Christian Lorenz Müller
MONOLOG EINES ELEKTRIKERS
Wieder irgend so ein Dinosaurier
der auf Stahlbetonbeinen
durch das Grätzl stampft.
Gänge, durch die sich Kabeltrassen
wie Wirbelkanäle ziehen.
Du bringst kilometerlange Steuerleitungen ein:
Immer diese orangen Nervenbahnen in der Hand,
an denen bald schon die Computer
hängen werden, die Telefone –
alles, was den Dinosaurier
so in die Welt hinausschnuppern lässt.
Wochenlang verbuchst du diese Leitungen
in den Büros, rennst jeden Tag
gegen Wände und Türen aus Glas,
überall Zellenwände aus Glas,
und am Ende des Monats fragst du dich
ob du tatsächlich noch ein Mensch bist
oder eher ein Neurotransmitter
der zwischen den Gängen, den Stockwerken hampelt
und dann stellst du dir vor
wie sie hier schon im nächsten Jahr
hinter ihren Schreibtischen sitzen werden,
Mitochondrien, die eine Winzigkeit
Energie produzieren, stellst dir vor,
wie sie aus dem 14. Stock
über das Stadtpanorama blicken
und sich wichtig fühlen, cool
oder vielleicht sogar erhaben
weil sie nicht wissen, dass sie sich nur
im Hals eines Brontosauriers befinden,
eines Brontosauriers von hunderttausend Brontosauriern,
in einer von zehntausenden von Städten;
in einem Hals, der in einen spitzen Kopf ausläuft
der die Wolken vom Himmel frisst
oder gleich die Sonne.
Und all diese Saurier
liegen an einer Glasfaserleine,
dünn wie ein Haar.
Du hast sie gesehen,
unten im Serverkeller, du weißt:
Ein Schnitt mit der Nagelschere
und der Saurier verliert seine Sinne,
die Fahrstühle bleiben ihm im Halse stecken
und die Menschen-Mitochondrien
gehen binnen Stunden zugrunde
weil das Notstrom-Aggregat
keinen Diesel mehr bekommt.
Zu groß, wird man später sagen,
wenn die Überlebenden des Meteoriteneinschlags
wieder in Hütten und in Höhlen hausen,
zu groß und nicht anpassungsfähig genug,
und man wird den ungläubigen Kindern
ein Stück Steuerkabel zeigen
oder einen Computer,
der längst nicht mehr läuft.
Für Michael B.
8. Oktober 2018 09:12Andreas Louis Seyerlein
~
20.32 UTC – Jenes einsame Nadelblattgewächs in der Form der Pinienbäume unweit der Ponte agli Incurabili könnte Joseph Brodsky bei Regen noch beschirmen. Von dort soll der Dichter gern über den Kanal nach Giudecca geschaut haben. Ich erwartete eine Bank von Stein oder Holz, vergeblich. Vielleicht wird Joseph Brodsky sich zur Beobachtung des Wassers einen Klappstuhl mitgenommen haben oder liess die Beine von der Quaimauer baumeln, sie werden vermutlich bald nass geworden sein. Wenn ich nur lange genug nach Westen schaue zu den Hafenanlagen hin, kann ich Joseph Brodsky sitzen sehen, wie er sich mit den Wellen des Meeres unterhält, ihre Bewegung erforscht. Und wie sich in diesem Augenblick, es ist kurz nach 8 Uhr, ein braunrosafarbener Elefantenrüssel aus dem Wasser erhebt, wie er bebend die Luft sondiert, wie er sich dem Dichter nähert, als wäre er noch immer dort, Fondamenta degli Incurabili. Wie gern würde ich mit Joseph Brodsky gesprochen haben über die Stadt Mariupol. – stop
16.58 UTC – Von der Wasserbusstation Redentore aus ist heute das Schwesterchen Zitelle nicht zu hören, nicht wenn man ein Mensch ist, nicht wenn man mittels gewöhnlicher Ohren die Luft betastet. Es ist warm und feucht über dem Kanal vor Giudecca, ein leichter Wind weht von Ost. Es ist vielleicht deshalb so still, wo es doch nicht wirklich still sein kann, weil die Luft langsam westwärts fließt. Wenn man sich nun aber auf der Stelle in die Tiefe begeben würde, ein Fisch werden, ein Fisch sein, wenn man ins Wasser tauchte, könnte man Zitelle ganz sicher weithin singen hören, ihr Pfeifen und Zetern tagein und tagaus, dass es eine wahre Freude ist, wie sie immer wieder kurz innehält, um zu lauschen, ob ihr jemand antwortet vielleicht von Palanca her oder von den Giardini – Zwillingen, die sich immer wieder einmal melden, sobald die See stürmisch geworden ist. Es heißt, dieses Singen, Zetern, Jaulen der Wasserbusstationen sei weit ins offene Meer hinaus zu hören. Kein Wunder demzufolge, kein Wunder, dass sie sich aus der Tiefe kommend nähern. – stop
4. Oktober 2018 11:10Christine Kappe
Jackson in M.D.
Am 18. August 1984 kam Michael Jackson nach M.D.
das ist ein kleines Dorf am Rande des Sollings
mit gerade mal 2000 Einwohnern
Jackson war kleiner als ich, hatte sich
einzelne Ponysträhnen im Gesicht festgeklebt
damit sie nicht verrutschten und
schwitzte die ganze Zeit in einer braunen Lederjacke
Keiner traute sich ihn anzusprechen
noch nichteinmal für ein Autogramm
Um 9 Uhr abends gingen die meisten Leute ins Bett
weil sie bereits um 4 Uhr morgens
die Tiere versorgen mussten
Ich hatte noch Hausaufgaben zu machen
Aber mit der Michael-Jackson-Federmappe
und dem Michael-Jackson-Block von meiner
Cousine kam ich mir blöd vor
So warteten ich, bis er wieder wegwar
Er sprach übrigens die ganze Zeit kein Wort
Mirko Bonné
Brinkmann in Westerstede
Den Opel eines Mitschülers hatte er
in Ocholt gegen einen Poller gesetzt,
keinen Muckser mehr tat der Rekord,
und ein Dichter kannte sich nicht gut
mit Autos aus, so wenig wie in Ocholt,
aber am Bahnhof sah er, die Schmal-
spurbahn fuhr zu der Stadt, wo Hardy
Frerichs wohnte, Westerstede, Brink-
mann war dort die ganzen Jahre nie
gewesen, jetzt sah er auch, weshalb,
die Gleise, die Lok, die Waggons, so
grotesk, am besten wegrennen, weg,
aber das hätte Hardys Kutsche kaum
heilgemacht, außerdem hatte er Kohl-
dampf, zuletzt ja am Morgen in Vechta
ein Schinkenbrot auf die Hand gehabt,
er dachte an die Küche, das Licht und
den Güllegeruch seiner Jugend, Gülle
for ever, o Jesus, zum Glück bald over
and out, er würde Essener sein, dachte
Rolf Dieter Brinkmann, als der lachhafte
Zug ihn durch Westerstede gondelte und
er dieselben stillen Straßen an dem Sonn-
tagmittag sah und dieselben paar people
wie im Schweinezüchterparadies Vechta.
Standen im Nieseln da und sahen ihn an.
Gespenst aus dem Dampf enger Träume.
*
26. September 2018 17:00Christian Lorenz Müller
GEHEIMNIS DES SAUFENS (München, Theresienwiese)
Rund um die U-Bahn-Station
ein lärmendes Geläute
aus Dirndlröcken.
Angetrunkene in Lederhosen
ziehen an den Schürzenbändern,
klingeln Flaschenklöppel aneinander.
Der Gottesdienst beginnt in wenigen Minuten.
Schon sinken die ersten auf die Knie,
beugen, biergläubig, ihr Haupt.
Sie stehen wieder auf, schwanken weiter,
der Gegenwart eines Gottes zu,
dreieinig aus Gerste, Hopfen, Malz.
In tausenden irdener Monstranzen
wird er immer wieder in die Luft gehalten,
höher noch und höher.
Im Rausch, dem Allmächtigen,
wird jede Seele gesund –
Geheimnis des Saufens, das ein Nüchterner
nicht zu verstehen vermag.
Björn Kiehne
Mondscheinallee
Am Ende der Straße
liegt das Café,
der Abend ruht sich
auf der Markise aus,
ein müder Wind
weht Blätter hinein,
Briefe aus der Vergangenheit.
„Wo wir sind, ist immer Sommer“,
flüsterst du und lächelst;
„Wo wir sind…“, beginne ich
und schweige,
als der Vorhang der Nacht
sich senkt und,
aus dem Faltenwurf
seiner Stille,
der Mond aufsteigt,
mildes Licht über
die Erinnerungen gießt,
über uns, über das Café,
über all die Jahre in
der Mondscheinallee.
Für Connie
23. September 2018 12:58Hans Thill
Der Simplon sagt
die Vögel frieren nicht
sie haben Beine, dünn
wie Streichhölzer
Die Streichhölzer frieren nicht
sie setzen ein Ölfaß
in Brand
Das Ölfaß friert nicht
es ist der verstorbene Faun
aus verstorbenen Meeren
Christine Kappe
«Ich wollt, ich wäre gründlicher gestorben»
Erst recht, wenn es regnet und aus dem Nachbarhaus die nichtendenwollenden Klänge einer Party
wie wir sie früher gefeiert haben. Schlaflos
Aber ohne dass es uns störte. Endlos geraucht, endlos getrunken und nie das gesagt, was wir eigentlich sagen wollten
Nur um etwas, aufrecht zu halten, was damals vor und jetzt hinter uns, lag. Das war
Wie mit den Figuren auf den Häuserdächern: Zwischen ihnen und mir tobte der Schneesturm, aber auf dem Foto sah man ihn nicht mehr
Oder die Frau mit dem verwehten Haar: Sie dominierte das Straßenbild und nun verschmolz sie mit dem grauen Häusermeer, wie
Russ. Konzeptionalismus, weiß auf weißem Papier
Kajetsja, ani tschastlivy
Freie Übersetzung: Mir schien, sie waren glücklich
Andreas H. Drescher
JESUS AVATARUS, BUDDHAN HINGEKLATSCHT
I.
Ich wollte wirklich, ich wäre gründlicher gestorben. Nicht so gemischt, nicht kerzengrade wie ein Embryo, gemütvoller vor allem, seliger beschaffen. Hinterdrein sogar noch hätte sich das ausgewirkt. Richtig fortgegangen, würden mir die Dämonen hierzuoberst nicht mehr so papieren rascheln und mir Angst einflößen, wie es sich gehört. Doch wer stirbt schon beim Auspacken des Butterbrots! Kein Stockwerk, keine Treppe, nicht mal ein wenig Bohnerwachs: einfach nach vorn gekippt auf die dick bestrichne Seite und dann ausvorbei und Amen.
II.
Wieder versammeln sich meine papierenen Dämonen. Unbestimmt und leise grinsend wie mein mobbigster Kollege, der sich sicher war, ich schlafe einfach ein über dem Butterbrot und murmle: „Seht euch nur an, wie er den Heringskopf auf seine Stulle buttert!“ So kollegial sind jetzt meine alpinsten Alpe. Nicht einmal zu Beelzebub habe ich´s gebracht. Bescheiden, dieser Tod, wirklich! Sehr bescheiden! Keine Klasse, ohne Wissen… Dem Allerhaarigsten nicht mal in vitro widersprochen. Bloß beleidigt, aber nicht mal fachgemäß gequält.
III.
Blamabel ist das, derart schmählich unpurgiert, dass kaum mein kleiner Finger davon weiß. Knister, knister! Ohne jedes Aufsehn weggestorben. In diesen ewig blauen Montag hinein. Ich weiß noch immer nicht, wie´s dazu kommen konnte. Das insultierende Papier um mich herum nennt mich inzwischen einen „Simulanten“ dieses Wochentags. Als könne ich etwas dafür, dass ich nicht an einem Freitag gestorben sei, am besten nach der Feierabendglocke oder in der Straßenbahn. Dabei dachte ich schon, ich hätte mit der Mittagspause mein Bestes getan.
IV.
Einmal wirklich geplagt sein und nicht bloß belästigt! Einmal die Ruten, Spieße und das Eis des neunten Kreises nicht bloß aus Papier! Immer wieder versuche ich es. Aber sie sind allzu druckfrisch, diese Kraftakte. Keine Stricke, bloß Marienfäden: Spinnweb. Ungewisse Schmerzen. Das will sagen: gar keine. Himmel, was für eine lahme Unterwelt! Zu sauber, viel zu sauber, wie eine frische Wegwerfwindel. Nein! Derart halbe Sachen sind meine Sache nicht. Immer bloß diese flachen Nervenspiele. Das Inferno beschränkt sich auf die Werkskantine.
V.
Wie also? Sind mein Dämonisches und ich am Ende Freunde? Oder wo rascheln sie so ungeduldig hin? Ein Schein, ein Mein, ein Dein am Bein. Das lacht nicht mal mehr über mich, bei aller Ungeduld. Da sind die Buchstaben – und mehr als vier – die sie mir alle machen. Selbst sie wollen es besser, wollen die ganze Pein statt bloß der Peinlichkeit. Ergo sehe ich mich nach einem Windmacher im Eis mit vier Gesichtern um. Nur er würde mir helfen, vor lauter Schreck den Tod im Tod zu sterben. Aber da ist nur dieser Knick in meinem Butterbrotpapier.
(Für Thorsten)
13. September 2018 09:53