Gerald Koll
7. April 2016, ein Donnerstag
Unsere Unterkunft in Tokio liegt eineinhalb Zug-Stunden vom Zentrum Tokios entfernt. Sehr weit draußen, aber dafür drinnen sehr eng: auf der Fläche einer Tatami-Matte befinden sich zwei Betten, eine Dusche, ein WC, eine Mikrowelle, eine Küche, ein Trockner, ein Fernseher – japanische Wohnschachtelperfektion. Der nette Wirt heißt Yutaka, während das hausmantelartige Kleidungsstück ja Yukata heißt. Das führt zu Verwechslungen.
Um den Jetlag niederzuzwingen, halten D. und ich uns wach und suchen das Hombu-Dojo. Wir schauen beim Training zu (Leitung: Eto-Shihan). Viel Unruhe auf der Matte. Danach auf ein Bier ins Vergnügungsviertel mit peinlichem Foto mit Bier und Wirtin. Wie ich sie hasse, diese peinlichen Fotos mit Bier und Wirtin!
7. April 2017 07:34
Gerald Koll
6. April 2016, ein Mittwoch
Um 4:17 Uhr weckt mich ein Anruf aus Japan: Unser Airbnb-Vermieter bestätigt die Buchung und wünscht gute Reise. Später liebreicher Abschied von Frau S. an der Tram. Deren Timing ist perfekt. Im Flieger lausche ich der Musik: das sind die finnischen Durchsagen einer Stewardess.
Die Reisetablette eilig ohne Wasser eingenommen. Der Speichel reicht nicht zum Verdünnen und Auflösen. Zwischenstopp Helsinki. Beim Landeanflug stieben Schmerzfunken in die linke Stirn- und Nebenhöhle. Dafür Bitterkeit und Taubheit im Rachenraum. Dort schmilzt die Tablette.
6. April 2017 07:28
Konstantin Ames
metallisches Quietschen der Vögel
im Beton II Bäume in Blüte
popcornrosa; Blätter später blutwurstrot
las Entdeckungsgabel
das war falsch, aber schön
wie überhaupt diese Imkersprache
diesen Kinderglauben an sich selbst zu verlieren
lässt alle Poesien erst beginnen
dich bedeckt innen weniger als
unbeschriebenes Papier; nur in der Kopfzeile was
deine Gehörgänge besetzt mit Stiften ohne Spitzen
(Es heißt nicht Sichtung, es heißt tort« 05.04.2017)
5. April 2017 11:00
Gerald Koll
5. April 2016, ein Dienstag
Unterströmungen reißen die Füße weg. Morgens im traulichen Zweierlei säusle ich heimelnd, doch durch die Kaldaunen des Gehirns schieben sich Formulierungen, die auf Abstand halten. Ich kann’s innerlich nicht abfließen lassen, die Wörter reißen mir die Füße weg, je mehr sie sich wälzen und schieben gegen alle Innenwände. Arbeit, Gentleman, Wucht, (… drei Punkte …), brummende Brocken schieben peristaltisch durchs Geschehen, wie soll da die Liebe schmiegen und schmieden? Und das Tagebuch ist wieder einmal Sickergrube, Dampfeimer der Dinge, die Frau S. mir um die Ohren schlüge, würde sie hineinschauen.
Gleichzeitig höchste Anhänglichkeit. Gestern zum Beispiel ließ ich Aikido sausen, weil mir nichts angenehmeres vorstellbar war, als mit Frau S. Ovid zu lesen, Tati zu schauen und den See zu umrunden – die Fluchtphase vor dem Aufbruch. Am liebsten einfach liegen bleiben, am Tropf des Alltags. Das Ungewisse ist immer noch eine Höhle, aus deren Dunkel der Drache speit. Ängste versuche ich mit Muskelkraft zu Vorfreude umzumünzen. Morgen geht es los. Wie das wohl wird mit D. an der Seite, diesem männlichen Mann, der sympathisch, loyal und belastbar wirkt, manchmal aber auch leicht chaotisch. Mal sehen, wie lange wir gelassen bleiben, wenn Pläne scheitern und wir nicht mehr wissen, wowiewann wir übernachten können.
5. April 2017 09:51
Gerald Koll
4. April 2016, ein Montag
Die Nervosität steigt. Übermorgen geht es los nach Japan. Das Wochenende mit Frau S. verlief mit Aussicht auf Abschied: Spazieren, Planung des runden Geburtstags im Arbeiter-Strandbad Weissensee, gemeinsame Lektüre. Ihr Gekränktsein, sofern ihre Lust nicht auf Gegenlust stößt, kränkt mich.
D. und ich haben auf den letzten Drücker eine Unterkunft in Tokio besorgt. Es war einigermaßen hektisch. Die Reise ist alles andere als durchgeplant. Wie schmuggeln wir, die wir keine Mitglieder im Aikikai sind, uns bloß ins Hombu-Dojo?
4. April 2017 12:39
Gerald Koll
1. April 2016, ein Freitag
Heute drei Aikido-Einheiten, ich bin völlig im Eimer, irgendwie herrlich.
1. April 2017 08:26
Christian Lorenz Müller
Ein warmer Wind
bindet die Birke so grün.
Der frisch gekehrte Himmel
und mein besenreines Herz.
Ich setze mich an den Fluss,
an das sonnenblanke Fenster,
werfe meine Handschuhe ins Gras
und ich sage:
Zwei nutzlos gewordene Wischlappen!
Schau, welch aufgeräumter Stimmung
die Leute sind, die auf der Lände liegen.
Du hast Feierabend
und das am frühen Nachmittag.
29. März 2017 13:04
Karin Fellner
zwei Flügel. sie tönen. sie ähneln Ahornzwickern, sind schwarz, ihr Singsang erinnert an portable Radios, sie schwingen ein und auf, mit oder ohne Pedal, leise hängen sie an der Autorotation, an mehreren Füßen, pendeln, die Tastsinne werden gedrückt in embryonale Falten, Portieren, sie öffnen sich, spreizen die Haut, buchten aus, Halteren schwingen im Gegentakt, halten sie? hängen aneinander, lassen per Taste sich einklinken ins Gerüst, bewegen sich paarweise, unabhängig, sie knicken nicht ein à la Rabenbein, zur Seite orientiert, an die Fersen geheftet, hegetōr oneirōn, rauschen sie ohne Masse mit Gruppengeschwindigkeit vorbei an Faltenwürfen in die nächste Sequenz –
28. März 2017 06:42
Gerald Koll
29. März 2016, ein Dienstag
Zwei Tage wie hinter Barrikaden, zurückgezogen in meine kleine hübsche Wohnung. Nur zum Training gestern Abend bin ich raus, und selbst dazu musste ich mich zwingen. Ich habe diesen Drang, mich von allem Sozialen abzuschotten und zum Käfer zu werden. Las Stevensons Dr. Jeckyll in der Übersetzung von M., der an einigen Stellen überraschend das englische Original durchscheinen ließ, wie jene Restauratoren, die am Ende ein paar Stellen unbehandelt lassen aus Respekt vor dem Ursprungszustand.
In der Nacht träumte ich, in Japan verloren zu gehen. Es müssen die Morgenstunden gewesen sein, denn zuvor war ich bereits erwacht mit üblem Schmerz in den Nebenhöhlen und glücklich wieder entschlummert. Dann war mir, als bebte die Erde. Dann wiederum ging ich über einen Steg, wie um eine Insel, immer weiter vorwärts, aber ohne Plan, und am Ende wusste ich nicht mehr, wie ich zurückkommen sollte, wie ich irgendetwas finden oder auch nur den Reisegefährten D. wiederfinden sollte. In mir schwamm das unklare Gefühl von selbst eingebrocktem In-der-Irre-Sein. Entsprechend trübe erwachte ich erneut, nun mit lähmender Schwere im Gebein. Das Aufstehen als Akt mit ungewissem Ausgang.
Nach dem Aikido meine tägliche Fanta mit Limette und einem Schuss Eierlikör – fast schon ein Muss.
27. März 2017 11:26