Mirko Bonné

Liveübertragung

Am Morgen kroch wieder der Dunst über
die kaputten Wälder, die geraden Felder,
wo Rotwild herumstand, Wanderer durch
Zerstörung marschierten, Fasane fragten
nach dem Gewicht des Lichts. Espenlaub
im Nieselregen, das sauerländische Fach-
werk auf stumme Landschaft übertragen
oder umgekehrt, und Korrespondenten
Mauersegler, regennass im Lärmen der
Stille, durch die sich in lieblichem Blau
ein Laster (Frische kennt keine Grenzen)
zum Autobahnkreuz schob – alles sagte
Sieh hin, hast du im Kopf keine Augen,
genau so bist du, und du gehörst dir.

*

5. Juni 2009 22:48










Carsten Zimmermann

was sache ist

was-sache-ist

5. Juni 2009 16:46










Hendrik Rost

Tabu

Das Eis ist dünn, ich gehe weiter auf den See hinaus,
betrete das klare Wasser, unter mir Algen und Fische,
die sich nicht rühren. Ich gehe bis zu der Stelle,
wo das Mädchen aus meiner Klasse eingebrochen war,
wir haben sie später besucht, die Haut wächsern,
kalt sah sie aus, die Hände gefaltet, getrocknet.
Das Eis ist sehr dünn und es knirscht an der Stelle,
die am weitesten vom Ufer entfernt ist. Ich betrete
die Stelle und bin ihr ausgeliefert. Unten Fische.
Ich stehe auf so dünnem Eis, wie Traum im Schlaf
eine Hülle bildet, auf der sich Dinge abspielen.
Manchmal bricht etwas ein, und ich wache auf.
Ich weiß, die Toten sind nicht schlechter als andere,
sie wissen, wie es sich anfühlt, erinnert zu werden,
sie kennen die Kälte von innen und gehen im Winter
unter die Haut. Ich gehe auf dieser Schicht spazieren
und breche ein Verbot. Das ist mein Versprechen.
Wenn ich aufwache, werde ich klüger sein und wach.
Ich bringe Kälte ans Ufer mit. Ich erinnere mich.

5. Juni 2009 16:29










Sylvia Geist

Strontium

hiesige himmelsrichtungen
nach zehrschäden und heuschreckenvöllerei zu bestimmen wäre leicht
südliche lebensläufe zu unterscheiden von solchen aus unseren provinzen
    ein kinderspiel in jahrhunderten die heimat unserer leibspeisen festzustellen
gäbe es schon methoden. übrig blieben überallkarten in
knöchernem esperanto

vollständiger entschlafen
in einem künftigen smithsonian als im erdarchiv die
vor uns. niemand der sie lesen könnte – besonders nachts
    wenn du die ganze straße überblicken könntest weil niemand
dich ablenkt davon reist der glaube weit. aber
nicht allein

zu sein
ist ein zimmer im raum. im dunkel wohin
wir dauernd unterwegs sind die gezähmte landschaft ringsum auch
    die blüht ihre große rapsfeldfreude die lautstärke am mittag
und wie es sein kann mit plänen und
auf lavendeltreppen.

    Schön, dass Du hier bist, lieber Martin!  

     
5. Juni 2009 14:27










Sünje Lewejohann

PETER LAUGESEN IM RITTERSAAL AUF HALD

schreib tiere.

schreib große worte und kleine,

schreib schnecken ins gras und vögel auf zweige.

schreib all das weswegen und zu ehren von,

schreib all die großen, all die kleinen.

schreib wörter.

das ist, was du verlieren und einbüßen wirst,

was du suchst und tust, was du findest und bist.

schreib deinen aschenen kajak auf den spiegel des sees hinaus mit allem,

was vergessen und verschwunden sein wird,

all das

und dann lass die mätzchen fallen.

(Peter Laugesen, Skriv dyr, Übersetzung: Sünje Lewejohann)

5. Juni 2009 11:34










Björn Kiehne

Ahrenshoop im Mai

Salz, Wellen, Sand,
meine gefalteten Hände
fangen den Wind,
flechten den Salzatem
in ihr schlichtes Gebet.

Im Bodden wispert das Schilf,
im Nordmeer singen die Wale,
am Himmel schreibt eine Möwe
mit Federkielen hundert Zeilen
an die Wolken, die Weite, das Meer.

Und könnte ich singen,
bliebe ich doch still.

Und könnte ich schwimmen,
täte ich es doch nicht.

Und wäre auch nur ein Gedanke sinnvoll,
spräche ich ihn nicht aus.

Nur Lauschen,
Rauschen.

5. Juni 2009 10:38










Martin Zingg

Arrest

Immer erst mal ins innere Archiv,
das ungeräumte, räumen wäre kein Ende:
 
die Tassen, ja, blaue Landschaften
wie diese, und war so ein Teppich nicht das,
 
worauf man trat beim Besuch jeweils,
oder dieser Stich, der Dom von Utrecht:
 
ein Stich in den Himmel über allem,
Stativ einer Zeit ohne Aussicht
 
Darauf nicht vorbereitet, nicht wahr,
was zufällt, zerfällt, Archivbestand Ich:
 
Aushub mit Weckreiz, ein Aufhorchen, -blicken,
ist hier denn was zu holen, was denn

4. Juni 2009 21:42










Hans Thill

Martin Zingg

Seit der Romantik hat man sich immer wieder die Frage gestellt, was ein poetisches Leben sein könnte. Vivre poétiquement: für Baudelaire hatte der Dichter cool zu sein, Jarry fuhr mit dem Fahrrad durch Paris, eine Flinte auf dem Rücken, Brecht ließ die Zigarre nie ausgehn. Ganz anders Martin Zingg, für den das poetische Leben Engagement und unermüdliche Tätigkeit bedeutet. Als junger Mann hat er die Zeitschrift Drehpunkt begründet (zusammen mit Rudolf Bussmann), die nicht nur für die schweizer Literatur ein solcher geworden ist. Er hat in 25 Jahren 125 Nummern herausgegeben, bis ins Jahr 2006. Er ist ein einfallsreicher, verlässlicher Vermittler, Rezensent, Übersetzer, Journalist. Er schreibt konzentrierte, eigenwillige Gedichte, die man viel zu selten liest. Das soll jetzt anders werden. Willkommen, Martin Zingg, im Goldenen Fisch!

4. Juni 2009 18:15










Thorsten Krämer

Interiors

Das Ergebnis von fünf Tagen Arbeit: ein Jungentraum in hochauflösender Grafik. Das Bett groß genug für Vergnügungen aller Art, an der Wand ein Flachbildschirm in Leinwandgröße. Statt eines einzigen großen Fensters gibt es ein asymmetrisches Muster von mehreren Scheiben, eingearbeitet in ein Regalsystem, dessen Ablageflächen nur spärlich belegt sind: ein großformatiger Bildband, die in futuristischem Weiß gehaltene Dockingstation eines MP3-Players, als Retro-Element ein Paar Baseballhandschuhe. Durch die Scheiben hindurch schimmert die generische Landschaft. Der Lichteinfall wirkt lebensecht, die Oberflächen sind mit genügend Details ausgestattet, um das Bild auf den ersten Blick real wirken zu lassen. Das Rendering ist makellos, die Rechenleistung hinter dem Projekt kann als ein Versprechen auf das Dargestellte selbst gesehen werden: Eines Tages wird ein menschlicher Körper seinen Schatten auf dieses Bett werfen, in Dubai oder anderswo.

3. Juni 2009 18:05










Mirko Bonné

Levkoje

Wo ich gestern erst ankam, lebendig
von Neugier, riss man den Bahnhof ab
Trümmer lagen hinter Maschen-
drahtstellgittern

und im Nieseln ein Beton- und Glasflach-
bau unter Bäumen für Bäcker, Super-
markt (Wir lieben Lebensmittel.)
Kranzfachhandel

wo die Blumenverkäuferin Grün trug. Mit
dem Gewicht einer Levkoje beschäftigte sie
die Bestürzung von mir Fremden
Bahnhofslosen

bis ich mir sicher sein konnte, sie dachte
beim Binden von Gerbera, Astern, Iris
wie ich, der ihre Blumen bestaunte
an mein Begräbnis und ihres.

*

2. Juni 2009 13:34