Karin Fellner

Protuberanzen

/

mit offenen Pulsen gehst: Girlande aus Lichtschädeln,

an Zerspelltem vorbei, schwingende Kinder und Beutel,

durch das Klingeln gehst, verschlissen, nicht

abschließbar

/

auf Fluchtwegen kommst du vor, unter anderen,

sehenden Auges die glanzvollen Blutungen,

jüngst, heißt es, hat oder wird

man Dokumente beenden

/

durch die Strahlung, das ist: ins Verflochtene

gehst, durch knackende Hundezähne,

sagst, im Wissen der Löschung:

alle Wesen sind schön

/

jetzt steht die Ameise auf,

entflammt diese Spezies

10. Juni 2017 13:17










Tobias Schoofs

MELDUNG

der dichter will leben bitte
deaktivieren sie ihren adblocker
oder schließen sie einfach die
augen diese zeilen kommen

mit lichtgeschwindigkeit auf
sie zu glauben sie denn das sei
umsonst? was keiner bezahlt
sei folgerichtig verschwiegen

10. Juni 2017 12:59










Christine Kappe

Die Applausordnung der Narzissen

Schauspieler rutschen auf dem Rücken
durch einen Kreis von Häusern und blasen
Papierkügelchen durch die Schornsteine,
die sich auf dem Dach zu
Blumen entfalten („Breitet sich das Papier
denn schnell genug aus?“, fragt eine junge Frau)
irgendwo in der Pampas, wo riesige Türme stehen
Mühlen mit abgebrochenen Flügeln,
wo Frauen mit Gasflammenkronen regieren
und eine aus lauter Dreiecken gestaltete
Verkehrsinsel
auf der viele jener gelben leichtzerstörbaren Blumen wachsen,
deren Namen ich immer wieder vergesse.
Wenn meine Vermutung stimmt,
haben sie diese Krankheit mit den fehlenden Spiegelzellen,
wollen zieren statt zehren, lieben statt leben
und dass ihnen jemand den Kopf spaltet
jemand ohne Kopf, ein Engel oder eine Muse
oder ein Kuss

(Antwort auf „Rasenschimmer weist ihr den Weg“ von Christian Lorenz Müller)

10. Juni 2017 09:55










Thorsten Krämer

Das Nilpferd

Was ihr über mich zu wissen meint, ist nur das, was ihr über mich zu wissen meint. Es hat nichts mit mir zu tun.

Der Aphorismus ist mein Habitat. Ich fülle jeden Satz aus.

Ich folge dem Lauf meiner Gedanken, bis er mich in die Irre führt. Dann wird aus dem Lauf ein Gang, ein Treiben, ein Schwimmen, Trudeln und Kreiseln, und aus den Gedanken ein großer Haufen Grünfutter.

Aus meinen Ohren wächst ein entzücktes Händeklatschen. Die Abfolge von Ursache und Wirkung ist immer schon amphibischer Natur.

Ich kann, wenn es sein muss, auf einem Grashalm balancieren. Aber ich führe keine Kunststücke vor.

Der Glanz meiner Haut ist ein Monument der Feuchte. Der Schlamm ist Erde, die ihren Horizont erweitert hat.

Wir müssen über mein Maul sprechen, mein riesiges Maul: Es ist der Kurzschluss meiner Existenz. Es ist der Mond, der sich öffnet und schließt. Es ist ein Widerschein, eine Ablenkung. Mein riesiges Maul ist nichts anderes als eine Abstellfläche für meine Zähne, meine riesigen Zähne.

Wenn mein Hunger zu groß wird, schwebt er davon. Ich schaue ihm hinterher, bis er nicht mehr zu sehen ist.

Luft und Wasser sind keine Gegensätze, sogar die Fische atmen. Ich bin ein Gegensatz.

Jede meiner Bewegungen ist eine Frage, eine Antwort und ein Lachen. Jedes Lachen ist die Negation der Bewegungslosigkeit. Jede Negation bewegt sich anders. Wenn ich müde bin, stelle ich selten Fragen. Wenn ich schlafe, gebe ich seltsame Antworten.

Das Riesige ist keine eigene Kategorie. Es ist nur das enthemmte Kleine.

Bei Regen bin ich intelligent. Der Rhythmus der Tropfen, die mich treffen, diktiert mir eine neue Erkenntnis. Ich stampfe mit den Füßen, um sie nicht zu vergessen.

Die Konsequenz meide ich konsequent, sie ist mein einziger natürlicher Feind. Aber manchmal schauen wir uns gemeinsam die Sterne an.

Alles, was ihr nicht über mich wisst, ist wahr.

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

9. Juni 2017 07:06










Christian Lorenz Müller

REGENTONNENVARIATIONEN 16 BIS 26 (Fake Poetry in Haiku)

Wie ein Bullauge
vor dem die Wolken fliegen,
die weißere Gischt.

Die Linse eines
Fernrohrs. Und schon ein Wasser-
läufer kratzt sie blind.

Der flüssige Kern
von einer Probebohrung
im Regenhimmel.

Der Rand der Tonne:
Einem Finger aus Wasser
aufgesteckter Ring.

Kleiner Handspiegel
für den Himmel: Gerade
zieht er Wolken nach.

Die Kinder kochen
Hexesuppe. Im Kessel
Wasser, Wolken, Gras.

An Sommertagen:
Plätzchenform, die ein Stück Blau
aus dem Himmel sticht.

Sommers das Fallrohr:
Ausgedörrte Kehle, die
nach dem Becher giert.

Ihr Überschäumen
bei Gewitter, und ringsum
der berauschte Garten.

Nach dem ersten Frost
kippst du die Tonne, du wirfst
den Diskus aus Eis.

Gesäubert steht sie
als leeres Glas. Das Frühjahr
erst schenkt wieder ein.

31. Mai 2017 15:51










Mirko Bonné

Bilanz nach fünfzig Sommern

Der Pott, der einläuft und nur kurz
den Horizont zum Schaukeln brachte,
er spült das Geröll aus Heraklits Fluss,
toten Plunder ans Ufer: eine Matratze,
auf der Zwei schliefen und am Morgen
sich liebten, um weiterzuschlafen; die
Knochen einer Möwe, so leicht, dass
der Wind sie wegträgt. Putain, sagt
der Wind, putain, vachement! Wir
werden alles wiedersehen, denn
nichts geht je wirklich verloren, ja
könnte überhaupt je verlorengehen.
Und flüchten wir zu Schattenkabinetten,
in die Pulsflaute, zur allerletzten Adresse,
die sie nicht mehr ändern, nur löschen, es
bleibt ein Versuch, dieses Löschen, das
Tilgen und Verschwinden, denn alles
bleibt, auch das Ausradieren; aber
genauso bleibt stets das Bleiben.

*

Schlagzeile der GERALD TRIBUNE vom 29. Mai 2017:

The Most Beautiful Hombre With the Longest Nose on Earth and the Hugest Heart – Today Is His Birthday! Let’s Celebrate the End of Our Agony and Let’s Dance Thru Space Up to Saturn.

*

30. Mai 2017 10:27










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (208)

29. Mai 2016, ein Sonntag

Vor dem Fest …

Der seltsame Tag. Im Kopf schwirren Fetzen möglicher Grußworte (die Nebensächlichkeit der Dinge, die Wichtigkeit der Träume), verweht von Unlust, dem feirigen Abend Gewicht zuzumuten. Was ist anders als vor einem Jahr? Frau S., diese feine, feinsinnige Person, die ein sehr großes Liebeswesen ist. Mit Frau S. buk ich einen Nutella-Kuchen. Er misslang mal wieder gründlich. Er kommt als schwarzer Sarg auf den Tisch. Mein Ofen eignet sich besser für japanische Keramik.

Nach dem Fest …

Party im Standbad Weissensee. Die gestellte Musikanlage lieferte keine Musik, die Speisekarte versprach fast nur Speisen, die aus waren. Nach drei Bestellungen schrumpfte sie auf zwei Posten, einer davon war Salzgebäck. So ein Desaster sorgt für Stimmung. Als die Musik irgendwann doch noch lief, kam auch schon die Polizei gelaufen, aber ich hatte Sekt genug intus, die Mahnungen sehr verständig entgegenzunehmen und nach verbindlichem Abschied in den Wind zu schlagen. Im Rausch mit Feuer gezündelt und Sekt verschossen – ach, diese hochwichtigen Finales immer wieder. Dem Schulfreund, dem ich seit 30 Jahren schreibe und der nie zurückschriebt – auch der kam. Auch mein großer M. Auch die Schwester, der die Tränen rannen. Seliges Sprechen und Bekennen im Nachtnebel des Alkohols. Damals. Ja, damals. Danke für damals. Eine Bestattung zu Lebzeiten. Aber schöner als danach.

29. Mai 2017 08:34










Tobias Schoofs

KRAFTWERK

ein gedicht ist eine maschine
klein oder groß die aus wörtern
gemacht ist auch deine knochen
haben so eine kleine maschine

leben ist eine maschine aus licht
ein wort ist eine maschine die
aus morphemen besteht ein film
ist aus schnitten und montagen

aus lichtempfindlichem material
ein haus ist eine wohnmaschine
atomkraftwerk ist ein wort aus
maschinen und energie musik

besteht aus nullen und einsen
birnen sind äpfel die leuchten
liebe ist eine als lüster getarnte
maschine die flüstert morpheme

sind aus klängen und reimen und
natur besteht aus maschinen die
selbst aus maschinen bestehen

28. Mai 2017 12:07










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (207)

28. Mai 2016, ein Sonnabend

Mir träumte, dass meine Füße furchtbar gehäutet aussahen, übersät von rosa Flecken, wo die Haut seidenpapierdünn war. Es war mir natürlich peinlich, mit diesen Füßen beim Aikido auf die Matte zu gehen, zumal die Partnerübung darin bestand, einander mit gestreckten Beinen gegenüber zu sitzen, Sohle an Sohle, und den Rumpf nach vorn zu beugen, möglichst bis über die Füße des Partners hinaus, und ausgerechnet mein Partner hatte sich bei dieser Dehnübung schon vorher ausgezeichnet. Nun also mit ihm! Doch da sah ich, dass auch seine Füße, ja, seine Beine, über und über befleckt und geradenach leprös wirkten …

Bisweilen lese ich im Belphegor, diesem völlig ungebärdigen Werk des Goethe-Zeitgenossen Wezel, der den vielleicht wütendsten Abenteuerroman jener Zeit schrieb. Eine saure Prosa.

28. Mai 2017 08:03










Thorsten Krämer

Das Okapi

Über dem Okapi strahlt die Okapisonne. Unter dem Okapi liegt der Okapischatten. Das Okapi mag den Klang seines Namens: Okapi Okapi Okapi. Doch dann verhallt der Klang, und es ist wieder still. In der Stille wird das Okapi unsicher; es weiß nicht mehr, ob es überhaupt noch da ist. Ein Blinzeln reicht, und es ist nicht mehr zu sehen.

Okapi, wo bist du? Komm heraus und zeig dich, Okapi!
Solche Rufe nützen gar nichts. Das Okapi ist nicht scheu, nur existenziell instabil. Es blendet ein und wieder aus und weiß selbst nicht so genau, was als nächstes passiert. Jetzt steht es hier an einem Wasserfall. Das Wasser rauscht so laut, dass man fast nichts mehr erkennen kann. Im Getöse wird das Okapi unsicher; es weiß nicht mehr, ob es überhaupt noch da ist. Hinter dem Vorhang aus Wasser verschwindet es gänzlich.

Nein, nicht gänzlich. Hier steht es jetzt unter einem Brotnussbaum. Es schnappt nach den süßen Früchten, die schon leicht vergoren sind. Jetzt hätte das Okapi gerne den langen Hals der Giraffe, seiner nächsten Verwandten. Aber man kann sich seinen Hals nicht aussuchen, nicht einmal das Okapi kann das. Mit seinen gestreiften Beinen ist das Okapi dagegen sehr zufrieden. Wenn es im richtigen Tempo trabt, bilden diese Streifen ein sich rhythmisch bewegendes Interferenzmuster, das fast schon eine hypnotische Wirkung hat.
Dann kommt Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz …

Und wo ist das Okapi jetzt?

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

27. Mai 2017 07:27