Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (178)

9. April 2016, ein Sonnabend

Um fünf Uhr aufgewacht, gleich weitergeschlafen; sechs Uhr aufgewacht, gleich weitergeschlafen; sieben Uhr wieder wach. Marode aber heiter fuhren D. und ich zu einer öffentlichen Vorführung verschiedener Budo-Verbände. Die Kampfanzüge waren sehr schick. D. fuhr dann zu seiner Schwert-Gruppe, ich blieb allein zurück, irgendwo in Tokio. Ohne Straßenkarte und Handy war mir da, als stünde ich oben auf einem Planetballon, dem plötzlich die Luft entwichen ist und der nach allen Seiten steil abfällt. Kribbeln. Mangels Haltepunkt holte ich umgehend meine Kamera heraus, um mir und der Umgebung mitzuteilen, ich hätte hier ganz dringend zu tun. Irgendwie fand ich zurück.

9. April 2017 10:16










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (177)

8. April 2016, ein Freitag

Letzte Nacht rumpelte es unter uns, als würden wir über einer U-Bahn-Trasse wohnen, aber hier verläuft keine U-Bahn. Es wirkte auch weniger technisch, eher organisch, als hätten wir im Keller einen Drachen, der sich im Traum wälzt. Wir erfuhren, die Erde habe gebebt.

Jetzt ist es schon wieder Nacht. Mit dem letzten Zug haben wir es gerade noch geschafft, gehetzt von Bahn zu Bahn, von Kawasaki nach Matsudo. Die Waggons waren überfüllt mit Angestellten, die nach dem obligaten Freitagfeierabendbesäufnis nach Hause wankten. Ein Gesellschaftsproblem, beklagt auf Plakaten.

In der Tokyo-Station beobachteten wir einen Herrn, den man sich dem Äußeren nach als seriösen Herrn in leitender Position denken würde. Sein Zustand war desolat. Soeben torkelte er die Treppe hinab, als seine Hose zu den Knien rutschte. So stolperte er weiter. Ein Zweiter fiel und purzelte. Einen Dritten schleiften Beamten aus dem Zug und legten ihn auf dem Plafond ab. Wir haben Tränen gelacht.

5 Uhr Wecken, Training von 8-9 Uhr bei Irie-Shihan mit zwei geschmeidigen Japanerinnen, Training von 15-16 Uhr bei Seki-Shihan mit einem robusten Rumänen, Training 20-21:30 Uhr bei D.s Schwert-Meister Sugino-Sensei. Ich wurde immer konfuser. Aikidoka luden dann zum Essen. Das war unbequem, denn nach den drei Trainings bekam ich Wadenkrämpfe und viel Durst, aber wir saßen im Schneidersitz bei Bier und Sake. Man bestellte eingelegte und vergorene Sojabohnen, außerdem Schweinekopf am Schaschlickspieß.

Jiro Taniguchis Manga namens Nakano Broadway trieb mich zum Nakano Broadway, einem Einkaufpalast auf vielen Etagen. Unter grellem Bunt und Wild befand sich auch ein reizendes Café im schlicht-klassischen Stil der 60er Jahre, als sei es ein Filmset von Ozu. Auch eine riesige Buchhandlung war da, in der ich ein Manga von Taniguchi kaufte.

Der Wäschetrockner piept. Es ist 2 Uhr durch. Der Wecker ist auf 5 gestellt.

8. April 2017 18:02










Tobias Schoofs

CHIAROSCURO

mir ist wie wir ins taxi steigen
die ganze sache schon peinlich sie

kommt die treppe vom bahnhof
herunter zwei männer uns noch
unbekannt kreuzen ihren weg sie

steigt ins taxi wie wir die reifen
quietschen auf nassem asphalt
die lichtquelle hinter schatten

unseren huschenden schatten
rasselt im inneren draußen: sie

8. April 2017 16:52










Konstantin Ames

Dichterwetter is getting better

es ist Frühling; nur das zählt, in
unserm Gästeklosett hängt ein Foto von Juri
Gagarin in seinen Alsohäuten; das zählt nicht,

Dichterwetter is getting better und die Blätter des
Jahrs winken in stiller Einfalt und elegischer Blöde

in der Kasinostraße würfeln und zählen
die Jurierenden, und die besten Urinierenden
erleichtern sich dann hinein in die Welt; in

Dichterwetter is getting better und die Blätter des
Jahrs winken in stiller Einfalt und elegischer Blöde

Eiswürfeln hab ich den Kopf gewälzt, den
von Kurt und den von Klaus; hab ich bei Daesh bestellt, im
Rauschebart dieses zerhackten Sonetts trocknet Urin.

Dichterwetter is getting better …

7. April 2017 09:21










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (176)

7. April 2016, ein Donnerstag

Unsere Unterkunft in Tokio liegt eineinhalb Zug-Stunden vom Zentrum Tokios entfernt. Sehr weit draußen, aber dafür drinnen sehr eng: auf der Fläche einer Tatami-Matte befinden sich zwei Betten, eine Dusche, ein WC, eine Mikrowelle, eine Küche, ein Trockner, ein Fernseher – japanische Wohnschachtelperfektion. Der nette Wirt heißt Yutaka, während das hausmantelartige Kleidungsstück ja Yukata heißt. Das führt zu Verwechslungen.

Um den Jetlag niederzuzwingen, halten D. und ich uns wach und suchen das Hombu-Dojo. Wir schauen beim Training zu (Leitung: Eto-Shihan). Viel Unruhe auf der Matte. Danach auf ein Bier ins Vergnügungsviertel mit peinlichem Foto mit Bier und Wirtin. Wie ich sie hasse, diese peinlichen Fotos mit Bier und Wirtin!

7. April 2017 07:34










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (175)

6. April 2016, ein Mittwoch

Um 4:17 Uhr weckt mich ein Anruf aus Japan: Unser Airbnb-Vermieter bestätigt die Buchung und wünscht gute Reise. Später liebreicher Abschied von Frau S. an der Tram. Deren Timing ist perfekt. Im Flieger lausche ich der Musik: das sind die finnischen Durchsagen einer Stewardess.

Die Reisetablette eilig ohne Wasser eingenommen. Der Speichel reicht nicht zum Verdünnen und Auflösen. Zwischenstopp Helsinki. Beim Landeanflug stieben Schmerzfunken in die linke Stirn- und Nebenhöhle. Dafür Bitterkeit und Taubheit im Rachenraum. Dort schmilzt die Tablette.

6. April 2017 07:28










Konstantin Ames

metallisches Quietschen der Vögel
im Beton II Bäume in Blüte
popcornrosa; Blätter später blutwurstrot

las Entdeckungsgabel
das war falsch, aber schön
wie überhaupt diese Imkersprache

diesen Kinderglauben an sich selbst zu verlieren
lässt alle Poesien erst beginnen
dich bedeckt innen weniger als
unbeschriebenes Papier; nur in der Kopfzeile was
deine Gehörgänge besetzt mit Stiften ohne Spitzen

(Es heißt nicht Sichtung, es heißt tort« 05.04.2017)

5. April 2017 11:00










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (174)

5. April 2016, ein Dienstag

Unterströmungen reißen die Füße weg. Morgens im traulichen Zweierlei säusle ich heimelnd, doch durch die Kaldaunen des Gehirns schieben sich Formulierungen, die auf Abstand halten. Ich kann’s innerlich nicht abfließen lassen, die Wörter reißen mir die Füße weg, je mehr sie sich wälzen und schieben gegen alle Innenwände. Arbeit, Gentleman, Wucht, (… drei Punkte …), brummende Brocken schieben peristaltisch durchs Geschehen, wie soll da die Liebe schmiegen und schmieden? Und das Tagebuch ist wieder einmal Sickergrube, Dampfeimer der Dinge, die Frau S. mir um die Ohren schlüge, würde sie hineinschauen.

Gleichzeitig höchste Anhänglichkeit. Gestern zum Beispiel ließ ich Aikido sausen, weil mir nichts angenehmeres vorstellbar war, als mit Frau S. Ovid zu lesen, Tati zu schauen und den See zu umrunden – die Fluchtphase vor dem Aufbruch. Am liebsten einfach liegen bleiben, am Tropf des Alltags. Das Ungewisse ist immer noch eine Höhle, aus deren Dunkel der Drache speit. Ängste versuche ich mit Muskelkraft zu Vorfreude umzumünzen. Morgen geht es los. Wie das wohl wird mit D. an der Seite, diesem männlichen Mann, der sympathisch, loyal und belastbar wirkt, manchmal aber auch leicht chaotisch. Mal sehen, wie lange wir gelassen bleiben, wenn Pläne scheitern und wir nicht mehr wissen, wowiewann wir übernachten können.

5. April 2017 09:51










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (173)

4. April 2016, ein Montag

Die Nervosität steigt. Übermorgen geht es los nach Japan. Das Wochenende mit Frau S. verlief mit Aussicht auf Abschied: Spazieren, Planung des runden Geburtstags im Arbeiter-Strandbad Weissensee, gemeinsame Lektüre. Ihr Gekränktsein, sofern ihre Lust nicht auf Gegenlust stößt, kränkt mich.

D. und ich haben auf den letzten Drücker eine Unterkunft in Tokio besorgt. Es war einigermaßen hektisch. Die Reise ist alles andere als durchgeplant. Wie schmuggeln wir, die wir keine Mitglieder im Aikikai sind, uns bloß ins Hombu-Dojo?

4. April 2017 12:39










Gerald Koll

Fehlendes Glück …

… heute vor 100 Jahren

1. April 2017 18:28