder,
alle in Gummistiefeln
und mit der Hacke über der Schulter,
der wirkungsvollsten Waffe
gegen das Unkraut seit Jahrhunderten.
Gewinkeltes Bajonett,
fährt sie blitzend in die Erde.
Bald werden Karotten und Rote Rüben
auf den Beeten exerzieren,
werden Erdäpfel stramm in Reihe stehen
während weit im Osten
der Spelz der Patronenhülsen
auf dem Boden liegt,
sich die leeren Schalen der Granaten
wie ausgehöhlte Kürbisse
neben den Geschützen stapeln.
Wer dort zur Hacke, zum Spaten greift,
sät mit den Minen Tod und Verderben
oder gräbt eine notdürftige Stellung,
Ackerfurche der Angst
in schwarzer, fruchtbarer Erde.
30. Mai 2019 12:24
Hans Thill
DAS NÄCHSTE DORF trocken wie Reis, bevor ihn die Mäuse fressen. Dicht an dicht bei den Säcken die Sicherheitsleute, im Ohr einen Knopf, die Fäuste in die Hüften gedrückt. Dahinter zählte man das Geld und stopfte die Patronen. Die aufrechten Männer, schwarz und muskulös wie Traktoren. Im Zwischenraum ein lockiges Wesen, das keiner bewachte. Mariezibill hätte anders ausgesehen. Man glaubte ihr Bild auf den Banknoten zu sehen, aber das war schon so verschwommen. Das Reisig band man zu Besen, denn plötzlich regnete es Rost. Oben in den Alpen, oben in den Alpen.
29. Mai 2019 17:03
Gerald Koll
… geben um eine halbe Stunde nach zehn Uhr Spielmannszüge des schleswig-holsteinischen Landes auf der „Frahmkoppel“ genannten Anlage des Gettorfer Kleingartenvereins ein Platzkonzert zu Ehren des hundertjährigen Bestehens des Gettorfer Turnvereins. Sternmarsch! Er mündet auf dem Schulhof der im Park befindlichen Grundschule und eskaliert in einem Großkonzert.
27. Mai 2019 08:19
Tobias Schoofs
sie ruft an
der cafébesitzer gibt ein bier aus
der nachrichtensprecher meldet
prince und david bowie seien nicht tot
da liegt ein brief auf dem tisch
von meinem ebenfalls unverstorbenen vater
er habe es nicht mehr ausgehalten sagt er
da (also hier) im absurden europa
dieser schrecklichste aller innenminister
tritt endlich zurück – einfach so
ich höre auf zu rauchen
ich sage nein danke zum bier
das der cafébesitzer mir hinstellt
das telefon klingelt
17. Mai 2019 14:24
Andreas H. Drescher
Die Befriedigung, die ihm das Knacken der trockenen Zweige und Tannenzapfen unter den Füßen verschafft. Der Blick durch die Lichtmulden in den Baumkronen. Von Helligkeit aufgelöst selbst die Vögel in den Zweigen. Nur ihr Gesang übrig. Wechselnde Töne. Das setzt noch einen Raum in den Raum. Dann wieder ein Knacken, grundlos scheinbar, zwischen den Stämmen. Schließlich die winzige, lichtgelbe Raupe vor ihm. Sie windet sich, spinnt ihren Faden. Unsichtbar, sichtbar, unsichtbar. Lange steht er da und sieht das an…WEITERHÖREN
15. Mai 2019 06:20
Andreas Louis Seyerlein
Wenn ich das Wort Schreibmaschine höre, denke ich an Lebewesen meiner Kindheit, an Kreaturen mit Walze und Tasten, die merkwürdige Geräusche erzeugten, sobald man sie bewegte. Was waren das damals doch für Ungetüme, Knöpfe auf Stelzen so groß, dass sie von meinen kleinen Fingern kaum bewegt werden konnten. Hoch oben auf einem Tischchen ruhte die Schreibmaschine, manchmal war sie verborgen unter einer Haube, dann wieder klapperte sie. Mutter saß am Tisch und tippte vor sich hin. Von Zeit zu Zeit setzte sie mich auf ihren Schoß und ich sah ihren Fingern zu, wie sie sich bewegten, indessen Mutter mit mir sprach oder dem Radio zuhörte. Ich glaubte manchmal in den Bewegungen ihrer Hände, etwas Freies, Unabhängiges zu sehen, als wären die Hände meiner Mutter eigensinnige Lebewesen. Wie nur nennt man diese Verrücktheit, dass einer gern Bücher auf einer Schreibmaschine tippt, anstatt sie zunächst nur zu lesen, wie einen, der nur lesen kann, was er auch schreibt mit den Händen? — stop
> particles
13. Mai 2019 20:53