Mirko Bonné

Zum Tod von Liu Xiaobo

In diesen Minuten ist die zweite Schlagzeile der bundesdeutschen Presse: „Liu Xiaobo ist tot“, die erste darüber lautet: „Deutschland und Frankreich wollen gemeinsamen Kampfjet entwickeln“.
Bis zu seinem Krebstod ist der chinesische Autor und Dissident Liu Xiaobo seinen Drangsalierern nicht entkommen, selbst eine Behandlung im Ausland wurde ihm verweigert. Liu hat jedoch noch mit seinem Tod ein Zeichen gesetzt: Das chinesische Regime ist ein verächtliches, dem das Leben und die Ansichten des einzelnen Menschen nicht von geringsten Wert sind.
Der goldene Fisch hat vor einigen Jahren auf seine stille, den Fischen angemessene Weise auf Lius Schicksal und das seiner Frau aufmerksam gemacht. Man kann die Beiträge nachlesen.
Good night, and good luck, Liu Xiaobo.

*

13. Juli 2017 16:03










Karin Fellner

One Look Equals Three-Quarters of a Whisper

Once again, a dark window, a plaque
full of molecular structures and migrating galaxies.

Eureka! Those shy, those rare butterflies,
and how the eyes pan across as they flutter back into the abstruse.

As your bent head teeters on bent hands, the point,
phantomlike, remains as many fathoms deep.

Pulling from below, pulling the mass of the earth on a yarn,
your thinking sways above the physical maps.

What does that tell us, Madame?
Does it let itself be solved, this fourth of the night?

(Poem translated by Zane Johnson, USA, 2017,
who is finishing his Bachelor’s at the University of Colorado Denver and plans on studying in Germany in the coming year through a Fulbright.)

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Einer Einheit Schau entspricht dreiviertel Raunen

Abermals Dunkelfenster, eine Tafel voller
Molekularstrukturen und wandernder Galaxien.

Heureka, die scheuen, die seltenen Dickkopffalter,
wie sie beim Schwenk der Augen zurück ins Abstruse flattern.

So wankt der verbogene Kopf auf den verbogenen Händen,
Schwergewicht, Phantom, wie viele Faden tief.

Von unten da ziehts, da zieht die Erdmasse an einem Garn,
pendelt das Denken aus über physischen Karten.

Was sagt uns das, Madame?
Lässt er sich, meinen Sie, lösen, dieser Dreisatz der Nacht?

(Karin Fellner, 2014)

12. Juli 2017 07:30










Christine Kappe

Neue Schuhe für ein Königreich

Ich wollte mir neue schwarze Schuhe an einem Kiosk kaufen – aber sie hatten nur weiße. Der Verkäufer war besoffen und kam gar nicht erst bis zum Tresen. Der Kiosk befand sich wie die ganze Stadt auf einem Baugerüst. In den Straßen floss Wasser. Der Kiosk war nur Fassade – durch das Verkaufsfenster sah ich ins Meer.
Ich hatte irgendeinen Auftrag zu erfüllen.

10. Juli 2017 21:29










Tobias Schoofs

KÖNIGSHAUS

in schleim der wirkt wie gleitkrem
oder kleber kriecht die zeit nein

nicht die zeit vielmehr was sich
bewegt in ihr der zeit und gleitet
oder klebt mal mehr das eine

mal das andere durcheinander
meist und ordentlich sitzt oben
drauf ein haus das nennt man

königreich und wie die nackten
heißen steht bestimmt im brehm

10. Juli 2017 20:23










Thorsten Krämer

Ein Käfig für ein brennendes Auto

Eine geruchlose Masse, zäh wie Kaugummi, wird in Form gebracht durch einen darin befindlichen Luftballon, dessen langsames Aufblasen vom Abspielen der italienischen Nationalhymne begleitet wird. Nach dem Zerstechen des Ballons wird die verbleibende Öffnung vorsichtig geweitet. Dort hinein gibt man ein methodistisches Gebetbuch, zwei abgebrochene Schlüssel, eine Perücke aus Echthaar, die Gummifüße einer Leiter, fünf gefaltete Adressaufkleber und eine Meerschaumpfeife. Alles gut schütteln und eine Woche stehen lassen. Dann das brennende Auto behutsam einführen.

7. Juli 2017 21:30










Björn Kiehne

Die Mittagsblume

Ich weiß, es ist einfacher,
wenn wir uns nicht
gegen die Wellen wehren –

unsere Worte liegen wie
entfernte Inseln im Dunst,
Ponza, Palmorala, Ventotene;

in der Steinmauer öffnet sich
die Mittagsblume, die Vögel
kommen, um zu schweigen,

und mit der leuchtenden
Tinte des Thyrrenischen Meers
schreiben wir uns Zeilen,

die einander lange schon
kennen, wie, weißt du
noch, erinnerst du dich?

Bis Wind aufkommt, der
Geruch von fallendem Regen
durch unser Gespräch zieht,

die Mittagsblume sich um 
diesen Tag schließt, ihn schützt
vor dem kommenden Sturm.

3. Juli 2017 09:59










Hans Thill

Als die Finger noch Schwerter waren

Alle meine Wörter sind weiblich außer Brad Pitt,
der ein amputierter Fuß von Ibn Al-Farid ist.
Erzähl mir was vom Meer, von seinen Innereien,
vom Doppelgänger des Flusses Jabbok,
der in Edenkoben versandete, freigelegt wurde
und erneut versandete. Erzähl mir was von Al-Nabegha,
seiner Wanduhr! Mein Haus ist eine Mühle aus Glas
und Lavendel, der Zipfel eines Traums einer Rose
direkt vom Berg Quasi, der zur Hälfte aus Saqr (Falke)
und zur Hälfte aus Qasr (Rietburg) besteht.
Mit langen Schritten geht die Dummheit zwischen
Bäumen umher und knetet sich einen Nebel.
Ach, ein Schuh ist gestorben, ach, die Lagerplätze
sind verlassen, die Asche noch warm, man kann
sie essen, aber man sollte nicht, sagt Malek,
der Strassenräuber. Eine Tür, die sich schließt,
ist noch lange keine Apfelin. Was wäre die Bibel,
wenn nicht große Mengen Obst auf einem kleinen
Stück Stoff, das der Nichtraucherengel
über den Schultern trägt, wenn er nachts wie zwanzig
Katzen durchs Rebland tobt? Was wären Tom
und Jerry, wenn nicht der rechte und der linke Fuß
einer Rakete? Alle meine Wörter sind Sandalen,
eher zum Hauen als zum Kauen, eher zum Stechen,
es sei denn der leere rote Mantel käme plötzlich zur Tür
herein, in der Hand das Brot der Schönheit aus
einem Text von Al-Muttanabi – sein Name ist
ein Storch aus einem anderen Traum, in dem es
genial von der Wand tickt als wäre eine Frau
im Schrank

Begrüssungsgedicht für
Lina Atfah, Aref Hamza, Mohammad Al-Matroud, Rasha Omran, Lina Tibi, Raed Wahesh,
Dorothea Grünzweig, Brigitte Oleschinski, Christoph Peters, Joachim Sartorius, Julia Trompeter, Jan Wagner
Tropenkoben, 28. 6. 2017

29. Juni 2017 09:45










Hendrik Rost

Apnoe in der Stimme

Statt wie sonst morgens in der Offenbarung des Johannes zu schmökern
und zu lesen, wie das Lamm das Buch mit den sieben Siegeln öffnete,
woraufhin im Himmel Stille eintrat,
etwa eine halbe Stunde lang –
Die Schar derer, die mit dem Siegel gekennzeichnet sind, ist groß
ging ich ans Regal und nahm mir ein Jahrbuch mit Gedichten
und öffnete es an beliebiger Stelle:
„Die Stimme deiner Spezies weckt dich und you drown.“
Es ist unnötig, sich abzufinden mit der üblichen Gefangenschaft.

28. Juni 2017 10:07










Karin Fellner

Go deeper and beyond

to the beardless Alexander in a blast furnace
who would raise his brow here once more
conqueror of grinning cuttlefish

to Leonardo with snorkel and screwdriver
lurking on enemy ships outside the harbor
surrounded by hunchbacked fishermen

past the leather-covered caisson
whose divers bleed gently from the ears

to the automatic eels, to the oilheads, chlorine gas and
all men pressed into the sheath of war.

On bare feet only
in the garden of waves
in the sprawling spray
step and let
the log sink:                Silence


(Poem translated by Zane Johnson, USA, 2017,
who is finishing his Bachelor’s at the University of Colorado Denver and plans on studying in Germany in the coming year through a Fulbright.)

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Tiefer gehn und vorüber

am bartlosen Alexander in einer Glocke, der auch
hier einmal die Stirn erheben wollte, Erobrer
von grinsenden Sepien

an Leonardo mit Schnorchel und Schraubenbohrer
der draußen im Hafen auf Feindschiffe lauert, von
buckligen Anglern umringt

vorbei auch am ledergedeckten Senkkasten
dessen Paddler sanft aus den Ohren bluten

am automatischen Aal, an Ölköpfen, Chlorgasen und
all den ins Futteral des Krieges gepressten Mannen.

Auf bloßen Füßen nur
in den Garten der Brandung
in die wuchernde Gischt
treten und das Log
sinken lassen:                         Silence.

(Karin Fellner, 2014)

28. Juni 2017 07:01










Konstantin Ames

Immer wenn du denkst, da geht noch was,


Verdirbt dir ein ästhetizistischer Indianerkiller den Spaß.

27. Juni 2017 11:12