Christian Lorenz Müller

HAARIGE ZAHNSEIDE (Drei Aphorismen für Affen)

Kreationisten wollen nicht wahrhaben,
dass sie vom Affen abstammen. Das ist verständlich.
Es gibt immer Menschen, die sich für ihre
Verwandtschaft genieren.

Thailändische Tempelaffen benutzen
Menschenhaar als Zahnseide. In China wiederum
sah ich an einem Imbissstand einen Menschen,
der sich die Zahnzwischenräume mit einer
Hühnerkralle reinigte.

„Mach dich nicht zum Menschen!“, mahnte
der alte Affe im Zoo einen Jungspund, der Bananen
durch das Gitter warf.

12. April 2017 11:39










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (181)

12. April 2016, ein Dienstag

Heute 1:45 Uhr hoch, nach einer Stunde Schlaf. Um 2:20 Uhr fährt uns Yutaka zur berühmten Fischauktion. Um 3 Uhr muss man dort sein, um einen der begehrten Zuschauerplätze zu bekommen. Da wir keinen Parkplatz finden, stehen wir um 3:20 Uhr am Gatter und werden fortgewinkt: zu spät. Yutaka, der beflissenste aller Gastgeber, tröstet uns mit einem Fisch-Frühstück im Fischmarktviertel. Ich wusste gar nicht, wie viel Geschmack roher Fisch haben kann. Mit dem Bauch voll rohen Fisches blicke ich vom Beifahrersitz über bewegungsunscharfe Geländer des Highways und über den Edo-Fluss auf die Tokioter Skyline. Darüber zieht morgendämmernde Sonne Farbschleier. 6 Uhr wieder daheim.

Mittags in die Stadt. Diskrete Stille in den U-Bahnen. Man liest, spielt auf Smartphones, spricht gedämpft, schläft. So anders als im Berliner Aggressionsstau. Japanische Schulschönheiten: zart und delikat, zwischen Fetischfieber und Frömmigkeit.

Jiro Taniguchi geht nach eigener Aussage gern im Kichijoji-Park spazieren. Ich also auch. Die Sitzgelegenheiten sind so diskret separiert wie in Speiselokalen, hier meist durch schmales Buschwerk. Aber Taniguchi sitzt nicht, wo ich sitze. Sitzt auch nicht in einem jeder Ruderboote in klassischem Ruderboot-Format, in denen so viele Angestellte ihren Feierabend absolvieren. Sitzt auch nicht in einem jener Tretboote in Form schwimmender Schwäne. Sitzt auch nicht bei jenen Menschen auf den Decken, die so manierlich und sittsam und sauber hier sitzen und in Chören staunen, wenn ein Teilnehmer Staunenswertes äußert. Der spazierende Taniguchi sitzt nicht. Ich werde ihn nicht finden. Ich suche ihn ja auch nicht wirklich. Ich tu nur so. Ich spiele den suchenden Mann.

Imposant sind ja Leute wie jener junge Mann aus Amerika, einem unserer Nachbarn in den Container-Appartements von Yutaka: Er wohnt seit zwei Wochen dort und verließ es bislang nur für einen Ausflug ins Elektronikviertel. Auf der Rückfahrt war er beim Aussteigen aus der U-Bahn so sehr in sein Smartphone vertieft, dass er in den Spalt der Bahnsteinkante trat und mit dem Arm aufschlug (Smartphone gerettet!). Seither verlässt er sein Zimmer noch nicht mal zum Essen. Per Smartphone ruft er Yutaka an: „I’m hungry!“ Yutaka bringt dann Essen.

Yutaka lädt mich abends zum Essen, als ich vom Aikido-Training (Leitung: Osawa-Shihan) zurückkomme. Yutaka stellt mich seiner Frau und seinem autistischen Sohn vor. Sie spricht kein Englisch, er spricht gar nicht. Danach verbringe ich eine dreiviertel Stunde in Yutakas neuem monströsen Massage-Sessel, der jeden Körperteil walkt. Es ist 23 Uhr. In zwei Stunden wollen wir zum zweiten Mal zur Fisch-Auktion aufbrechen.

12. April 2017 09:28










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (180)

11. April 2016, ein Montag

Heute drangen D. und ich in Buddhas Wesen tiefer ein als je zuvor. In Kamakura steht eine betretbare Statue. Von innen schaut man aus den Schulterblättern heraus.

Das öffentliche Bad des Stadtteils Matsudo ist günstig (umgerechnet fünf EUR) und raffiniert. Wenn man zum Abkühlen auf dem Beckenrand sitzt, tunkt der Penis in umspielende Strudel. Wie derb und verstunken sich das deutsche Waschgebaren ausnimmt gegen die jedermannverbindliche japanische Badekultur. Spät aus dem Onsen nach Hause. Es bleibt uns eine Stunde Schlaf bis zum Aufstehen.

12. April 2017 09:25










Konstantin Ames

2eune zîtung, links, mitte rechts unten: luxusgütern nach nordkorea

shington hat am freitag (fischtag) eine liste von luxus
exportiert
kungen waren stehen güter wie ipods, jet-ski, designer
kleidung, diamanten, felle, notebooks, rennwagen, ja
achten. spirituosen

Aus: Alsohäute = roughbook011, Holderbank SO 2010, S. 24.
Für: Alle, die auch unbeflissen vom Jetzt schreiben können.

11. April 2017 09:23










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (179)

10. April 2016, ein Sonntag

Ein Tag in Kokobunji, einem Stadtteil von Tokio, wo Jiro Taniguchi wohnt. Seine genaue Adresse kenne ich nicht. Mit etwas Glück/Pech fuhr er vorhin mit dem Fahrrad an mir vorbei. Als ich vor dreißig Jahren die Lebensstationen des damals sehr verehrten Hermann Hesse aufsuchte, fühlte ich mich immer wieder „durchweht von historischem Hauch“: Hier wuchs er auf, hier litt er im Internat, hier goss er Blumen. Das wünschte ich mir auch von meinem Besuch in Kokobunji. Aber das geschieht nicht. Meine Romantik ist Attitüde. Vor meine Blicke auf die Stadt schieben sich oft Erinnerungen an Taniguchis Zeichnungen. Ich errechne die Algorithmen seiner Blick-Verarbeitung. An vielen Stellen filme ich eine mitgebrachte Miniaturfigur, einen rot-blau gekleideten älteren Herrn mit übereinander geschlagenen Beinen, der eine Zeitung liest. Das Filmchen müsste Der lesende Mann heißen und in Bezug zu Taniguchis Manga Der spazierende Mann stehen.

Ich esse Teigtaschen in einem dieser pragmatischen Küchen, in denen Kunden an einem langen schmalen Tisch sitzen, jeder an einem Tischabschnitt in der Größe eines DinA4-Blatts, durch kleine Paravents abgeschirmt Gästen nebenan und gegenüber, versorgt von fürsorglichen Kellnerinnen, die kein Trinkgeld nehmen, da man bereits beim Eingang sein Essen im Automaten bestellt und bezahlt hat.

Zwei Trainings bei Kanazawa-Shihan und dem Doshu, also Moriteru Ueshiba, dem Enkel vom O-Sensei. Die Matte ist knüppelvoll. Ranghohe Partner, frei von Allüren.

10. April 2017 09:15










Julia Trompeter

Ceci n’est pas un Fisch

Ein Mann mit Hut und ein verwickeltes Ich
beim Abendessen.
Die Gräten des Verstorbenen liegen noch
auf den Tellern wallonischer Coleur,
und ich denke an die Verschiedenheit von Haut:
ihre trockene Wärme in den Sommern,
ihre blasse Kühle in den Wintern,
an zwei verschiedene Schuhe,
ein springendes Kind.
Die Küchenstühle an und für sich betrachtet
geben schon ein gutes Bild ab.
Wenn ich hier der Künstler wäre,
würde ich sie malen und den Rest weglassen… nein,
auch den Wein von der Farbe geschmolzenen Schnees,
auch die Bläue des verschwundenen Fischs,
auch das Rot der Gardine
und den Schatten der Nähe
würde ich einfangen
mit meinen Strichen.

9. April 2017 20:00










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (178)

9. April 2016, ein Sonnabend

Um fünf Uhr aufgewacht, gleich weitergeschlafen; sechs Uhr aufgewacht, gleich weitergeschlafen; sieben Uhr wieder wach. Marode aber heiter fuhren D. und ich zu einer öffentlichen Vorführung verschiedener Budo-Verbände. Die Kampfanzüge waren sehr schick. D. fuhr dann zu seiner Schwert-Gruppe, ich blieb allein zurück, irgendwo in Tokio. Ohne Straßenkarte und Handy war mir da, als stünde ich oben auf einem Planetballon, dem plötzlich die Luft entwichen ist und der nach allen Seiten steil abfällt. Kribbeln. Mangels Haltepunkt holte ich umgehend meine Kamera heraus, um mir und der Umgebung mitzuteilen, ich hätte hier ganz dringend zu tun. Irgendwie fand ich zurück.

9. April 2017 10:16










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (177)

8. April 2016, ein Freitag

Letzte Nacht rumpelte es unter uns, als würden wir über einer U-Bahn-Trasse wohnen, aber hier verläuft keine U-Bahn. Es wirkte auch weniger technisch, eher organisch, als hätten wir im Keller einen Drachen, der sich im Traum wälzt. Wir erfuhren, die Erde habe gebebt.

Jetzt ist es schon wieder Nacht. Mit dem letzten Zug haben wir es gerade noch geschafft, gehetzt von Bahn zu Bahn, von Kawasaki nach Matsudo. Die Waggons waren überfüllt mit Angestellten, die nach dem obligaten Freitagfeierabendbesäufnis nach Hause wankten. Ein Gesellschaftsproblem, beklagt auf Plakaten.

In der Tokyo-Station beobachteten wir einen Herrn, den man sich dem Äußeren nach als seriösen Herrn in leitender Position denken würde. Sein Zustand war desolat. Soeben torkelte er die Treppe hinab, als seine Hose zu den Knien rutschte. So stolperte er weiter. Ein Zweiter fiel und purzelte. Einen Dritten schleiften Beamten aus dem Zug und legten ihn auf dem Plafond ab. Wir haben Tränen gelacht.

5 Uhr Wecken, Training von 8-9 Uhr bei Irie-Shihan mit zwei geschmeidigen Japanerinnen, Training von 15-16 Uhr bei Seki-Shihan mit einem robusten Rumänen, Training 20-21:30 Uhr bei D.s Schwert-Meister Sugino-Sensei. Ich wurde immer konfuser. Aikidoka luden dann zum Essen. Das war unbequem, denn nach den drei Trainings bekam ich Wadenkrämpfe und viel Durst, aber wir saßen im Schneidersitz bei Bier und Sake. Man bestellte eingelegte und vergorene Sojabohnen, außerdem Schweinekopf am Schaschlickspieß.

Jiro Taniguchis Manga namens Nakano Broadway trieb mich zum Nakano Broadway, einem Einkaufpalast auf vielen Etagen. Unter grellem Bunt und Wild befand sich auch ein reizendes Café im schlicht-klassischen Stil der 60er Jahre, als sei es ein Filmset von Ozu. Auch eine riesige Buchhandlung war da, in der ich ein Manga von Taniguchi kaufte.

Der Wäschetrockner piept. Es ist 2 Uhr durch. Der Wecker ist auf 5 gestellt.

8. April 2017 18:02










Tobias Schoofs

CHIAROSCURO

mir ist wie wir ins taxi steigen
die ganze sache schon peinlich sie

kommt die treppe vom bahnhof
herunter zwei männer uns noch
unbekannt kreuzen ihren weg sie

steigt ins taxi wie wir die reifen
quietschen auf nassem asphalt
die lichtquelle hinter schatten

unseren huschenden schatten
rasselt im inneren draußen: sie

8. April 2017 16:52










Konstantin Ames

Dichterwetter is getting better

es ist Frühling; nur das zählt, in
unserm Gästeklosett hängt ein Foto von Juri
Gagarin in seinen Alsohäuten; das zählt nicht,

Dichterwetter is getting better und die Blätter des
Jahrs winken in stiller Einfalt und elegischer Blöde

in der Kasinostraße würfeln und zählen
die Jurierenden, und die besten Urinierenden
erleichtern sich dann hinein in die Welt; in

Dichterwetter is getting better und die Blätter des
Jahrs winken in stiller Einfalt und elegischer Blöde

Eiswürfeln hab ich den Kopf gewälzt, den
von Kurt und den von Klaus; hab ich bei Daesh bestellt, im
Rauschebart dieses zerhackten Sonetts trocknet Urin.

Dichterwetter is getting better …

7. April 2017 09:21