Thorsten Krämer

Ein Käfig für einen lange verschollen geglaubten Steuerbescheid

Wir müssen uns diesen Käfig als temporäre Intervention denken. Er ist nur ein Behelf, aber das mindert nicht seine Bedeutsamkeit. Seine Wichtigkeit besteht in jedem Wort, jeder Zahl seines Inhalts. Um diesen Inhalt zu schützen, ist der größte Teil dieses Käfigs immaterieller Natur. Ein dickes Polster aus Nichts umgibt zwei Blätter Papier, doppelseitig bedruckt. Nur an zwei Stellen wird dieses Nichts durchbrochen: Eine auseinander gebogene Büroklammer hat sich bei einer weiteren Büroklammer untergehakt, die wiederum die beiden Blätter zusammenhält. Das Ende der ersten Büroklammer läuft auf einen spitzen Punkt zu, der ein winziges Loch in das Nichts gestochen hat, durch welches dieser Käfig im Notfall zu öffnen ist. Bislang ist dieser Notfall noch nie eingetreten. Es bleiben noch acht Jahre; danach ist ein Eintreten des Notfalls zwar möglich, aber nicht mehr relevant.

24. November 2017 19:18










Thorsten Krämer

Das Eichhörnchen

Ankomme Freitag STOP Halte Nüsse bereit STOP

Planänderung STOP Ankomme Donnerstag STOP Nüsse vorhanden STOP

Keine Nüsse STOP Falsche Adresse STOP Reise verschoben STOP

Ankomme Sonntag STOP Sind zu zweit STOP Abholung erwünscht STOP

Krank STOP

Wieder gesund STOP Ankomme Dienstag STOP

Zwei Stunden gewartet STOP Niemand da STOP Was war los STOP

Entschuldigung angenommen STOP Freitag optimal STOP

Finde Nüsse nicht STOP Samstag besser STOP

Nüsse verfault STOP Großer Hunger STOP Bin unterwegs STOP

Tauwetter STOP

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

7. Oktober 2017 15:45










Thorsten Krämer

*

Der Moment in dieser Bucht vor Cres, wenn du in der Sonne
auf dem Deck stehst, um die Badehose zu trocknen (denn zum
Wechseln hast du nichts dabei), und dein Blick verliert sich
in den Wellen, die sich unscharf überlagern und ein Muster
bilden, das dich fortziehen will von diesem Boot, fort von
allem, was dich hält, hin in ein anderes Leben, eine neue
Existenz — bis dir dann einfällt, dich zu drehen, damit
auch die andere Seite trocknen kann.

3. Oktober 2017 08:52










Thorsten Krämer

Ein Käfig für die Aufzucht von Unterlassungsklagen

Man braucht vier komplette Sätze Registerkarten, alphabetisch geordnet. Diese werden am 7. des Monats in zwei getrennten Sitzungen (die Pause dazwischen sollte mindestens eine Stunde dauern) auf vier gleich große Plexiglasdreiecke geklebt, den Rand entlang. Zuerst die Vokale, dann die Konsonanten. (Wenn der 7. des Monats gerade erst vorbei ist und man nicht so lange warten will, geht auch der 22. des Monats.) Als nächstes lässt man im Baumarkt eine quadratische Buchenholzplatte zuschneiden, wobei die Seitenlänge so zu wählen ist, dass sich aus dem Quadrat und den Dreiecken eine Pyramide bilden lässt. (Buchenholz ist hier als erste Wahl zu verstehen, Lärche oder Eiche tun es zur Not auch. Und wer handwerklich geschickt ist, kann den Zuschnitt natürlich auch selbst besorgen. (Es ist auch der Fall denkbar, dass kein Baumarkt in der Nähe ist, dann führt ohnehin kein Weg am eigenhändigen Zuschnitt vorbei, es sei denn, man hat zufällig gerade eine Platte in der passenden Größe zur Hand.)) Bevor die fünf Elemente nun zusammengeleimt werden, schneidet man in jedes der vier Plexiglasdreiecke ein Loch. Das ist wichtig, um später das Streugut leichter wechseln zu können. Wem das zu aufwändig ist, der kann einfach eines der Dreiecke weglassen und stattdessen an dieser Seite zwei große Kochlöffel anbringen. (Wer die Möglichkeit hat, günstig an Küchenzubehör zu kommen, kann auch alle vier Seiten der Pyramide durch Kochlöffel ersetzen. Die Registerkarten werden in diesem Fall nicht benötigt.)

8. September 2017 16:15










Thorsten Krämer

Ein neuer Fisch im Schwarm: Jonis Hartmann



Jonis Hartmann lebt in Hamburg und arbeitet als Autor, Kritiker, Veranstalter und neuerdings auch als Literaturzeitschriftenmitmacher. 2016 erschienen sein Lyrik-Debüt „Bordsteinsequenzen“ im Elif Verlag und der Literatur Quickie „B-Texte“ mit Kurzprosa.

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Idee von einem Satz

Gestern sagte mir jemand, dass die Gedichte dieser Tag wie Prosa wären und die Prosa wie Müll. Wenn ich heut Abend jemanden träfe, könnte ich sagen, dass Worte Gefangene sind oder Entdecker, aber das wird nicht der Fall sein, denn heut Abend verlassen wir die Erde. Wie dumm von mir, nichts erwidert zu haben. Jetzt heißt es warten.


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Herzlich willkommen, Jonis!

30. August 2017 07:53










Thorsten Krämer

*

Der Moment am Waschbecken, wenn du ins Innere
der Tube schaust, die Reste Zahnpasta in trübem
Rosa, wie Schimmel sieht das aus, die isolierten
Klumpen an der messingfarbenen Beschichtung, die
sonst kein Licht sieht und auch jetzt ganz stumpf
bleibt, trotz der Morgensonne, die grell die Szene
überstrahlt — ein bloßer Akt der Sparsamkeit, der
unversehens ins Obszöne kippt.

2. August 2017 11:07










Thorsten Krämer

Ich habe dein Deo vergraben und bereue

es nicht; ich lege mich mit dem Wind an, denn
er riecht nicht nach dir. Dabei bin ich sonst gar
nicht der streitsüchtige Typ, du kannst das
bezeugen, im Gegenteil: Ich stifte Frieden

zwischen Berg und Meer, du hast mich als
Botschafter gleich akzeptiert. Aber auch
die Symbolhandlungen sind letztlich nur
Ablenkungen, wie der Zangengriff um die

Nase, wenn die nächste Welle kommt. Ich
inhaliere jetzt nur noch auf Lunge und nehme
die Spätfolgen lächelnd in Kauf. Das gelobe
ich freihändig in diesem Moment höchster

Luzidität. Oder wie nennt man diesen legalen
Zustand des Weggeknalltseins?

28. Juli 2017 09:14










Thorsten Krämer

Ein handlicher Käfig für unterwegs

Ein Tischtennisball, in den mit einem Skalpell fünf Löcher von jeweils drei Millimeter Durchmesser geschnitten wurden. Zwei Grashalme, die Enden dick verknotet, sind derart durch vier der Löcher gezogen, dass sie sich im Innern kreuzen. Ist der Käfig in Gebrauch, steckt im fünften Loch ein Streichholz, dessen Kopf exakt den Mittelpunkt des Balles bildet.

20. Juli 2017 15:24










Thorsten Krämer

Ein Käfig für ein brennendes Auto

Eine geruchlose Masse, zäh wie Kaugummi, wird in Form gebracht durch einen darin befindlichen Luftballon, dessen langsames Aufblasen vom Abspielen der italienischen Nationalhymne begleitet wird. Nach dem Zerstechen des Ballons wird die verbleibende Öffnung vorsichtig geweitet. Dort hinein gibt man ein methodistisches Gebetbuch, zwei abgebrochene Schlüssel, eine Perücke aus Echthaar, die Gummifüße einer Leiter, fünf gefaltete Adressaufkleber und eine Meerschaumpfeife. Alles gut schütteln und eine Woche stehen lassen. Dann das brennende Auto behutsam einführen.

7. Juli 2017 21:30










Thorsten Krämer

Das Nilpferd

Was ihr über mich zu wissen meint, ist nur das, was ihr über mich zu wissen meint. Es hat nichts mit mir zu tun.

Der Aphorismus ist mein Habitat. Ich fülle jeden Satz aus.

Ich folge dem Lauf meiner Gedanken, bis er mich in die Irre führt. Dann wird aus dem Lauf ein Gang, ein Treiben, ein Schwimmen, Trudeln und Kreiseln, und aus den Gedanken ein großer Haufen Grünfutter.

Aus meinen Ohren wächst ein entzücktes Händeklatschen. Die Abfolge von Ursache und Wirkung ist immer schon amphibischer Natur.

Ich kann, wenn es sein muss, auf einem Grashalm balancieren. Aber ich führe keine Kunststücke vor.

Der Glanz meiner Haut ist ein Monument der Feuchte. Der Schlamm ist Erde, die ihren Horizont erweitert hat.

Wir müssen über mein Maul sprechen, mein riesiges Maul: Es ist der Kurzschluss meiner Existenz. Es ist der Mond, der sich öffnet und schließt. Es ist ein Widerschein, eine Ablenkung. Mein riesiges Maul ist nichts anderes als eine Abstellfläche für meine Zähne, meine riesigen Zähne.

Wenn mein Hunger zu groß wird, schwebt er davon. Ich schaue ihm hinterher, bis er nicht mehr zu sehen ist.

Luft und Wasser sind keine Gegensätze, sogar die Fische atmen. Ich bin ein Gegensatz.

Jede meiner Bewegungen ist eine Frage, eine Antwort und ein Lachen. Jedes Lachen ist die Negation der Bewegungslosigkeit. Jede Negation bewegt sich anders. Wenn ich müde bin, stelle ich selten Fragen. Wenn ich schlafe, gebe ich seltsame Antworten.

Das Riesige ist keine eigene Kategorie. Es ist nur das enthemmte Kleine.

Bei Regen bin ich intelligent. Der Rhythmus der Tropfen, die mich treffen, diktiert mir eine neue Erkenntnis. Ich stampfe mit den Füßen, um sie nicht zu vergessen.

Die Konsequenz meide ich konsequent, sie ist mein einziger natürlicher Feind. Aber manchmal schauen wir uns gemeinsam die Sterne an.

Alles, was ihr nicht über mich wisst, ist wahr.

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

9. Juni 2017 07:06