Gerald Koll

Zazen-Sesshin (26)

Und so nimmt es seinen stillen Lauf, durch die Krankheit, auf dem Steiß, mit dem Stift, mit dem Rad, das sich dreht auf der Achse der Karre mit den Blättern,
denn Kugelschreiber und Schubkarre folgen dem gleichen Prinzip. Die Spur einer Schubkarre im Sand brachte den Erfinder auf die Idee mit der getränkten Bleikugel,
und die Wege sind dicht. Überall liegt Laub, das von den Wegen auf die Wiesen soll, damit es nicht im Wege liegt, wo die Schubkarre fährt,
die, wenn Samu ist, doch nur ihretwegen fährt, der Blätter wegen, von dem Schuppen auf die Wege zu den Wiesen zu dem Schuppen.

3. Juli 2012 08:05










Gerald Koll

8. Juli 2012 13:48










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (27)

Seit Stunden ist es draußen dunkel, längst ist es Nacht im Monat längster Nächte. Draußen schnipsen Blitze, Donner meldet Anwesenheit, Hagel glasiert die Pfade ringsherum. Die Nacht verkürzt sich die Nacht. Sie will mit uns spielen, doch wir haben keine Zeit dafür, wir sitzen. Zum 36. Mal im fünftägigen Sesshin sitzen wir vierzig Minuten. Wer so viel sitzt, weiß, wie Sitzen geht.

In laufender Sitzung kommt der namenlose Mönch zum Sitzenden. Er drückt ihm seinen Daumen auf einen tiefen Rückenwirbel. Der Sitzende sitze gerade, hebe den Kopf und senke das Kinn. Der namenlose Mönch breitet sein Gebetstuch aus. Es verwandelt sich zu gebranntem Lehm. Dies sei keine nette Party, begrüßt der namenlose Mönch die Sitzenden nach kurzer Nacht am Morgen. Jeder sei für sich, niemand greife ein beim Anderen.

8. Juli 2012 14:26










Mirko Bonné

Widerstände

7 – Jürgen Becker: „Wenige Leute stehen am Ufer, schauen aus den Fenstern, warten an der Bushaltestelle, haben einen Schirm bei sich, helfen einer Dame in den Mantel, betreten sonntags ein Bergwerk, fahren eine Maybachlimousine, wollen es ungemütlich haben, schaffen es bis zur Todeszelle, bevorzugen unreife Äpfel, verwechseln die Wohnungstür, essen lieber schlecht als gut, gehen lieber im Regen spazieren, sind immer die üblichen Verdächtigen, gehen Hand in Hand über die Dünen, kennen sich noch in der Reichskanzlei aus, kaufen im Januar Kirschen, planen für die Zeit nach ihrer Wiedergeburt, sammeln Kippen von der Straße auf und rauchen sie zu Ende, trifft der Blitz, blicken hinter die Kulissen, leben als reiche wie arme Leute, wechseln zweimal am Tag das Hemd, haben eine Waffe im Haus, trinken vor dem Frühstück ein Bier, warten im August auf Schnee, sind unter den Trümmern gefunden worden, haben dauerhaft Glück beim Glücksspiel, erreichen schwimmend die englische Küste, sind ehrlich genug, gehen Holzsammeln im Wald, haben ein Fahrrad gestohlen, haben die Niederlage erhofft, lehnen die Freiheit ab, stehen am Zaun, können sich an den nächtlichen Traum erinnern, bezahlen für viele, warten noch auf fließendes Wasser und Strom, würden es wieder freiwillig tun, passen in einen Kahn, verschwinden plötzlich.“

Jürgen Becker wird heute 80 Jahre alt.

*

10. Juli 2012 15:56










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (28)

Bald ist Silvester, wenige Schweigeminuten bleiben noch, gemessen an der Zeit zwischen Juli und Dezember. Denn es ist bereits Dezember an diesem schwarzen Morgen im Schneemondschein. Es ist der dreißigste zwölfte, morgens vor halbsechs. Bald wird es knallen, morgen, wenn wir wieder sprechen dürfen. Leise meldet sich die Angst, das Wort werde, was das Schweigen in reiner Form zu wahren weiß, verwässern und betrüben. Noch aber ist es still. Drei Menschen habe er auf Sesshins, sagt der namenlose Mönch, sterben sehen. „Das passiert nun mal. Das kann ruhig dramatisch werden.“

14. Juli 2012 18:41










Andreas Louis Seyerlein

2.25 – Gestern habe ich einen seltsamen Brief von einem Freund erhalten, der sich gerade in Indien befindet. Der Brief war von seiner äußeren Gestalt her ein Standardluftpostbrief, fühlte sich allerdings weich an, als würde ein dünnes Tuch in ihm enthalten sein. Er war zudem etwas schwerer als üblich. Als ich ihn öffnete fand ich ein handschriftliches Schreiben vor, eine Fotografie und einen weiteren Brief von kleinerem Format, mit einer Art Ventil in seiner Mitte. Mein Freund notierte am 25. Juni mit einem Bleistift: Lieber Louis, seit zwei Wochen befinde ich mich in Westbengalen nahe Sonada in einem kleinen Haus, das vollständig von Holz gemacht ist. Ich gehe hauptsächlich spazieren und wenn ich einmal nicht spazieren gehe, fahre ich mit dem Zug zwischen Jalpaiguri und Darjeeling hin und her. Eine wunderbare Zeit. Ich kenne inzwischen alle Zugführer persönlich und so darf ich bei Dampfbespannung vorne auf der Lokomotive reisen. Du siehst mich anbei auf der Fotografie vor dem Kessel stehen, ja, ich bin unter den drei kleinen Männern mit den Rußgesichtern der in der Mitte. Ich habe Dir, lieber Louis, etwas indische Eisenbahnluft eingefangen. Sie ruht in den Umschlag gefüllt, der vermutlich vor Dir auf dem Tisch liegt. Es wäre vielleicht am besten, wenn Du einen Strohhalm verwenden würdest, den Du mit dem Ventil verbindest, um dann einen tiefen Atemzug durch ein Nasenloch zu nehmen. Allerbeste Grüße Dein L. – Es ist jetzt 2 Uhr und 30 Minuten mitteleuropäischer Sommerszeit. John Coltrane LIVE: The Green Dolphin Street. – stop

> particles

22. Juli 2012 21:18










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (29)

Die Bühne des Sesshin zu betreten, ist ein Übergang. Nichts Halbes ist dabei, der Schritt, er wird vollzogen. Die Spitzen beider Hände-Enden berühren einander vor der Stirn, die Ellbogen sind abgespreizt. Anmut liegt in der Demutsgeste, die den Teilnehmenden dazu verleiten mag, den Ausdruck einer mater dolorosa anzunehmen in Anbetracht der Kreuzbeschwerden. Auch zur Mahlzeit frommt es den Gespeisten in Gebetshaltung der Speise zu harren. Und nur scheu aus spitzem Winkel seiner niedergeschlagenen Augen observiert der beteiligte Teilnehmende die übrigen Teile der Nehmerschaft, mit denen er nebst Mahl und Zeit und Raum ein stilles Ganzes bildet,
und er spioniert sie aus, wie das Frommeln anderen gelingt. Zu flüchtig und fahrig, um noch Demut zu bedeuten, absolviert es mancher Teil, der sich heimisch fühlt und gewöhnt ist an den Keller mit dem Ofen und Altar. Dagegen: In solistischer Parade klappt die Russin vom Ural die Unterarme ab nach Nord und Süd, maßgeschnitten schulterhoch, die Hände passgenau verleimt, die Zeigefingerkuppen an der Nasenspitze. Da erwähnt der namenlose Mönch, als eine Kelle Brei im Napf aufschlägt: den Spirit gelte es zu prüfen und der Prüfung standzuhalten oder, wenn er nicht standhielte, bitteschön auch aufzustehen und zu gehen, denn niemand wäre da, der hielte, zwänge oder bäte.
Wer von uns Dreien ist der böse Kaschperl? Er spürt es: Es gilt sich wohl zu einigen.

23. Juli 2012 23:35










Markus Stegmann

Documenta-Tabletten

Am Rande des Kanals treiben Bäume vorbei.
Ich bette den schweren Teil meiner Wanderung am Wegrand.
Es verschwinden die Zungen des Nachmittags.
Im Lehm leben wenige weiter, bleiben unbemerkt.
Eine Stimme hält sich die Waage.
Schwerer als die Helligkeit aufreissender Wolken legt sich der Regen.
In den Folgen des Gebäudes breitet sich der Staub des Theaters aus.
Ich verlangsame das Zählen der Wörter und schlafe ein.
Im Traum stehen Skelette vor einem Vorhang und streuen Heu.
Kamille, und schon steigen neue Tiere aus dem Hintergrund.
Später Tag, und die gefilterte Sonne verlässt die Bühne.
Dazwischen hängen einige Feigen am blau gestrichenen Geländer.
Die kleinen Palmen heben Kerzen eine Wolke vor Mitternacht.
Keine Tabletten, denn es hat genug Wiese zwischen den Eichen.
Wir hängen die Scheiben zu und treten ins Gewächshaus der Vitrinen.
Zugeschmiert steht der Schaumstoff dort und eingebettet ein kalter Vorhang.
Draussen ist es kühler, in der Durchsicht überschneiden sich transparente Tage.
Kein Ergebnis im Wohnwagen, aber Spuren der Reifen in der nassen Wiese.
Eine Verzweigung des Gebüschs bleibt hängen in der Luft.
Nochmals den Topf gewischt, dann ein Dach gespannt.
Ich hänge im Spalier des Weinbergs an kantigen Häusern und ihren Fasern.
Mit Folien spanne ich den Regen ab.
Korrekturen gezogener Schnüre.
Ich kehre zurück und wärme einen anderen Topf.
Die Ruine der Zukunft steht in vier Buchstaben vor Augen.
Ich streue ein paar Samen in die Fulda und wasche mein Gesicht.
Nicht einmal eine Schnur zündet den Weg zurück.
In der Gegend um die Kälte der Nacht fangen sich ein paar Personen.
Sie warten an einer Wand, aber sie öffnet sich nicht.
Im niedrigen Erdgeschoss des Spülraumes sitzen sie und bewegen sich nicht.
Auf den nassen Gliedern hält sich die Erinnerung des Tages.
Ich ziehe einen Gedächtnisvogel über den Hügel.
Er erinnert sich nicht an meine Mahlzeit.
In den Windungen des Vogels trocknen meine Kleider.
Ich nehme sie von der Stange und fische den Vogel aus der braunen Fulda.
Fahrzeuge haben die nasse Wiese abgeformt.
Es liegen Brillen auf dem Tisch.
Ich habe die Zeichnungen falsch gemacht.
Im Papierhut gabeln sich die nächsten Wege.
Ein anderer Baum und weitere reihen sich an meinen Kopf.
Dreizehn Teile, aber kein Baum, keine Tabletten.
Eine Umarmung folgt, aber zu viele Gerüste zuhause.
Ich leite Wasser in eine Verschachtelung aus Papier.
Es bleibt innen trocken, nur aussen schmelzen Kerzen.
Ich verteile den Dreck des Vormittags an die restlichen Vögel.
Auf die hintere Bank fallen Rosen.
Ich kennzeichne Holz, nur einige Schlachttiere heben die Pfoten.
Im Nebel folgt die nasse Luft Federhüten.
Ich klemme das Gepäck zwischen ihre Flügel und falte Temperaturen.
Nur leiser, dann folgen Papier und Ballast einer anderen Melodie.
Kompliziertes Besteck, nur im Krieg ziehen sie weiter.
Ich zähle die weichen Worte dieses Tages.
Ich trete aus der Grammatik aus.
Was bleibt ist Nässe auf der Haut.
Sagen wurde lächerlich.
Kämme Haare im Wind.

26. Juli 2012 22:13










Gerald Koll

Eine Begegnung

Gestern sprach mich, als ich, vom Bäcker kommend, eben die Haustür aufstemmen wollte, ein alter Mann an, der sich seines Aussehens wegen entschuldigte. Der Kollaps sei es gewesen, der ihm so zugesetzt und geradenach gerupft zurückgelassen habe. Ob noch eine alte Frau im Hause lebe, fragte er. Ich verneint. Alte Menschen sieht man nicht in diesen Straßen mehr. Schon gar nicht in der Sredzkistraße. Sie ist nicht nur gentrifiziert und besenrein von Sozialmüll, der das schmucke Bild des Prenzlauer Bergs beschmutzt, sondern auch bereinigt von oberen Platten der Alterspyramide. Der gerupfte Mann war eine Ausnahme. Er war zu Gast in dieser Gegend, doch er kannte sich aus.
Er wusste, dass die Sredzkistraße zu Zeiten der 50er und 40er noch nicht Sredzkistraße hieß und dass die Hausnummerierung anders erfolgte als heute. Er kannte die Geschäfte, und er freute sich, dass der alte Hülske immer noch Ecke Sredzki/Husemann Schuhreparaturen anbot, seit er, der Geselle, die Witwe des Meisters geehelicht hatte. Dem alten Hülske aber, gab ich zu Bedenken, gingen die Geschäfte schlecht. Jüngst gerade brachte ich zum Hülske Holzklotzen, nachdem ihn wochenlang eine an der Eingangstür hängende und handbeschriftete Wurstpappe als „erkrankt“ ausgewiesen hatte. Nun war Hülske gesundet und ich hoffte, er würde die Holzklotzenschäfte dehnen, die meinem Spann zu schaffen machten. Doch Hülske senkte die Mundwinkel: er würde beizeiten seinen Urlaub antreten und vorher nicht fertig. Gut, sagte ich, dann würde ich die Holzklotzen hinterher abholen. Hülske senkte die Mundwinkel abermals: Nicht gern habe er, wenn er im Urlaub sei, die Regale voller Schuhe. Gut, sagte ich, dann würde ich die Holzklotzen hinterher bringen. Hülske sagte: lieber nicht. Wenn er es recht bedenke, seien solche Klotzen schwer zu dehnen, da sei nicht viel zu machen. Hülskes Geschäftsaussichten, sagte ich dem gerupften Mann, seien wohl so rosig nicht. Schade sei das, sagte der gerupfte Mann.
Schade auch, dass keine alte Frau in diesem Haus mehr wohne. Es hätte die Witwe des alten Kurt Gäbler sein können. Denn hier in diesem Haus, unabhängig davon, wie die Straße heute hieße und die Nummer heute laute, habe er ja gewohnt, der alte Gäbler, der sogenannte Impresario, so genannt von seinen Kumpanen der Gladow-Bande, die in den späten 40er Jahren Berlin unsicher machten, immer zwischen den Sektoren hin und her, durch den Gleimtunnel hin und zurück, zu Villen in Dahlem und zurück, zu Juwelieren und zurück. Immer in Maßanzügen mit schicken Schlipsen. Vorbild: Al Capone. Bewaffnet. Sie schossen. Gäbler sei der zweite Mann gewesen, guter Autofahrer. Das Schwurgericht des Landgerichts Ost habe Gladow, der gerade 18 Jahre alt war, und Impresario Gäbler zum Tod verurteilt, habe ihn auch tatsächlich trotz ja junger Jahre in Frankfurt/Oder durch das Fallbeil hinrichten lassen, während Kurt Gäbler, der ja auch hätte durch das Fallbeil sterben sollen, dann doch lebenslänglich im Gefängnis gesessen habe, wobei dieses ‚lebenslänglich‘ tatsächlich lebenslänglich bedeutet habe – und zwar fünfzig Jahre. In welchem Stockwerk, fragte ich, Gäbler denn gewohnt habe. Das konnte der Mann nicht sagen, und so stemmte ich, nach herzlichem Abschiede, die Haustür auf zur unsanierten Sredzki 44 und ging die alten Treppen zur gerupften Wohnung ohne Bad mit Öfen und Klo auf halber Treppe, die auch in den 40ern kaum anders ausgesehen haben mag.

27. Juli 2012 09:24










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (30)

Zen könne zum Konzentrationslager werden, sagt der namenlose Mönch, der nicht Sensei genannt sein mag. Er sei nicht in der Position des Meisters. Er zitiere seinen Meister, zitiere ihn als Gewährsmann. Es sei eine Warnung, den Sinn des Zen in der bloßen Befolgung der Vorschriften zu suchen. Die sitzenden Schüler des Schweige-Sesshin nehmen sie still und schweigend zur Kenntnis. Neununddreißig mal haben sie vierzig Minuten gesessen. Sie geben dem Impuls nicht statt, im Brechen des Schweigens die Befolgung der Warnung zu beweisen. Um einiger Diktatoren willen stehen sie nicht auf. Gehorsam üben sie Widerstand.

28. Juli 2012 07:46










Mirko Bonné

Im Bienenkeller

Summ weiter, erzähl,
was du noch keinem sagtest,
spreiz sie, zeig
die dunkle Flügelmitte

tief in der Nacht im Bienenkeller,

dein Kind im Bett,
im Honigschlaf,
doch du bist wach, komm zeig,
was du dir erzählst.

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29. Juli 2012 13:49