Sylvia Geist

Gewendetes Gelände

Gewendetes Gelände 2 © Kai Geist

© Kai Geist

18. August 2009 19:53










Hendrik Rost

Kleine Theologie

Ich versuche, die Fliege zu fangen,
aber die Fliege sieht das anders.
Ich habe es noch nicht begriffen.
Der Käse, auf dem sie sitzt, ist
schon etwas älter und wellt sich
an den Rändern. Ihr ist es egal.
Ihr Rüssel speichelt seelenruhig
auf das Milchprodukt. Ich nähere
mich hinterrücks und weiß, Augen
mit Flügeln und Beinen sitzen da;
so gut wie unmöglich. Aus ihrer
Sicht ist alles absolut köstlich
und wert, ein Leben zu riskieren.
Meine Hand schwingt ins Leere –
das Schlagen, Fliegen, Schwelgen,
alles passiert in einem Augenblick.
Dann ist sie wieder da und reibt
die Hinterbeine auf der Scheibe
Käse. Sie triumphiert und spottet.
Damit kann ich leben. Sie vergibt.

18. August 2009 16:27










Andreas Louis Seyerlein

~

0.01 – Ein seltsames Geräusch, das mich weckte, als würden singende Grillen in meinem Zimmer sitzen. Ich stand dann auf und träumte in der Küche, während ich das Frühstück machte, noch etwas weiter, aber bald hörte ichs wieder, das Geräusch durch den Flur um die Ecke. Nein, Grillen waren das nicht, auch keine heiseren Vögel. Was ich hörte, war das glückliche Trompeten einer Herde Tiefseeelefanten, die im Aquarium zwischen Johnson und Melville im Kreis herumspazierte. Nicht größer als Murmeln und von tiefblauer Farbe, tasteten sie mit haarfeinen Rüsseln im Sand und an den Scheiben. Die ein oder andere Dschungelpflanze hatten sie, während ich schlief, aus dem Boden gerissen, überhaupt war die Landschaft, die ich seit Jahren kenne, in Aufruhr geraten, Muschelhäuser segelten durchs warme Wasser, auch Panzerwelse und ein paar Sumatrabarben, ohne Fassung, wie irr, mit dem Bauch nach oben. Ein faszinierender Anblick, ein Tollhaus. Wie ich mich liebevoll über das Aquarium beugte, hoben sie ihre Rüssel aus dem Wasser und ich spürte den Luftzug ihrer Instrumente auf der Stirn. Und jetzt ist Mitternacht geworden, das Ende eines wunderschönen Tages der Beobachtung, den ich auf meinem Gartenstuhl verbrachte. Ich habe weder gelesen, noch sonst gearbeitet, nur geschaut habe ich und gestaunt.

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18. August 2009 16:02










Mirko Bonné

Prinsentuin

alles van waarde is weerloos
Lucebert

Alles Wertvolle ist wehrlos,
24 riesige Leuchtbuchstaben
auf einem Versicherungsgebäude
in der Nacht über Rotterdam,

inzwischen stehen sie bestimmt,
vielbestaunt, unter Denkmalschutz,
einmal im Monat steigt einer hinauf
und prüft Schweißnähte und Strom.

Oder sie wurden abgerissen, wehrlos,
aber was heißt das, da die Poesie
auf Erden nie tot ist. In Amsterdam
rollten ein Jahr lang die Müllwagen

beklebt mit Gedichten durch die Stadt,
und zu Lesungen, für die sie warben,
an den Grachten unter Zitterpappeln,
kamen auch Müllmänner in Scharen.

Einmal stand ich am Ufer der Aa
in Groningen vor einer Hebebrücke,
und als sie hochfuhr, war ein Vers
von Kopland auf dem Stahl zu lesen,

die Dinge sind nicht, wie sie zu sein
scheinen, aber sind auch nicht anders.
Was sind sie, fragte ich mich dann
auf der Brücke, wehrlos, wertvoll,

und fand die Antwort an der Wand
des Pissoirs im Prinsentuin: Poesie
ist alles, selbst was zu Poesie
erklärt wird, ist schon Poesie.

*

15. August 2009 14:54










Thorsten Krämer

Kolbhalle

Der Schlafmangel, die Vorfreude.

Die endlos lange Gästeliste bei denkbar günstigem Eintritt, die Afrikaner
aus der Nachbarschaft, der Bauwagen, die drei Mann an der Theke, die
alle keinen Plan haben, die Sommerluft, die Couscous-Mädchen
ganz in Schwarz, die Stolperfalle Feuerstelle, die Tische, die
Bänke, und jemand sagt das Wort psychotisch.

Der DJ im Anzug, das Wasser umsonst, der Schäferhund mit dem rot
leuchtenden Auge, das Gerede, das Herumsitzen, das genaue Ausloten
der Schallverhältnisse, die eine Musik, die andere Musik, die Suche
nach dem dritten floor, das Fleisch-Mobile, das Tanzen.

Das Tanzen.

Die Handyfilme, der Engländer, der im Bogen pinkelt, das Betrunkensein
als Kunstform, die erstaunlich bunten Lichter, die Frau, die auftaucht
und verschwindet, das Gewusel, die verbrannte Hand, die Stahltür
unter Strom, und plötzlich stehen da die 80er, mit grauem
Zopf, und sagen: Hier sind ja viele scharfe Bräute.

Das Künstlergefasel, die Beschimpfungen, das Geräusch des Regens
unter den Sonnenschirmen, die Gesichter, die Plastikbecher auf dem
Boden, der Rollstuhl zum Ausruhen, die Soba-Mädchen ganz in
Schwarz, das immer allmählichere Vergehen der Zeit.

Die Gegenwart, das Wachsein.

(für Christian Bernhardt)

13. August 2009 10:46










Björn Kiehne

Mit meiner Hände Arbeit

Der Monitor erlischt.
Über dem Schreibtisch
machen sich meine Gedanken
auf den Heimweg.
Die eine Frage aber bleibt:
Ob es reicht?
Kaffeestimmen stolpern durch die Tür.
Der Bildschirm starrt.
Was habe ich heute geleistet?
Einmal
die Welt
um sich
selbst
gedreht.

11. August 2009 20:32










Hans Thill

Mundorgel: Madagaskar

hoi die Pflanzen übersprangen
unsere Zäune und in den Drähten
waren das Insekten? Wir lauschten
am Mast Honig im Ohr Käpten
der am Tropf hängt Windsammler
mit einem Schlag beim weißen
Geschlecht das wünschte er sich hier
Staub nahmen wir von der Erde
preßten ihn zu Öl

6. August 2009 10:29










Hendrik Rost

Überlieferung

Der älteste Mensch der Welt ist müde
geworden in mir, er hat seine Gründe,
Faulheit, Krankheit, Liebe, Krise –
aber das geht niemanden etwas an.
Ich lege mich hin mit ihm, Fernseher aus,
Nachbarn verreist. Das Bett ist gut, müde
ist gut, ich selbst bin alt für den Moment.
Keiner Zeitung würde ich sein Geheimnis
verraten: Fisch, Leinsamen, Lebenslust
oder jedes beliebige Mittel zu überleben.

Er wird mich wecken, wenn er will, still
ist es, still, ich könnte sterben jetzt oder
leben trotz allem, was er durchgemacht hat.
Aber das geht niemanden etwas an im Moment.
Er rekelt und streckt sich in meinem Körper
wie in einer Tierhaut, gejagt, erlegt, geliebt.
Was dann folgt, ist der schwierigste Teil.
Seine Erfahrung, sein Schlaf, mein Verfall.

5. August 2009 15:12










Mirko Bonné

Die Kinder der Sommerinseln

The ball I threw while playing in the park
Has not yet reached the ground.

Dylan Thomas

Hier sah ich im Scheinwerferlicht die Nacht;
ich war ihre unsichere Mitte, elf oder zwölf,
pflügte auf dröhnenden Gefährten Dunkel um
und verschlang am Tisch der Bauern zu Mittag
Kaninchen. Wir waren Sommerinselkinder,
gelandet mit den Glanzstaren aus Afrika;
Ameisen im Fleisch, in Venen die Scheu,
türmte ich Strohbarren auf Goldstoppelfelder.

Hier fuhren wir mit Rucksäcken zur See;
als Küste bauten wir das Zelt in den Regen
und lasen, 16, 17, zu Dosenravioli Fern Hill.
Fähren hießen nach Präsidenten und Prinzen
und setzten uns jährlich von hier über den Belt
nach Seeland mit Ziel Kattegat; wo Meer war,
wird wieder Meer werden, schrieb ich ins Blaue
und nahm die Insel mit auf jede neue Insel.

Immer noch landen hier Zugvögel und fliegen
Wetter heran und vorbei; nicht alt, nicht jung, 44,
spiel ich im Kleegras unter dem Schwalbentor
Raubtierfütterung mit den Kleinen, altes Brot
den Kaninchen. Die große Brücke wird gebaut,
der Kongo kauft die Schiffe, Durchgangsverkehr
schleust die Kinder der Sommerinseln vorüber
ins Licht; Fehmarn farvel! Hier lag die Nacht.

*

5. August 2009 10:08










Marjana Gaponenko

Piotr II

(essentia)

In Erwartung verbringst du dein Leben,
Tage, mit denen du es misst, doch bedenke:
so wie die Liebe kein Ende kennt und keinen Anfang,
beständig gleich , so wahr es keine erste Liebe gibt und keine letzte,
so wahr sie uns niemals verlässt, so ist der Tod ein Scherz.

Du siehst dich um die Bäume schleichen,
sie wie starre Badende umfassen. Du siehst sie glühen,
zu Asche niederbrennen und dir entgegen wachsen,
damit du auf sie warten kannst.

Ein Bäumchen die Mutter, ein Bäumchen der Vater.
Durch sie kamst du zu dir, wer auch immer du bist.
Doch bedenke: du kannst es nicht sein,
denn dein Herr ist mit dir. Wer er ist, willst du wissen.
Es lässt sich nicht merken – so gut weißt du es.

3. August 2009 09:37