Mirko Bonné

Kreuzspinne

3

Sieht im Spiegel
des Menschenfensters
das eklige Tier,

weißes Kreuz, Achtbein,
die pralle Leibbeere
wie ihre: ich.

Vor dem Glas hängend
bestarrt sie ein Kleid, rot,
Courbets Kornsieberin.

Vorbeifliegen Tage.
Und Laub trudelt
ins rauschende Gras.

*

16. Dezember 2010 17:15










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER IX

Das neunte Zeitalter spielt mit sich selbst als Unglücks-Neun. Als Zeit odysseeischer Unglückstage und als Stunden auf Golgota. Jetzt, gerade jetzt, verwandelt es die Neun in Wasser zurück. Vom Lindenblütentee. Glasweise. Tassenweise. Von Hand anstatt zu Fuß. Doch nur ein Lindenbalken. Das reicht zum Schweben nicht. Neinnein, in keinem Fall. Neun Jahre stirbt Odysseus jetzt seinen berühmten Tod am Kreuz. Von wieder manchem Kirchturmhahn verlassen. Keiner je gewesen. Keiner.

14. Dezember 2010 17:43










Hans Thill

Ortsveränderung: Die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF hatte ein Bretone ganz hinuntergeschluckt. Jetzt hieß der Flecken nach den Fischen eines nahegelegenen Teichs, in dem die Bauern ihre Traktoren wuschen. Wir hörten in den Monokulturen den Zucker steigen, als wir trockenen Fußes auf dem heißen Band der Wirtschaftswege trabten, klopften wir mit Stöcken auf den weichenden Belag.

14. Dezember 2010 16:27










Markus Stegmann

handlose

ohne dass zu fest verferste lieder an augenränder
schlagen fällt magerer mäusekot knappes resultat als
ginge ganz hirschberg beim leimholen mit cranach
getünchte helden wessen hermannstadt hörten
parteilose knöchel der handlosen erde der erdenklichen
hirschherde elfenbein meine meterlangen hörschnüre
nur solange deine lippen noch schlagen mäandernde
moldau beim namen „nerventapete“ gewisperte
hülsen lautlos wie vergessene venen

12. Dezember 2010 00:47










Björn Kiehne

Advent

Über Schneefelder geht der Wind,
Stille breitet sich aus,
das Heu wartet auf das Kind,
Kerzen leuchten uns nach Haus.

Der Himmel zündet Lichter,
friedlich ruht der See,
über müde Gesichter
streichelt der kalte Schnee.

Ein Engel kommt herbei,
spricht zu deiner Angst,
daß nur soviel Hoffnung sei,
wie du hoffen kannst.

11. Dezember 2010 15:11










Thorsten Krämer

Code connu

IX.

die Drohgebärden einer Abreise

die Regenwald vernichtende Rechnung

dein im Dunkeln leuchtender Kuli

ansonsten ein Zug, der nicht hält

das Schweigen einer Privatisierung

ein Pfeil, dessen Spitze relativiert

dein angeborener grüner Pullover

eine unbeworbene Matinee

ansonsten ein leichtes Kaliber

die Grundlegung einer Geheimsprache

deine interaktive Tasse

11. Dezember 2010 14:29










Mirko Bonné

Kreuzspinne

2

Sitzt den ganzen Tag lang
still auf dem klebrigen
unsichtbaren Balkon,

zitternd mit dem Wind,
während nichts passiert
außer Blechschlangen.

Nachts, Knacken der Bäume,
seilt sie sich ab, trinkt
vom grauen Gras.

Tausendbeiniges Nieseln,
droben Gottes Augen,
der die Fliege nicht liebt.

*

9. Dezember 2010 10:54










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER VIII

Das achte Zeitalter streicht sich schon als Genesung ein. Ein Seufzen legt sich sich selbst als Lippen nahe. Das polyphone Knistern hinter diesen Lippen, wie es die Kindern mögen. Brausepulver, hibiskusfarben, mit lindem Lindengeschmack. Jetzt stellt das alle Kirchenuhren vor. Um schneller groß zu werden. Und steigt dann musikalisch in die Wetterhähne ein. Denn Umschwünge weichen und weichen, bis auch in diesem Klingen die Tonlosigkeit erreicht ist, die Lehm-Losigkeit. Jetzt.

7. Dezember 2010 16:08










Hans Thill

Ortsveränderung: Die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF hatte ein Sektierer seinen Katzen vermacht. Kinder saßen in den Binsen, jedes so ein Stück Fell in der Hand. Die Stengel auf den Feldern waren zerbissen, aus dem Kirchenportal hörte man Streichmusik. Es war wie in alten Bildergeschichten (Epinal): die Früchte stapelten sich bei den Stallungen am Ausgang. Hatten die Frauen an Spielgeld gerochen? Waren die Männer auf Motoren unterwegs?

7. Dezember 2010 11:12










Gerald Koll

Die Nacht

07:09

Siebenuhrneun
wendet sich ein Austernfischer ab.
Siebenuhrneun
steht an der Stirn der Mole ein Leuchtturm
Siebenuhrneun
verrutschen Kiesel, huschen Kaninchen, hängt ein Kasten wie gewohnt, doch

genau jetzt
steht
da
die Sonne
siebenuhrzwölf

zieht sie die Wolkendecke wieder über
siebenuhrzweiundzwanzig
saugt sie am Rosa, glüht und gähnt
siebenuhrsiebenundzwanzig
vertagt sie noch einmal den Dienstantritt
siebenuhreinundreißig

erfolgt, geschieht, ereignet sich der dritte gloriose Auftritt: DIE SONNE
gießt Rubingold in die Wellen: irgendwie sehr peinlich.
Die Lotseninsel wendet sich zum Tagewerk.
Nun gute Nacht, ihr nachtaktiven Mücken
in eurem Heckenrosenparadies.
Der Handwerker ist auf dem Weg zum Schuppen: „Moin!“

(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)
Mit Dank an Inga Banse und Jörg Grabo

6. Dezember 2010 01:17