Mirko Bonné

Fäden

Die Goldpollen, die überall
in Fäden auf dem Boden liegen,
Sommerabend. Das zarte rote
Licht und Schwalben. Bleib nicht
allein; fahr noch nicht heim;
geh unter den Bäumen eine Weile
mürrisch durch die schöne Luft.

Da kommt die Nacht, gelber
Schein; der letzte kalte Wein,
Sommernacht mit überraschend
Regen. Die Trauerweide lacht,
und jemand ruft dich an, der
noch vorbeikommt, reden, trinken,
liegen zwischen goldenen Fäden.

*

14. Juli 2010 16:51










Björn Kiehne

Und vor unserem Fenster die Nacht

Meine Zunge fährt den Lauf der Elbe nach,
lässt das Wasser über die Ufer deiner Schenkel treten.
Der scheue Reiher im Schilf, das Lied der Regenamsel,
Fische springen, die Nacht pirscht sich heran.
Aus dem Auwald treten drei Wölfe, flüstern:
Hab Acht, hab Acht, hab Acht –
der Reiher breitet seine Flügel aus,
vor dem Fenster wartet die Nacht.

27. Juni 2010 04:30










Hans Thill

Mein Nam

mein Leich mon voyage mineur. Ein Wiedergänger sprüht
in kleiner Trance an alle Trafo-Stationen: Pas Op!

Verkehrter Kaffee und verirrter Wein steigen zu Kopp
und heissen beispielsweise Chloroform. In einem

weit entfernten Land hilft gegen wortverklebten Mund
Thalassa als ein Zungenlöser aus l und s. dar zamin

dur dast. Mein Nam mein Dotter eines Gottes ärmer
als die Nacht blau im Gesicht und für ein halbes

Sommerstück bin ich in Form: ein kahler Fall ein Overall
das Stresswort allemaal dem Anton Reiser hinters

Ohr geschrieben. Mein Nam meine Entgleisung mein
überall beseeltes immerzu rasiertes Pädonym

bin ich auch kein Korkenzieher wär ich doch gerne
eine Vogeluhr

Begrüßungsgedicht für
Dirk van Bastelaere, Eric Brogniet, Karel Logist, Els Moors, Erik Spinoy, Liliane Wouters, Gerhard Falkner, Zsuzsanna Gahse, Norbert Lange, Michael Speier, Ulrike Almut Sandig.
Edenkoben 23. Juni 2010

23. Juni 2010 15:59










Marjana Gaponenko

Weltschöpfung III

Ohne Worte wurde gesungen,
während du schliefst.
Während du träumtest,
fielen zwei Äpfel vom Baum,
wie ein Blick,
durchbrachen die Erde,
ihre gläserne Schale
bis zur Mitte
– ein Gongschlag –

Da reitet sie übers Feld,
die Schöne,
auf dem Duft der Blumen,
auf dem Schatten des Dufts,
auf seiner bloßen Vorstellung.
– Gewitter –

Während du schliefst,
wurde der Stein,
den die Zärtliche hob,
zu Tau, der Tau zur Libelle.
Ein Tor fiel ins Schloss,
ein Welpe fiel in den Brunnen;
die Nacht (pelzige Seite
des Lichts) gab dem Wind
eine Stimme.

Während du schliefst,
geschah nichts,
gebar sich die Welt
tausendmal, um wieder
zu sein und zu scheinen.
Zwischen den Dingen –
die Frau, in ihr Zittern gehüllt,
ein Gedanke an dich.
-ein Dämon-

Aus funkelnder Liebe
ist auch dieser Leib …

wurde gesungen.

7. Juni 2010 00:02










Mirko Bonné

Savoy

Als man lieber Inder war, lieber
als ein Kind, als man ein Kind nicht
mehr und kein Inder war:
mmmm mmmm mmmmmlieber man,
die mottenkugelsicheren Schränke
der Ahnen durchleuchtet, durch-
röntgt mit rot unterlaufenen
Augen: Rotes! Da!
mmmm mmmm mRotes Tuch,
Zeug: Klamotten, rot Stiefeletten,
rote Ringe wie unter übermüdeten
Inderaugen. Augenringe geschwärzt
mit Kippenasche, ja, Javaanse-
raucher, Patschuli-überzeugt:
mmmm mmmm mmmm mmmMan
ist dann so durch die Nacht geheizt,
im Karmann ins Savoy, den Spiegel-
tempel, Stempel, und Kornelkirschen-
Mala tanzen lassen mit Ma Anand Grit,
Swami Thorsten in roter Latzhose was
zubrüllen, Roten Afghanen einfüllen:
mmmm mmmm mmmm mmmmmmSo
lehnte man da, dachte nichts. Das Nichts
sehr rot. Man lehnte rot ins Nichts. Komm,
rief wer. Zerhackt! Nur wer. Komm doch,
wem rief man zu. Es blutete das Stro-
boskop, sah man, und sich: Wer
mmm mmmwar das noch.

*

Mit Dank an Sylvia für Einrücken, Wundern und Wiederfunde

*

19. Mai 2010 09:58










Sylvia Geist

Wiederfund (12): Das Geheimis des Struwwelpeters

„Ungezogenheit ist der Verdruß des Kindes darüber, daß es nicht zaubern kann. Seine erste Erfahrung der Welt ist nicht, daß die Erwachsenen stärker (sind), sondern daß es nicht zaubern kann.
(…)
Das Geheimnis des Struwwelpeters: Diese Kinder sind alle nur ungezogen, weil ihnen keiner was schenkt, darum ist das Kind, das ihn liest, artig, weil es schon auf der ersten Seite so viel geschenkt bekommt. Ein kleiner Geschenkregen fällt da vom dunklen Nachthimmel. So regnet es unaufhörlich in Kinderwelten. In Schleiern, wie Regenschleier sind, fallen Geschenke auf das Kind herunter, die ihm die Welt verschleiern. Ein Kind muss Geschenke kriegen, sonst wird es wie die Kinder im Struwwelpeter sterben oder fortfliegen. Das ist das Geheimnis des Struwwelpeters.“

aus: Walter Benjamin – Über Haschisch. Mit einer Einleitung von Hermann Schweppenhäuser

Das Geheimnis des Struwwelpeters ist eines aus einer Reihe von Geheimnissen, die sich Benjamin während seiner Rauschexperimente zeigten. In einem der Experimente dieser „Vorschule der profanen Erleuchtung“ (Schweppenhäuser) begegnete er auch einem sie alle einigenden Geheimnis der Wahrnehmung, als ihm ein verschleiertes Gesicht erschien, „das selber nur Schleier ist – das ist viel zu himmlisch, um weiter darüber zu reden“. Das hat etwas Eleusisches: der Schleier hebt sich sozusagen in dem Moment vom Geheimnis, in dem der Schleiercharakter des Offenbarten hervortritt. Fritz Fränkel, der mehrere Rauschexperimente Benjamins protokollierte, schrieb dazu: „Es ist für den Haschischrausch ein ebenso gewöhnlicher wie charakteristischer Vorgang, daß das Sprechen mit einer Art Resignation verbunden ist, daß der Berauschte schon darauf verzichtet, auszusprechen, was ihn wirklich bewegt, daß er sich bemüht, etwas Beiläufiges, Unernstes an der Stelle des Eigentlichen aber Unsagbaren zum Ausdruck zu bringen…, daß – dies ist das Merkwürdige und der Aufklärung sehr Bedürftige – das gewissermaßen auf Abbruch Geäußerte weit merkwürdiger und tiefer sein mag als das, was dem Gemeinten entsprechen würde.“ Vielleicht ist das auch die Verbindung zwischen Imaginationszuständen des Haschischrauschs und solchen der Dichtung, oder der Verselbständigung von Sprache im poetischen Wahrnehmungsprozess, eine geistige Verfassung, die Benjamin gemeint haben könnte, als er vom Denken als von einem „eminenten Narkotikum“ sprach. Nach dem Geheimnis des Struwwelpeters ließe die poetische Wahrnehmung Geschenke regnen, die die Welt verschleiern und das Schleiergesicht der Dinge zeigen, Geschenke, ohne die man vielleicht „sterben oder fortfliegen“ würde wie die Kinder im Struwwelpeter.

18. Mai 2010 12:39










Sylvia Geist

Bougainvilla

Zu einer Tageszeit ist sie köstlich, nämlich
wiedergefunden auf den Fluren des Hotels
Hochsommerfrühling, wenn du, im Knast aus Wald
Tapete tasmidisch an Sesshaftigkeit vortäuschenden
Blättern würgend, nicht mehr reden willst, wenn nicht
der Allüberallbeo den Vorhang seiner Flügel öffnet und sich
zeigt, was du nicht verkennst noch vermagst, die Welt im
Ornat einer Welt, die geliebt wird, sich fallen lässt irgendwo
in einer Dienstagnachmittagminute im Aufwind
des Fahrstuhls, beziehungsweise stehenbleibt in voller Blüte
mitten auf dem Entsetzenspurpur des Teppichs, wenn du
sie schon übergehen willst auf der Reise nach Jerusalem,
Samsara, Eden, abbiegst, abbrichst, wenn sie dir zufällt
als Situation oder als Drehtür zur Tag-und-Nacht
Gleiche, als davorlos, als Goldwaage, geeicht auf alles,
was du herzlichst und ausschweigst, als waghalsige
Schlüsselblume, als Name für Bougainvilla, dann

20. April 2010 17:28










Sünje Lewejohann

in den hirschen II

legt seinen schönen körper
in sanftesten scheiben auf den teller diese
hirschgabe und doch
ganz weiß sein weißes fell in der erinnerung noch
sein großes rudel am gesäuge tröpfchen für tröpfchen genährt
an dem tag als der fremde ertrank im tückischen flüsschen
gewarnt hatte ich dich milchmaul
erstens: niemals von zuhause fortgehen
und wenn dann das dach mitnehmen den misthaufen die hohle eiche
zweitens: immer den teller leer essen einen
für den lieblingshund einen für die jungen kriechenden katzen
einen für die hand deines vaters einen für das gurgelnde rudel
einen für die mutter im fluss
in der nacht wird man sich erbrechen
drittens: trag den frost auf den armen ins dorf
einen für die ganze welt.

9. April 2010 08:37










Sylvia Geist

Quecksilber

zwischen wach
und wacher geteilt in schweiß und brand war
es so mein schrecken in kindlichen fiebern? die stiegen
mmmmin einen körper den es noch nicht gab oder
nicht mehr. der fror. eine blühende haut um
mmmmdie geister sich scharten. sommer in den kapillaren
mmmm mmmmder zweige vor dem fenster und das gesumm
mmmm mmmm mmmmaus dem zimmer nebenan geweht in mein draußen:
irgendein keim… übern weißen fleck wand lief das stirnding
mmmmdas geht jetzt um auf wunderlands äckern also vorbei.
orientieren nach

echos echo
tieren nach dem mit dem horn über die
augenweide fand ich nicht heim machte nicht halt… her
mmmmwas kalt macht! löffel wie widerworte auf die zunge
gezwungen bis die schatten schulter an schulter zusammen
mmmmgewachsen – vater mutter die ausgedachte schwester und alle
mmmm mmmmtröstlichen gesichte – gegen morgen hin zu keinem verschwammen
mmmm mmmm mmmmim lichte der erde aus kunststoff meiner einzigen
lampe. was könnte friedlicher sein als die hitze vergangen
mmmmunterm gegenzauber eines pilzes die rückkehr aus langen ferien
von allem

die begrüßung
der dinge die man wiedererkennt nach der umschrift
früherer rezepte: verdünnung aufguss surrogat. das märchen von zuhause.
mmmmaber da stand das haus. die leergeregnete kirsche und
der rest der welt. mad as a hatter
mmmmhöchstens noch die wühlmaus die aus ihrem garten
mmmm mmmmunter dem rasen nichts vertrieb sowie das wetter
mmmm mmmm mmmmdas über die scheiben strich und schrieb. genesen
sagte mir nichts. zur nacht wurde es klar. verankert
mmmmin ihrem funkelpelz der baum. das tropfen. es hieß
fort gewesen.

25. März 2010 14:17










Sylvia Geist

Bodum

Rätsel, ist das nicht eine Begebenheit, wären es drei,
sieben, neun, die man behielt, weil sie einander folgten.
Auch der Satz, das um uns sei magisch, ist es nicht
weniger als die Geschichte, die ihn beweisen soll, oder
der Küchentisch, an dem ich meinen Zug verpasse,
um davon zu hören, und es dauert kaum länger als
ein Entenplätschern, ein Quaken, sich irgendetwas
vorzustellen. Standhafter bleiben die übrigen Aufgaben,

die Mechanik der Kaffeekanne, beim Säubern des Filters
die Ratlosigkeit vor Teilen, bis einem das Ganze wieder
bekannt vorkommt. Zur Geschichte: weder die Nummer,
von Kindern oder Böen gekritzelt auf die Staubhaut
des Wagens, in dem jemand dem Unfall entkam, noch
dass ich beten lernte, bevor es mich rettete vor einem
grauen VW Passat, ordnet, was uns übern Kopf hinweg
passiert, an zur Formation, etwa der eines Pfeils Enten

in eine bestimmte Himmelsrichtung. Eine übrigens holte
mich mal aus ganz kurzem Flug, knallte auf das Wasserloch
bei der alten Zünderfabrik, wo ich damals wohnte, nachts,
so dass ich nicht mehr weiß, ob ich denn meine Arme hatte
ausbreiten müssen. Die Dinge träumen, lesbar wie das flüchtige
Zusammentreffen der Schwerkraft mit den Teilchen am Grund
dieser Kanne. Rätsel, am liebsten ist es mir unerschütterlich
als Kaffeenebensatz, wenn es heißt: „Dreh den Boden um.“

für Dieter M. Gräf

13. März 2010 15:20