Gerald Koll
WakuWaku! (1/3)
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Reisehund in Berlin (Berurin no Ryokô-Inu). Band 12 der Reihe „werke: kunst und poesie“. Herausgegeben von Gerhard Reinert und Hedda Wilms. Berlin 2018.
Bild und Text: GUP-py. (Lektorat: G.K.)
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Reisehund in Berlin (Berurin no Ryokô-Inu). Band 12 der Reihe „werke: kunst und poesie“. Herausgegeben von Gerhard Reinert und Hedda Wilms. Berlin 2018.
Bild und Text: GUP-py. (Lektorat: G.K.)
ich kann nur sinn verarbeiten und was
kein sinn sein will das fass ich an und
schwupp hat’s einen namen und die per
sonen um mich herum meinetwegen
an der bushaltestelle sind das personen?
und wenn es personen sind was sind dann
personen? der nahverkehr kommt immer
zu kurz. ich könnte mich auch nackt aus
ziehen ich wär immer noch sinn und wozu
lohnt es sich den mund aufzumachen es
bleibt ja alles beim alten dieselbe tanz
veranstaltung von der man kommt und
nach hause fährt und sich ins bett legt
und schläft und der wecker klingelt und
eine person hat sinn gekocht mit der sinn
maschine und an sinn hat man sich die
zunge verbrannt und man könnte auf
den fernverkehr umsteigen den rhein
überqueren und hinter dem rhein
ist immer noch ein rhein der
rhein ist mein horizont
Wann biedermeiert
mich denn wieder ein Dichter
butzenscheibenrund?
Selbst die effizienteste
wassersparendste Amatur
täuscht nicht
über das über-
dimensionierte, marode Leitungssystem hinweg, dessen Vibrationen unweit zu spüren sind
Vibrationen
ausgelöst durch Legionen von Mikroorganismen, die sich an den Decken der Röhren sammeln
die das Wasser
nun nie mehr erreicht
Dort trommeln sie mit dem längsten Finger ihrer Hand
wie vermutet wird um Beutetiere anzulocken
Aber das ist nur eine Ausrede der Mächtigen
mit ihrem Punktesystem
zur Vergabe von Sozial- und Bioorden
mir
kribbelt es unter den Füßen
während ich hier stehe und rauche, um mich zu beruhigen
aber ich weiß, – denn ich kann ja da hineingucken – sie (und damit meine ich diese
flinken
flügellosen
lichtscheuen
die es unvorstellbar länger auf der Welt gibt als uns
werden eines Tages alles sprengen, und wenn nicht von dort unten, dann aus unserem Innern
Wieder irgend so ein Dinosaurier
der auf Stahlbetonbeinen
durch das Grätzl stampft.
Gänge, durch die sich Kabeltrassen
wie Wirbelkanäle ziehen.
Du bringst kilometerlange Steuerleitungen ein:
Immer diese orangen Nervenbahnen in der Hand,
an denen bald schon die Computer
hängen werden, die Telefone –
alles, was den Dinosaurier
so in die Welt hinausschnuppern lässt.
Wochenlang verbuchst du diese Leitungen
in den Büros, rennst jeden Tag
gegen Wände und Türen aus Glas,
überall Zellenwände aus Glas,
und am Ende des Monats fragst du dich
ob du tatsächlich noch ein Mensch bist
oder eher ein Neurotransmitter
der zwischen den Gängen, den Stockwerken hampelt
und dann stellst du dir vor
wie sie hier schon im nächsten Jahr
hinter ihren Schreibtischen sitzen werden,
Mitochondrien, die eine Winzigkeit
Energie produzieren, stellst dir vor,
wie sie aus dem 14. Stock
über das Stadtpanorama blicken
und sich wichtig fühlen, cool
oder vielleicht sogar erhaben
weil sie nicht wissen, dass sie sich nur
im Hals eines Brontosauriers befinden,
eines Brontosauriers von hunderttausend Brontosauriern,
in einer von zehntausenden von Städten;
in einem Hals, der in einen spitzen Kopf ausläuft
der die Wolken vom Himmel frisst
oder gleich die Sonne.
Und all diese Saurier
liegen an einer Glasfaserleine,
dünn wie ein Haar.
Du hast sie gesehen,
unten im Serverkeller, du weißt:
Ein Schnitt mit der Nagelschere
und der Saurier verliert seine Sinne,
die Fahrstühle bleiben ihm im Halse stecken
und die Menschen-Mitochondrien
gehen binnen Stunden zugrunde
weil das Notstrom-Aggregat
keinen Diesel mehr bekommt.
Zu groß, wird man später sagen,
wenn die Überlebenden des Meteoriteneinschlags
wieder in Hütten und in Höhlen hausen,
zu groß und nicht anpassungsfähig genug,
und man wird den ungläubigen Kindern
ein Stück Steuerkabel zeigen
oder einen Computer,
der längst nicht mehr läuft.
Für Michael B.
8. Oktober 2018 09:1220.32 UTC – Jenes einsame Nadelblattgewächs in der Form der Pinienbäume unweit der Ponte agli Incurabili könnte Joseph Brodsky bei Regen noch beschirmen. Von dort soll der Dichter gern über den Kanal nach Giudecca geschaut haben. Ich erwartete eine Bank von Stein oder Holz, vergeblich. Vielleicht wird Joseph Brodsky sich zur Beobachtung des Wassers einen Klappstuhl mitgenommen haben oder liess die Beine von der Quaimauer baumeln, sie werden vermutlich bald nass geworden sein. Wenn ich nur lange genug nach Westen schaue zu den Hafenanlagen hin, kann ich Joseph Brodsky sitzen sehen, wie er sich mit den Wellen des Meeres unterhält, ihre Bewegung erforscht. Und wie sich in diesem Augenblick, es ist kurz nach 8 Uhr, ein braunrosafarbener Elefantenrüssel aus dem Wasser erhebt, wie er bebend die Luft sondiert, wie er sich dem Dichter nähert, als wäre er noch immer dort, Fondamenta degli Incurabili. Wie gern würde ich mit Joseph Brodsky gesprochen haben über die Stadt Mariupol. – stop
16.58 UTC – Von der Wasserbusstation Redentore aus ist heute das Schwesterchen Zitelle nicht zu hören, nicht wenn man ein Mensch ist, nicht wenn man mittels gewöhnlicher Ohren die Luft betastet. Es ist warm und feucht über dem Kanal vor Giudecca, ein leichter Wind weht von Ost. Es ist vielleicht deshalb so still, wo es doch nicht wirklich still sein kann, weil die Luft langsam westwärts fließt. Wenn man sich nun aber auf der Stelle in die Tiefe begeben würde, ein Fisch werden, ein Fisch sein, wenn man ins Wasser tauchte, könnte man Zitelle ganz sicher weithin singen hören, ihr Pfeifen und Zetern tagein und tagaus, dass es eine wahre Freude ist, wie sie immer wieder kurz innehält, um zu lauschen, ob ihr jemand antwortet vielleicht von Palanca her oder von den Giardini – Zwillingen, die sich immer wieder einmal melden, sobald die See stürmisch geworden ist. Es heißt, dieses Singen, Zetern, Jaulen der Wasserbusstationen sei weit ins offene Meer hinaus zu hören. Kein Wunder demzufolge, kein Wunder, dass sie sich aus der Tiefe kommend nähern. – stop
4. Oktober 2018 11:10Am 18. August 1984 kam Michael Jackson nach M.D.
das ist ein kleines Dorf am Rande des Sollings
mit gerade mal 2000 Einwohnern
Jackson war kleiner als ich, hatte sich
einzelne Ponysträhnen im Gesicht festgeklebt
damit sie nicht verrutschten und
schwitzte die ganze Zeit in einer braunen Lederjacke
Keiner traute sich ihn anzusprechen
noch nichteinmal für ein Autogramm
Um 9 Uhr abends gingen die meisten Leute ins Bett
weil sie bereits um 4 Uhr morgens
die Tiere versorgen mussten
Ich hatte noch Hausaufgaben zu machen
Aber mit der Michael-Jackson-Federmappe
und dem Michael-Jackson-Block von meiner
Cousine kam ich mir blöd vor
So warteten ich, bis er wieder wegwar
Er sprach übrigens die ganze Zeit kein Wort
Den Opel eines Mitschülers hatte er
in Ocholt gegen einen Poller gesetzt,
keinen Muckser mehr tat der Rekord,
und ein Dichter kannte sich nicht gut
mit Autos aus, so wenig wie in Ocholt,
aber am Bahnhof sah er, die Schmal-
spurbahn fuhr zu der Stadt, wo Hardy
Frerichs wohnte, Westerstede, Brink-
mann war dort die ganzen Jahre nie
gewesen, jetzt sah er auch, weshalb,
die Gleise, die Lok, die Waggons, so
grotesk, am besten wegrennen, weg,
aber das hätte Hardys Kutsche kaum
heilgemacht, außerdem hatte er Kohl-
dampf, zuletzt ja am Morgen in Vechta
ein Schinkenbrot auf die Hand gehabt,
er dachte an die Küche, das Licht und
den Güllegeruch seiner Jugend, Gülle
for ever, o Jesus, zum Glück bald over
and out, er würde Essener sein, dachte
Rolf Dieter Brinkmann, als der lachhafte
Zug ihn durch Westerstede gondelte und
er dieselben stillen Straßen an dem Sonn-
tagmittag sah und dieselben paar people
wie im Schweinezüchterparadies Vechta.
Standen im Nieseln da und sahen ihn an.
Gespenst aus dem Dampf enger Träume.
*
26. September 2018 17:00Rund um die U-Bahn-Station
ein lärmendes Geläute
aus Dirndlröcken.
Angetrunkene in Lederhosen
ziehen an den Schürzenbändern,
klingeln Flaschenklöppel aneinander.
Der Gottesdienst beginnt in wenigen Minuten.
Schon sinken die ersten auf die Knie,
beugen, biergläubig, ihr Haupt.
Sie stehen wieder auf, schwanken weiter,
der Gegenwart eines Gottes zu,
dreieinig aus Gerste, Hopfen, Malz.
In tausenden irdener Monstranzen
wird er immer wieder in die Luft gehalten,
höher noch und höher.
Im Rausch, dem Allmächtigen,
wird jede Seele gesund –
Geheimnis des Saufens, das ein Nüchterner
nicht zu verstehen vermag.