Andreas Louis Seyerlein

~

22.01 – Immer wieder der Eindruck, Menschen würden mittels raschelnder Zeitungen in U-Bahnwagons miteinander sprechen. Eine Weile ist Ruhe, aber dann blättert jemand eine Seite um, und schon knistert der Zug in einer Weise fort, dass man meinen möchte, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von besonderer Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, geschmeidige Wesen, so dass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde, sobald man sie berührte. Eigentümliche Stille verbreitete sich sofort, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung. – stop

> particles

1. August 2010 20:06










Carsten Zimmermann

das war so

während er sich aufmachte, gab es die erde. ja, er ließ die haustüre hinter sich zufallen, er ließ die haustüre hinter sich zufallen, er ließ die haustüre hinter sich, und währenddessen gab es die erde. das war so. das gab es. die ganze umgegend war vorhanden, es gab sie, er nahm es hin. es gab sie, und es gab war unbekannt. es gab ihn, und es gab war unbekannt, und er war unbekannt und und war unbekannt, und währenddessen gab es die erde. das war so. es gab die erde, und die erde war unbekannt. auch die haustüre, die er hinter sich zufallen ließ, war unbekannt. und zufallen lassen war ebenfalls unbekannt. und unbekannt war ebenfalls unbekannt. und ebenfalls war ebenfalls unbekannt. und er, der die haustüre hinter sich hatte zufallen lassen, betrat den bürgersteig, und währenddessen gab es die erde. das war so

2. August 2010 13:14










Mirko Bonné

Meine Töchter, Berlin und ich (1): Dr. Kaesbohrers Puppe

Während längerer Autofahrten ist es nur eine Frage der Zeit, bis meine Tochter Sonia zu mir sagt: „Papi, Papi, erzähl uns eine Geschichte wie früher die mit dem Pferd und dem Baum und dem See, wo sich alles verzaubert“ – eine Geschichte, an die ich mich leider nicht erinnere. Stattdessen erzählte ich meinen Töchtern eine Geschichte, die ich einmal ins „Forum der 13“ gestellt hatte, vor damals fünfeinhalb Jahren, als Julika, meine Jüngste, noch gar nicht auf der Welt war, und noch einmal, vor gut zwei Jahren, hier in den „Goldenen Fisch“.
Die Geschichte ist diese:

„Dr. Kaesbohrers Puppe

Zwei schöne, ineinander greifende Geschichten über Kafkas Leben in Berlin berichtet Mark Harman in der aktuellen Nummer von ‚Sinn und Form‘. Die erste wurde überliefert von Kafkas letzter Lebensgefährtin Dora Diamant; mit ihr war Kafka unterwegs in einem Berliner Park, als sie ein Mädchen trafen, das seine Puppe verloren hatte. Kafka beruhigte das Kind, indem er ihm erzählte, es solle sich keine Sorgen machen; die Puppe habe ihm einen Brief geschrieben, darin erkläre sie alles über ihr plötzliches Verschwinden. Da das Mädchen verständlicherweise den Brief lesen wollte, versprach Kafka, am nächsten Tag wiederzukommen und das Puppenschreiben mitzubringen. Dora Diamant berichtet, Kafka habe fortan tagtäglich einen neuen Brief im Namen der Puppe verfasst. Darin berichte die Puppe ihm, dass sie geheiratet habe und deshalb fortgezogen sei.
Es gab mehrere Versuche, das Mädchen von damals per Annonce ausfindig zu machen; heute wäre es über neunzig Jahre alt. Allein, die ‚Herrin der Puppe, die wegzog zu Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande‘ hat sich nie gemeldet.
Dafür jedoch eine andere heute über 90-jährige Dame; sie berichtet, dass Kafka in Berlin im Haus ihrer Mutter zur Untermiete gewohnt, dass er sich jedoch Dr. Kaesbohrer genannt und im Keller mit chemischen Präparaten experimentiert habe.“

Natürlich, aus Spannungs- wie aus erzieherischen Gründen erzählte ich meinen Töchtern nicht, wer die Briefe an die Puppe schrieb, erzählte auch nichts von „Sinn und Form“, „Mark Harman“ oder „Kafka“, den ich nur „ein Mann“ nannte. Sondern ich fragte Sonia stattdessen, wer ihrer Meinung nach die Briefe an die Puppe wohl geschrieben haben könnte.
Ihre Antwort war so einfach wie verblüffend, und in gewisser Weise hat sie recht damit: „Du.“

Album (8), 2002/2008

*

2. August 2010 13:30










Thorsten Krämer

Code connu

II.

um einem See zu entkommen

ein Steinschlag vor versammelter Mannschaft

deine anspruchsvolle Transparenz

im Augenblick einer Trägheit

woanders werden die Hunde gefüttert

deine Spur, ein markantes Gewese

um mit anderen Zungen zu sprechen

die hingebungsvolle Klarheit der Luft

ein zahnloses Flirren, die Überlegenheit

am Ort einer sich schützenden Not

dein optimierter Re-Boot-Prozess

um mit hängenden Armen Musik zu machen

eine irregeleitete Lorelei

die Gestalt einer schwankenden Kiefer

im Traktorstrahl einer schönen Vernunft

deine schwer atmende Mutwilligkeit

ein Gelenk, das dir Almosen spendet

die Krankheit der wenigen anderen

um noch einmal eine Szene zu machen

ein Depot der hingeworfenen Sätze

vor dem Hintergrund einer stummen Lawine

deine stets aufrechte Ahnung

im Vorübergehen, das Aufflackern

um die Sinnhaftigkeit zu vertuschen

dein noch immer vorhandener Stillstand

die Jugend einer schüchternen Großtat

eine Hand, die ein Gähnen nur antäuscht

neben dem Bild einer Mauerecke

die Ungewissheit, der abstrakte Körper

in der Durchführung eines Manövers

um alle Zinsen zu zerstören

dein goldenes Angewinkelt-Sein

4. August 2010 10:48










Gerald Koll

Der Manga „Gipfel der Götter“ mit Zeichnungen von Jiro Taniguchi nach dem Szenario von Baku Yumemakura umfasst fünf Bände mit jeweils über 300 Seiten. Die deutsche Ausgabe folgt der japanischen Leserichtung von rechts nach links.

Er verfolgt den Bergsteiger Habu Yoshi bei seinem kühnen Unterfangen, den Mount Everest im Alleingang ohne Sauerstoff über die Südwestflanke zu bezwingen.

Der Roman „Der eiskalte Himmel“ von Mirko Bonné enthält keine Zeichnungen umfasst ein Buch mit 427 Seiten. Die Leserichtung erfolgt von links nach rechts.

Er verfolgt den Versuch Ernest Shackletons, den antarktischen Kontinent zu durchqueren. Gut hätte George Mallorys Satz zu Shackleton gepasst, gut hätte man daran anknüpfen können. Doch der Satz taucht im Roman gar nicht auf. Warum auch? Mallorys Everest-Expeditionen begannen 1921, als Shackleton zu seiner letzten aufbrach.

7. August 2010 14:23










Sylvia Geist

Zum Beispiel Phil Doole

Unter der Rubrik “Eine Meldung und ihre Geschichte” berichtete der SPIEGEL vor ein paar Jahren ueber Phil Doole, der am Mount Cook beide Beine verloren hatte und 21 Jahre spaeter auf Prothesen den hoechsten Berg seiner neuseelaendischen Heimat bestieg. Was Doole antrieb, ging aus dem Artikel (ein Zitat daraus und ein Gedicht dazu stehen irgendwo im Fisch) nicht hervor, und die Frage nach dem Warum beschaeftigte mich auch nicht. Ob Doole nun den Berg erfahren wollte oder sich selbst auf dem Weg, eines scheint doch ziemlich unwahrscheinlich zu sein: dass er das Bergsteigen inzwischen aufgegeben hat. Solange dieser Mann sich bewegen kann, wird er immer so weit gehen, wie es ihm moeglich ist (und sich dann fragen, wie weit er wohl noch kommt).
Vielleicht sind die Moeglichkeiten und Kraefte eines Menschen zugleich seine Zwaenge.

Nachtrag vom 08.08.:
Noch mal gegoogelt und festgestellt, dass der erwaehnte Artikel aus dem Jahr 2004 stammt. Ausserdem findet man u.a. die Information, Doole habe 2006 den Mount Everest erklommen.
Ueber Gerlinde Kaltenbrunner wiederum liest man nach dem Absturz Fredrik Ericssons, ihres Teamgefaehrten am K2, vor wenigen Tagen: „Dass Kaltenbrunner ihr Vorhaben (Besteigung saemtlicher Achttausender ohne Sauerstoffgeraet / Anm. S.G.) nun aufgibt, ist nicht zu erwarten. Im Mai 2007 verschüttete eine Lawine bei der Besteigung des Dhaulagiri ihr Team. Zwei spanische Bergkameraden starben, Kaltenbrunner überlebte knapp – dank einer Luftblase – und grub sich selbst aus den Schneemassen aus. Zwei Monate später bezwang sie mit dem Broad Peak ihren zehnten Achttausender.“ (WELT Online) Interessant in diesem Zusammenhang auch eine Prognose von Kaltenbrunners Ehemann, Ralf Dujmovits: „Selbst wenn Gerlinde vor meinen Augen abstürzt – ich würde weitermachen. Umgekehrt wäre es genauso.“

7. August 2010 23:23










Gerald Koll

Zum Beispiel Habu Yoshi

Gerade gestern litt ich wieder unter Obsessionsmangel. Und dann diese übermenschlich Unbedingten, die längst durch sind durch die Rinne der Zweifel und die Eispassagen der Sinnfrage und die auch die letzte Felsnase überwunden haben, die die Obsession trennt vom Instinkt.

Der heutige Tag ist übrigens der Tag der Moorschnucke. Dies ist in den wenigsten Kalendern verzeichnet.

8. August 2010 23:27










Thorsten Krämer

Code connu

III.

was von Allem Vieles sein könnte

der Durst einer verzögerten Attraktion

die Hülle, die sich Fingerkuppen leistet

dein quantenmechanischer Bleistift

eine Faszination, das Lot dieser Stunde

was im Zusammenhang sich entfernt

dein glutenfreies Verbandsmaterial

dein Papier, eine unverkeilte Begegnung

das Abendrot dieser Aufwärmphase

im Übergang eines schläfrigen Tuns

was hinterrücks ein Begreifen wird

diese unversuchte Nebenmenschlichkeit

Silhouetten einer abgebrochenen Nähe

im Manuskriptstadium einer Intervention

deine in eine Handtasche passende Wohnung

ein Gebiet, dessen Karte ein Telefon ist

was immer schon ein Warten ermöglicht

deine so schön emeritierte Moral

der Overkill der Unvereinbarkeit

auf den Schultern eines verspannten Giganten

dein friedfertiges Reisenecessaire

zwischen den Trümmern einer Ankunft

was mit jedem Klick sich verändert

die Sehnsucht hinter der Verlausung

ein Zebra, das von Interferenzen träumt

deine an Willkür grenzenden Schuhe

mit dem Humor einer kindlichen Lektüre

das Unvermögen einer abgetrennten Lehre

dein Zimmer, ein Ort der Omnipräsenz

10. August 2010 01:12










Martin Zingg

Mein Zerfall geht rasch vor sich. Sobald wieder Sonntag ist, beginnt auch wieder mein Zerfall, ich setze mich auf, ich setze mich auf die Bettkante, ich möchte mich aber lieber gleich wieder hinlegen, das darf ich jedoch nicht, sonntags darf ich nichts, der Zerfall geht voran. Ich nenne gleich Beispiele. Der Zerfall, wenn mir überhaupt noch erlaubt ist, aufzuzählen, was ich nicht darf, hält mich von allem ab. Meine sieben Töchter bilden eine Interessengemeinschaft mit dem durch ständige Wiederholung offenbar inzwischen hinlänglich beglaubigten Ziel, die Ansprüche an meine Person in jene Höhe zu schrauben, die eine Erfüllung verunmöglichen, scharfe Kritik an meiner Person jedoch jederzeit angezeigt sein lassen. Am Montag ist dann alles wieder vergessen, aber Montag ist selten. Seltener als Sonntag. Das Elend einer Kleinfamilie mit sieben Töchtern. Ich komme gleich darauf zurück. Später. Später, wenn ich alles darf, werde ich auspacken. Der Beifall, den meine sieben Töchter meinem Untergang spenden, übertönt alles. Ich entkomme nie. Auch nicht mit einem Kopfsprung, Ich werde, wenn die Töchter einen Moment lang in ihrer Aufmerksamkeit nachlassen, werde ich eine Qualifikationsoffensive beginnen. Sehen die Töchter hin? Aus meiner dann gewonnenen Überlegenheit werde ich alle Sonntage retten, keine Spaziergänge, keine Hitparaden, keine Telefonate mit Mama oder Grossmama, saukomisch, wie alles anders wird, ich spaziere allein, liege im Bett, meine sieben Töchter üben einen Choral, der sich anhört, als hätte ich vierzehn Töchter, die Sonntage sind dann noch viel unerträglicher als die Vorstellung erlaubt, und mein Zerfall ist ein restloser, keine Beschreibung kann davon angemessen Zeugnis geben, ich sammle alle Anzeichen eines möglichen Aufschubs, vergebens, ich habe mich zur liebevollen Selbstbeobachtung erzogen und muss nun mit ansehen, was ich mit „Zerfall meiner Person“ nur unzureichend bezeichnen kann und auf keine Fall hinnehmen will, wogegen ich mich also mit aller mir verbliebenen Energie zur Wehr setze. Ich werde darauf zurück kommen, wie gesagt, später, soweit meine Kräfte es erlauben und mein Zerfall eine sprachliche Bewältigung überhaupt noch zulässt, später, falls je wieder mal Montag wird.

10. August 2010 18:00










Mirko Bonné

Meine Töchter, Berlin und ich (2): Auszug von Töchtern

Sie mussten tatsächlich gehen, ich hatte es gesehen
an ihren Gesichtern, die sich langsam wandelten
von denen von Kindern in die von Freunden,
von denen von früher in die von jetzt.

Und gespürt und gerochen, als sie mich küssten,
ihre Haut und ihr Haar, die nicht mehr für mich
bestimmt waren, nicht so wie früher,
als wir noch Zeit hatten.

Es war in unserem Haus eine Welt des Sehnens,
Glücks, Schmerzes und Kummers gewachsen, in ihren
Zimmern, wo sie ansammelten, was sie
mitnehmen sollten, ihre Erinnerungen.

Jetzt da sie weg sind, schau ich aus ihren Fenstern und seh
genau die gleiche Aussicht, genau die
gleiche Welt von vor zwanzig Jahren,
als ich herkam, um hier zu wohnen.

Rutger Kopland
Vertrek van dochters (Ü.: M.B.)

*

11. August 2010 16:25










Markus Stegmann

Planeten

Zwei der Angeschuldigten breiten ein farbiges Handtuch aus und legen sich darauf. „Unser Teppich in die Heimat,“ meinen sie, als am Horizont die Vorhut der Planeten erscheint. Sie durchquert den Himmel und hindert niemanden daran, auf sie zu zielen.

12. August 2010 11:53










Thorsten Krämer

Code connu

IV.

der Sollbruch der fortgeschrittenen Zeit

wenn Tanzschritte einer Tragik weichen

die hundertfache Anfeuerung

ein Rückzugsraum unter den Fingern

deine pazifistische Kniekehle

unter den vorgerückten Umständen

eine schimmernde Echolalie

wenn Kleidung ihre Funktion verliert

dein Ellenbogen, eine Deportation

die Summe der ausgelassenen Sätze

der Tag, den keiner beginnen will

mit der Schuld eines anderen Anzugs

wenn Sachlichkeit das Symptom ist

die Fragestellung eine Zumutung

deine die Wahrheit sagenden Füße

ein Flug durch sagenhaftes Gelände

das Medium einer ziellosen Botschaft

wenn Elektronen zu Freunden werden

die maximal bereite Verwandtschaft

das Hundeglück, eine Vervielfachung

dein hochtouriger Nacken

in der Hoffnung einer Korrespondenz

zwischen kommunizierenden Tasten

das Zeugnis eines verhinderten Parks

deine schonend verzierten Waden

ein Sommer ohne Drastik

16. August 2010 02:15










Kerstin Preiwuß

ich bin in der sonne geblieben
und durch den regen gegangen
mein haar ist hell
meine haut glatt geraten

wir kannten uns nicht
die sonne und ich
immerhin ging sie nicht
als wir mittags aufeinander trafen

erzählte ich wie sehr ich sie erwartet hatte
dabei wand sie sich um mein linkes bein
und um den bauch und ließ mich so
allein war es ein schöner tag
als ich glücklich war

16. August 2010 20:17










Sylvia Geist

Sun Music

Weil meine Versuche, Musik zu beschreiben, mich regelmaessig frustrieren, habe ich mich im Internet nach einer Aufnahme der Sun Musics von Peter Sculthorpe (geb. 1929 in Tasmanien) umgesehen, um den Link hier einzustellen. Bis auf ein paar Sekundenausschitte bei Faber Music u.ae. sowie ein paar Bezahltracks blieb meine Suche leider erfolglos. Also begnuege ich mich mit einem Hinweis: Sir Bernard Heinze, der im Jahr 1965 das Orchesterwerk fuer die erste Welttournee des Sydney Symphonie Orchesters bei Sculthorpe in Auftrag gab, wollte „something without rhythm, harmony or melody“, eine Vorgabe, die Sculthorpe besonders in der ersten seiner vier Sun Musics erfuellte.
Nachdem ich Sculthorpe zuvor nur in seinem wohl populaersten Werk Earth Cry begegnet war, in einer Aufnahme mit dem Didgeredoo-Zauberer William Barton, fand ich Sun Music (I) beim ersten Hoeren fast langweilig. Doch beim zweiten Mal stellte sich ein Eindruck ein, der mich an die kurze partielle Sonnenfinsternis erinnerte, die ich als Kind erlebt habe. Damals war es, als wuerde die Sonne fuer mich mit jedem Grad sichtbarer, um den sie in den Schatten zu rutschen schien, als kaeme mir eine vage, traumartige, aber sonderbar fuehlbare Ahnung von Entfernung, von der schwarzen Ausdehnung um den Fixstern und von den dunklen Bestandteilen von Licht.
„The Sun Musics present a world devoid of human population, except in so far as the quasi-visual sounds come to us by courtesy of the composer’s listening ear and watchful eye“, heisst es in einem Kommentar zum Werk, und weiter: „Sculthorpes nature (…) is far from benign, though the visual quality of the Sun Musics has a positive aspect in that the works embrace another kind of otherness (…)“

PS: Statt Sun Musics fand ich ein Lied von dem mir bisher unbekannten englischen Komponisten Gerald Finzi: Fear No More The Heat O‘ The Sun (http://www.youtube.com/watch?v=LGcuFWpT0G0&feature=related) in einer Fassung fuer Bariton und Orchester. Das Video ist optisch wenig ansprechend, dafuer kann man den Shakespeare-Text mitlesen. Oder einfach mal fuenf Minuten lang die Augen schliessen.

17. August 2010 23:43










Marjana Gaponenko

Katharina

(die Große)

Vollendet, vollbracht, vorbei!
Die Königin spuckte ihr Seelchen
in die Hände der Popen,
ein Rubel in den Schnee.
Es fielen Mützen auf den Sarg
wie Zottelköpfe –
so grüßte sie ihr Volk.

Du schwebtest vorbei
auf den Schultern der Männer,
Engel in Paradeuniform.
Du schautest aus allem.
Du dachtest:
es muss mich geben,
fürwahr, mein Gott!

19. August 2010 23:48










Hans Thill

Haus der Silben (Schluß)

silben-7

Foto: Jean-Philippe Baudoin


Das Gerüst
Ganz oben hingen Trauben an diesem Holz. Das Dunkle wuchs ins Helle hinein. Man hätte auch einen Vogelbauer aufhängen können, Nägel gab es genug, hölzerne Stifte und eine Kamera, die das alles festhält. An den Trauben pickten Vögel, es waren große schwarze Sirenen, die nicht so-viel schlucken konnten wie der Simurgh. An manchen Stellen klebten die Kerne von Jahrhunderten, statt zu fegen redeten die Bewohner laut über die Straße hinweg, was keinen Vogel verscheuchte, uns aber ins Genick fuhr, als wir hier vorbeirannten: Fuckwerk!
(für den neuen Nobert!)

23. August 2010 13:16










Mirko Bonné


Solsbury Hill, Bath, Somerset

*

25. August 2010 13:50










Norbert Lange

Lilien-Geschehen

(1) Die nach Lilien suchenden Mann & Frau.

(2) Alle um Lilien zu suchen losziehenden Leute.

(3) Beim Lilien-Suchen mitgeschleppter Matsch.

(4) Das den Matsch fortspülende Waschen der Lilien im Wasser.

(5) Das sich selber Waschen nach dem Schmutzigwerden mit Matsch.

(6) Lilien in einem Korb.

(7) Das „zu schauen wo’s ein trockenes Plätzchen gibt zum Sitzen“ den Lilien-Ort Verlassen.

Nach Jerome Rothenberg

25. August 2010 14:36










Thorsten Krämer

Code connu

V.

dein klingender Mut zur Abstraktion

wo Käsebällchen eine Verirrung wären

die unüberlegte Konsistenz einer Ader

ein Tagtraum von lässiger Brillanz

das Angebot, das im Außen bleibt

deine zäh rotierende Kraft

die Hinwendung, eine schweigsame Gabe

wo Insekten keine Alternative bilden

das Fleisch einer wackligen Architektur

deine logozentrische Hartnäckigkeit

ein Müll, der süß und nahrhaft ist

Gewehrsalven über dem See

wo eine Anstrengung nicht gesehen wird

dein absichtsvoll fingierter Unernst

die Umgangsformen eines Stiefels

eine Annäherung an kleinlaute Zeiten

der Tritt gegen geschminkte Gewässer

wo die Akkuleistung verhandelbar wird

im Sog einer spielerischen Tendenz

die rückhaltlose Sichtbarmachung

dein fettreduzierter Sicherheitsabstand

das Geheimnis, das im Bunten bleibt

eine schlafwandlerische Geschwätzigkeit

27. August 2010 15:12










Sylvia Geist

In welchem Land

In Deutschland. Nicht in Sachsen, sondern in Niedersachsen. Abends, nicht mitten in der Nacht. In einem um diese Abendzeit gut besuchten Altstadt-Viertel mit Theatern, Restaurants, einem Opernhaus, Shoppingmalls. Kann ein junger Mann von drei Angreifern zusammengeschlagen werden. Fusstritte gegen den Kopf erhalten. Zaehne verlieren. Hoeren, wie die Schlaeger bruellen: „Wieder! Einer! Ohne! Weissen! Stolz!“
Dem jungen Mann kann das aus vielen Gruenden passiert sein. Weil er das falsche T-Shirt trug, die falsche Frisur. Weil er mit seiner Freundin gerade von einem Konzert kam und gluecklich aussah. Weil er dunkle Augen und dunkle Haare hat. Weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Weil es ueberhaupt keine Gruende braucht fuer Leute mit „weissem Stolz“.
Die ersten Gefuehle, die dem Schock der Angehoerigen folgen, sind Ohnmacht und Wut. Aug‘-um-Aug‘-Gefuehle. Selbst 1,90m gross sein wollen und zu dritt, und denen begegnen.
Dann Trauer und Ratlosigkeit. In welchem Land kann das sein. In welchem Land auch kann es sein, dass Nazis ohne weiteres aufmarschieren duerfen, waehrend der DGB um eine Gegendemonstration erst vor Gericht streiten muss. In welchem Land ist es ein Problem, eine Partei zu verbieten, die Geschichtsfaelschung betreibt und sich in ihren Wertvorstellungen offen gegen das Grundgesetz stellt, waehrend man sich Ton- und Gangart des Protests gegen die extreme Rechte zunehmend von gewaltbereiten linksextremen Gruppierungen aus der Hand nehmen laesst, die ihrerseits den Behoerden opportune Argumente fuer Verbote oder Erschwerungen von Gegendemonstrationen liefern. Waehrend ein Ex-Senator, SPD- und Bundesbankvorstandsmitglied, die in Teilen der Bevoelkerung (die in keineswegs abseitigen Diskussionsforen, u.a. grosser Tageszeitungen, mittlerweile auch schon mal als „schweigende Mehrheit“ bezeichnet werden) ohnehin schon vorhandenen Ressentiments mit aggressiv diskriminierenden Polemiken schuert, ohne sich wenigstens die Frage zu stellen, wo er sich befindet, in welchem Land naemlich.
Dann Scham. Was hat man in den letzten zwanzig Jahren getan. Was haette man stattdessen tun koennen. Was kann man tun. Friedlich demonstrieren, bestehende Initiativen unterstuetzen. Beginnen, sich etwas mehr vorzustellen. Was, wenn es schon in den Kindergaerten ueberall im Land eine gezielte kindgerechte Erziehung zur Gewaltvermeidung und zur Solidaritaet mit Angegriffenen gaebe, wenn das an allen Schulen unterrichtet wuerde, nicht nur hie und da in sogenannten Problemvierteln, wenn Gewaltpraevention ein Lernfach waere, gekoppelt an den Bereich „Werte und Normen“, so dass Gewalt als etwas begriffen wuerde, dessen man sich nicht nur vor irgendeinem anonymen Buergertum oder vor den Eltern zu schaemen hat (wenn ueberhaupt), sondern vor Gleichaltrigen, vor den eigenen Freunden, und zwar durchaus aus weltanschaulichen Gruenden. Es gibt solche Programme bereits, darunter auch Ideen, wie und mit welchen geistigen und emotionalen Guetern gegen „weissen Stolz“ anzugehen ist, und Menschen, die dem Einsatz dieser Gegenmittel viel von ihrer Lebenszeit widmen, das ist gut. Es gibt noch lange nicht genug davon, das sollte, das muss sich aendern. Auch meine Haltung muss sich aendern, muss mehr Muehe machen, mehr Zeit kosten, viel mehr Zeit.

29. August 2010 23:49










Thorsten Krämer

Kindergärten

„Was, wenn es schon in den Kindergaerten ueberall im Land eine gezielte kindgerechte Erziehung zur Gewaltvermeidung und zur Solidaritaet mit Angegriffenen gaebe“

Genau das gibt es doch. Wenn heute im Kindergarten ein Dreijähriger einen anderen Dreijährigen haut, werden die Eltern angerufen. Vielleicht ist GewaltVERMEIDUNG gerade ein Teil des Problems? Gewalt ist in unserer Gesellschaft doch schon längst tabuisiert, und solche Exzesse sind genau die Folgen.

30. August 2010 00:02










Sylvia Geist

Was dann?

Ich rede nicht von den Sprechblasentabus unserer Gesellschaft, sondern von einem echten, einem gefuehlten Tabu. Arm zu sein, zum Beispiel, ist in Deutschland (aber natuerlich nicht nur dort) ein groesseres Tabu als Gewaltausuebung, das ist mein Eindruck. Meine Gedanken zu dieser Problematik sind sicher von einiger Hilflosigkeit gepraegt, aber wenn eine Erziehung zur Faehigkeit, Gewalt zu vermeiden – z.B. indem man sie schoepferisch kompensiert und kommunikativ kanalisiert, u.v.m. – wenn das kein (Teil-)Loesungsweg ist, was schlaegst du stattdessen vor? Doch wohl nicht, dass Eltern NICHT mehr informiert, nicht miteinbezogen werden sollen, wenn es Probleme gibt.
Ich bin auch nicht so naiv zu glauben, dass sich alles ausschliesslich mit den Mitteln der Fruehpaedagogik loesen laesst oder dass man bei Handgreiflichkeiten unter Dreijaehrigen gleich Zeter und Mordio schreien sollte. Aber zu leugnen, dass es in diesem Bereich noch Baustellen – und mithin vielleicht auch noch manche Chancen – gibt, erschiene mir ebenso unklug. Im Uebrigen enthielt mein Eintrag nicht nur diesen einen Punkt.
Ansonsten, vielen Dank fuer Deine Reaktion, lieber Thorsten.

30. August 2010 00:41










Thorsten Krämer

Gewalt

Liebe Sylvia, ich habe mir nur diesen einen Aspekt herausgepickt, weil ich denke, dass diese Forderung kontraproduktiv zu dem ist, was du eigentlich willst. Alles andere unterschreibe ich sofort. Aber mit der Gewalt ist es in unserer Gesellschaft so, dass sie keinen Platz mehr bekommt, sie ist nicht vorgesehen und darf nicht sein. (Gleichzeitig wird jedoch in der Wirtschaft eine ganz ungeheure Gewalt ausgeübt!) Aber Gewalt lässt sich nicht wegerziehen, sie ist ein Teil des Lebens. Gerade deswegen bricht sie sich ja immer wieder Bahn. Wenn man das akzeptiert, kann man einen realistischen Umgang mit Gewalt entwickeln. Zurzeit ist der Umgang mit Gewalt aber hysterisch, und das führt dazu, dass zum Beispiel Jungen kaum noch Erfahrungen mit Gewalt machen können. Wenn sich Jungen nicht prügeln können, haben sie keine Gelegenheit, die Realität der Gewalt zu erfahren, und damit geht ihnen das Maß verloren. Deshalb treten Jugendliche heute eben auch dann noch weiter, wenn der andere schon am Boden liegt.
Natürlich sollte eine gewalttätige Konfliktlösung niemals die erste Wahl sein, aber es ist auch ein Trugschluss, sie ganz auszuschließen. Die Gewalt wechselt dann nämlich einfach nur das Medium, es wird nicht mehr geschlagen, sondern gemobbt. Wenn heute ein Schüler gemobbt wird und sich dagegen zum Beispiel mit den Fäusten zur Wehr setzt, dann gilt er als auffällig. Dabei waren die anderen vielleicht einfach nur subtiler und haben die Doppelmoral der Gesellschaft besser verinnerlicht.
Wohlgemerkt: ich beziehe das nicht auf die Nazi-Schläger, von denen du schreibst. Die haben ihre ganz eigenen Gründe für ihre Gewalt. Aber du hast im zweiten Teil deines Textes die Thematik ausgeweitet, und da, denke ich, liegen die Dinge doch ein wenig anders.

30. August 2010 01:18










Nikolai Vogel

Ausziehen Weltreise

Die Hose aus China, Shirt aus Bangladesh, Socken aus Pakistan, Unterhose ohne Herkunft.

30. August 2010 23:13










Markus Stegmann

Nehmen

Gefaltete Arme und Beine aus dünnen Pinselstrichen liegen im Raum, auf die das Tageslicht der Vergangenheit fällt. Eines der Augenpaare ist dir verwandt. Nimm von der Farbe als Proviant für den Tag.

30. August 2010 23:39










Sylvia Geist

Empathie

Du hast Recht, lieber Thorsten, in meinem Text vermische ich Problemfelder und stosse so leider nicht auf des Pudels Kern. Hier liegt wohl auch die Krux meiner Ausgangsposition: ich wuenschte, es gaebe so einen Kern, eine gesellschaftliche Stellschraube, die zu justieren waere, um Exzesse zu verhueten, indem man deren Voraussetzungen bekaempft. Stattdessen gibt es solche Schrauben die Menge, und viele davon sind so locker, dass man eigentlich nur staunen kann, dass nicht noch oefter noch Schlimmeres geschieht.
Der Hinweis auf den zum Teil hysterischen Umgang mit kindlichen Aggressionen ist richtig. Leugnung des aggressiven Potenzials bringt nichts. Dass ein Mensch lernen kann, es zu steuern, darf man aber als erwiesen betrachten. Temperament ist Veranlagungssache, Verhaltensweisen werden abgeschaut und eingeuebt. Kleine Jungen (und auch manche kleinen Maedchen) „pruegeln“ sich seit Menschengedenken und werden das auch kuenftig tun, das praedestiniert sie nicht zu Gewalttaetern. Unangemessen reagierende Kindergaertnerinnen schaffen das aber auch nicht. Vielleicht ueberschaetze ich die Moeglichkeiten einer Einflussnahme auf diesen Prozess im Kindergartenalter, und die Pubertaet ist diesbezueglich die wichtigere Phase. Ich weiss auch nicht, mit wieviel Psycho-Gramm die Lizenz zum Sandkastenraufen nun genau ins Gewicht fallen wuerde. Doch dass das Wilde umso schmerzlicher vermisst wird, je weiter zum Beispiel der Weg in den Wald ist, das bezweifle ich nicht.

Und schon bin ich wieder in einem Exkurs… Wirtschaftliche Faktoren, soziales Umfeld, systemimmanent gefoerderte Fehlentwicklungen, individuelles Versagen – wenn es eine Wurzel gibt, hat sie natuerlich viele Straenge. Daneben gibt es vielleicht doch so etwas wie eine Voraussetzung, oder bescheidener formuliert: ein Phaenomen, das immer wieder anzutreffen ist, den eklatanten Mangel an Empathie, der zur Gewaltausuebung im unten geschilderten Mass faehig macht. Entsteht der aus ueblen Parolen? Muss sich erst ein menschenverachtendes Ideenwirrwarr in einem Kopf festgesetzt haben, damit jemand zum Schlaeger wird? Oder ist ein gravierender Empathiemangel eine Voraussetzung fuer die Hinwendung zu diskriminierenden Ideologien, die im Kern ohne Gewalt nicht denkbar sind?
Vieles laeuft auf Altbekanntes hinaus, nimmt im Bemuehen, einen moeglichst breiten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit in den Blick zu nehmen, die deprimierende Form von Gemeinplaetzen an. Die Fokussierung auf konkrete Teilaspekte wiederum vernachlaessigt andere Aspekte, es gibt Widerspruechlichkeiten, und es gibt die grosse graue Muedigkeit. Nichts ersetzt Elternliebe, auch so einfach kann man es sehen. Und steht dann doch wieder im Dickicht, wenn man nicht im Fatalismus landen will. (Nein, das meintest du nicht, Thorsten.) Was ich ueber Tabuisierung schrieb, beduerfte allerdings der Differenzierung. Dieses Fass habe ich im Zorn aufgemacht. Mein Aggressionspotenzial ist, wie man so sagt, auch nicht von schlechten Eltern.

31. August 2010 00:23










Mirko Bonné

Die Gewalt der Gedichte

The base of all inks and pigments is seawater.
Seamus Heaney

Ein warmer blauer Sommervormittag,
von den hölzernen Kais an der Liffey
schnappten sich Möwen die Brotrinden
und weichten sie im Schlammwasser auf,
und beglückt von der Raffinesse der Vögel
schlug Paddy Haughy Mick FitzRoy vor,
am Merrion Strand schwimmen zu gehen.
Sie kauften Bier und trotteten zum Zug.

Ein silbernes Flimmern in der Luft,
im Nachbarabteil gestapelt Kartons,
und an den Fenstern vorbei schossen
die Möwen gleichauf mit dem Waggon,
in dem Haughy und FitzRoy durstiger
von Halt zu Halt plauderten übers Meer,
Nachmittage in ihrer Kindheit am Meer,
Atlantizismus und Gewalt der Gedichte.

Grün gewesen war der Himmel immer,
kamen sie mit der Klasse nach Blackrock,
um da auf den Bus zum Strand zu warten.
Umschwirrt von Wespen fragte Paddy:
Warum beschreibst du das nicht mal?
Mick zog an der schwarzen Zigarette,
sie tranken, sie summten, es war heiß.
Der Bus stand da, Möwen auf dem Dach.

Ein Spiegel aus Gold überm Asphalt,
durch den die Jungen, die sie mal waren,
und die Toten, die sie begraben hatten,
wankten zu dem leeren Bus. Haughy klopfte,
und die Tür flog auf – Wann fährst du?
Der Fahrer gähnte, ob das da FitzRoy sei,
der Dichter, und als sich der verneigte,
sprang der Motor an und starteten die Vögel.

Album (9), 2006

*

31. August 2010 22:29