Andreas Louis Seyerlein

~

5.05 – Die ganze Nacht über fiel leise Regen. Das Geräusch des Wassers, ein Geräusch des Bodens, der Stämme, der Dächer, der Regenrinnen. Vielleicht, weil in ihm Zeit enthalten ist, Tropfen für Tropfen zu einer regelmäßigen Bewegung, höre ich dieses Geräusch als ein beruhigendes Geräusch. Oder auch deshalb, weil ich das Wesen der Kiemenmenschen in mir trage, weil ich von Menschenwohnungen erzähle, die unter Wasser stehen. An diesem kühlen Morgen im Mai ist noch etwas Wesentliches festzuhalten, ein angenehmes Wort, das Wort Leuchtfeuer. Und dass ich von Kranichen träumte, ja träumte, selbst ein Kranich unter Kranichen zu sein. Wir flogen eine Küste entlang. Ich erinnere mich, dass ich durstig gewesen war, weil viel Sonne vom Himmel brannte. Die Kraniche bemerkten bald, dass mich die Hitze quälte. Sie suchten nach meinem Schnabel, um mich mit Wasser zu füttern. Aber ich hatte keinen Schnabel, sondern einen menschlichen Mund, weshalb sie bald aufgaben, mich füttern zu wollen. Stattdessen näherte sich einer nach dem anderen, um nachzusehen, welch seltsamer Vogel mit ihnen nach Norden flog.

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31. Mai 2009 15:37










Thorsten Krämer

Interiors

Der Inhalt der Schubladen von unten nach oben: Geschenkbänder, Schleifen, ca. 10 Meter Kordel, ein Paar warme Wintersocken, zwei eingerissene Papierfächer. Eine kleine Pappschachtel mit Polaroids, ein Bündel Postkarten, Plexiglasteile für ein Architekturmodell, eine zusammengefaltete Packung Heilerde. Ein Schlüsselbund, ein Umschlag mit ausgeschnittenen Briefmarken, mehrere Stopfpilze, Haargummis, ein Pflanzenführer „Was blüht denn da – in Farbe“, eine Plastikdose mit Ein-Pfennig-Münzen. Neben der Kommode liegen zwei weitere Schubladen, ausgelegt mit Butterbrot-Papier. Ansonsten ist der Raum leer. An den mit weißer Raufaser tapezierten Wänden lässt sich noch erkennen, wo Bilder gehangen haben, vielleicht auch ein Spiegel. Der Boden, Laminat, weist einige tiefe Kratzspuren auf. Das Fenster steht auf Kippe.

28. Mai 2009 12:36










Markus Stegmann

Du Meer, memoriere

Lordose molekurlare Gebete Lamm
du Schreber du wach gerüttelten
Reben weisst du was das
gedachte der Berg war dass
wir sassen als Molasse
Matrizen im Palast war es Mond
polare Sonnen oder Roggen fermentierter
Bambus Spolien Kapitelle
schallten erdenkliche Beete
abvererdet
das heisst erbebliches
Gebet als morgen nur
du und ich ankerten
an der InselInsel vor uns im
Angesicht als
Kometen erhängten die Kohle
den Berg essen wir Minen
versenken uns im Meer der
selbige Grund
der bettete der
sandige und Muscheln Schall
umranktes oder wie Salbe
Lavendel des Meeres und
der Liebe Wellen
fastete Durst
es hat noch trockene Erde
dort und

28. Mai 2009 00:23










Hendrik Rost

Urlaute

Meine Tochter holt ein Buch
und wir setzen uns nieder.
Sie zeigt auf ein Tier
und ich mache den passenden Laut.
Alles, was ich sagen kann,
klingt nach Kuh, Schaf, Eule
und Schwein und immer wieder
will sie hören, wie die Welt
schon lang vor uns geklungen hat.

Ich imitiere Kreaturen da draußen,
auf die sie mit dem Finger zeigt
und die sie nie gesehen hat,
aber die mit ihr reden können
durch mich und sie bitten,
sich nie von der Vorstellung
zu lösen zugunsten der Dinge.
Alles, was ich von mir gebe, klingt
primitiv. So ist das bei Tieren.

25. Mai 2009 09:25










Hans Thill

Lied der Waende

vezlay-grundriss2

Lied der Waende: Emmausjuenger
beim Schmaus darueber Christ Geburt
und Betung. Bernhard weckt das Kind
Nathan schimpft David einen Taeu-
fer da zeigt sich Magdalena
der Fuerstin von Provence Samson
schmeisst den Loewen Maenner essen
Reben. Drache mit Dame Apo-
kalypsepaar. Joseph und zwar
mit Frau Potiphar. Jakob wird
von Isaak geweiht. Peter und
Paul beten. Olifantenen-
gel. Antonius und Paulus
essen auch. Versuchung Bene-
dicti Kains Tod. Apostel
schreiben Reden auf Stein. Bauer
schneidet Brot. Einer friert einer
wirft den Rock ab. Wein wird geschnit-
ten. Einer huetet Schafe. Ein
Krieger stuetzt sich auf sein Schild. Ein
anderer maeht. Gaukler Hund Si-
rene. Schnitter. Bauer drischt sein
Korn. Bauer kippt es in die Hip-
pe. Ernte des Feldes. Bauer
sticht sein Schwein. Mann traegt alte Frau
auf Schultern. Mann haelt den Kelch mit
Wein. Omnibus in membris de-
signat decembris. Wein der Waen-
de. Blondine des Testaments
hier liegstu Stein und Estrich
decken Dich. Wir hueten Deine
Reste wie Nuesse aus dem Gar-
ten Jesse. Wir Inder mit dem
Hundekopf. Wir Rabenvoegel.
Wir Pygmaeen legen die Lei-
ter des Gebets ans Pferd. Fenster
der Nacktheit fliegen in den Him-
mel. Die leere Welt giesst sich aus
im schwarzen September Acht.

Par respect pour se site ne
pas se tenir aux grilles.
Hier haelt man sich nicht an Gittern:
Do Mi Si La Do Re. Haus des
Herrschers aller Noten. Lied
der Waende.

24. Mai 2009 17:24










Thorsten Krämer

Interiors

Das Bild an der Wand wurde eigens für dieses Zimmer gemalt: Vor schwarzem Hintergrund die gelb gepinselten Umrisse von Rosenstängeln, es könnte auch Bambus sein, wären da nicht diese dornenförmigen Auswüchse. Vier Stängel sind es, die in kunstvoll ungleichem Abstand die quadratische Fläche senkrecht teilen. Dieselbe reduzierte Strenge findet sich in der Einrichtung: ein niedriger grüner Sessel aus den 50er Jahren; aus der gleichen Zeit stammt die gerahmte Fotografie auf dem Beistelltisch, ein sich küssendes Paar in Schwarzweiß, die Frau im schulterfreien Kleid, der Mann im Smoking. Daneben eine Karaffe mit Wasser, als Vase für einige grüne Olivenzweige dienend. Die Tischlampe dagegen – auf der anderen Seite neben dem Foto, als wäre es ein Tafelbild – sieht aus wie eine Vase, ist aber nur eine Tischlampe. Der Futon liegt auf einem einfachen Holzgestell; vielleicht der einzige Gegenstand in diesem sorgsam komponierten Raum, dessen Schönheit sich nur zufällig ergeben hat.

22. Mai 2009 19:04










Björn Kiehne

Ackerbau und Viehzucht

Himmelssturm,
Heerschar fallender Engel;
wir pflanzen Alleen
aus stählernen Linden,
zupfen hungrig am ersten Feldgrün.

Hungerblick,
Rudel rasender Wölfe;
wir schmieden Schwerter
aus leuchtenden Pflugscharen,
schnuppern gierig am Morgenrot.

Schreikind,
Weiten brüllender Äcker;
wir züchten Vieh
aus gefallenen Engeln,
stochern suchend im Sturm.

22. Mai 2009 15:38










Sylvia Geist

Meer

II.

Salzgrammar, nicht erlernbar, löst das Schild,
es warnte vor Ausgestorbenem,
Geschichten, Erinnerungen alter Männer.

Geordnetes Plankton, fünfzig Seiten, das Weiße
des Wals aufzuschlagen, das harpunierte Nichts,
einmal für alle beschrieben der Nährwert

der Unart. Ganz zu schweigen vom Leviathan,
was könnte besser gelingen. Wolkencargo,
Fixsternzirkus, kein Gewerbe meiner Augen.

Mein Schiff kam auf dem Weg der Laute,
aufgeschnappt, gefressen wie Krill,
Manna, als ich Kind war. Ich hörte sie

auf Gischt, die Pequod, die Wachen,
sich ablösende, einander zugewandte
Wörter, in jeder Muschel die Turbine

Tiefe. Raum ist, was ich nicht verdränge, Kleinstes
steigt auf in vegetabilen Galaxien, friedvolle Silben,
die Bläue beginnt, der Atem zu flüstern.


Auch von mir ein herzliches Willkommen, lieber Björn.

20. Mai 2009 12:12










Hartmut Abendschein

Das Mussverständnis

Und heute wieder: die Socken mit den Löchern. (Das musst du selber wissen. Das musst du selber wissen. Das musst du selber wissen.) Neben mir im Bus – der ehemals oberste Preisüberwacher.

Ein Ungefallen
Im Garten der Bambushex
Das Giesskännchengrün

(Von hinten schauen alle immer so jung aus.)

Und: „Wenn wir noch in Gaubickelheim wohnten, dann wärs ein Klacks“ (Alice Schmidt, Tagebuch 1955). Das Mussverständnis. Das Internet? Langsam erhärtet sich der Verdacht, dass es sich dabei um immer dieselben 6-700 Leute handelt.

About Twitter: die Möglichkeit eines Kommentars ohne Kommentandum. Die Möglichkeit eines Aussagenabschusses in einen kaum strukturierten Raum, auch: in einen Raum ohne Festkörper. (Eine Schiessübung im Freien, im Wald).

Dabei die Paradoxie: die zunehmende Toleranz der Normalabweichung und die zunehmende Normalabweichung der Ignoranz.

Lyotard (Nach Barthes, Neutrum, 302, FN 488): Der Augenblick ist gekommen, um den Terror zu unterbrechen. (Dies alles nur theoretisch …)

[notula nova 36]

20. Mai 2009 08:01










Andreas Louis Seyerlein

~

2.15 – Vor dem Fenster knistern Kastanienbäume, vielleicht davon sind Violet und Daisy aufgewacht. Ein leises Geräusch zunächst, das schnurrende Geräusch einer Fußpedale, dann das Klappern einer Schreibmaschine im angenehm warmen Licht eines hölzernen Zimmers lange vor meiner Zeit. Was für eine seltsame Schreibtischlampe! Und wie die Mädchen lächeln, in einer Weise lächeln, dass sie zu leuchten scheinen. Es sieht ganz so aus, als hätte das eine Mädchen dem anderen Mädchen gerade eben noch eine Geschichte erzählt. Zufrieden lauscht sie ihren Worten nach, während das andere Mädchen die Geschichte in die Maschine notiert. Zwei Mädchen exakt gleichen Alters, vielleicht schon junge Frauen. In diesem Moment, in dieser Minute, da ich wieder einmal notiere oder bemerke oder erinnere, dass Daisy und Violet Hilton an einer Stelle ihres Körpers derart ineinander verwachsen sind, dass kein Luftraum sie je voneinander trennen wird, wieder der vertraute Eindruck, dass ich ihnen zu nahe kommen könnte, indem ich ihnen schreibe. Und tatsächlich sind sie nun wach geworden. Wie Daisy ihren Kopf zur Seite neigt, eine kaum wahrnehmbare Bewegung. Wie ich müde werde von einer Sekunde zur anderen. Wie Daisy noch sagt: Violet, schau, ist das nicht ein merkwürdiger Mann? Wartet so lange, wartet und wartet, dass wir uns bewegen. Und jetzt ist er eingeschlafen.

 

twins

> particles

19. Mai 2009 22:58