Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (66/67)

30. August 2015, ein Sonntag

Anonymes rotgeflügeltes Insekt. Anonymes Gehölz, frisch geschlagen und verzapft. Anonymes Gestein und Gebüsch, vielfach gefärbt, vor allem violett. Anonyme Blüten, in denen der Berg badet. Unwohl dem, der die Natur beim Namen nennen kann. Wen anrufen, wenn der Berg aus seinem Schlaf erwacht, wenn er Steine spuckt und sich Wunden reißt in seinen Wettern?

An einer Gabelung gehe ich fehl und hinab zum Not-Abstieg Vergötzschen. Trotz massiven Abstiegs weigere ich mich eine Stunde lang, den Fehler einzusehen. Eineinhalb Stunden lang wieder rauf. An der verflixten Gabelung lege ich mich ins Gras, die Zunge klebt im Mund, zwei Stunden später Ankunft in der Verpeilhütte, innerlich ausgekühlt nach heute 12 Stunden. 5 Liter Wasser getrunken.

31. August, ein Montag

Auf der Falkansalm zieht ein Mann im Karohemd einen funkelnden, blitzenden Stein aus dem Hosenbund und zeigt ihn einem feisten Kerl. Der untersucht ihn: „Katzengold“, sagt er verächtlich, lässt den Stein indes in der Brusttasche seines Hemdes verschwinden.

Der Kaunergrat will festgehalten sein. Hinterher funkeln die Hände silbrig vom vielen Abrieb. Ich hatte eine kleine Wunde am Ballen und leckte sie sauber. So also schmeckt Silber.

Rifflseehütte. Ausblick von Liegestühlen auf Berge ringsherum mit ihren Gletschern und Hängen, aus tiefem Grün steigend in schütteres Grau und Braun. Einige Wölkchen in der Ferne. Ein Schaf irrt umher und blökt akzentfrei „Mäh!“

Nachricht am Abend: Morgen schlägt das Wetter um, gegen Mittag, danach Regen bis nächsten Montag. Das wirft alles um. Abbruch. Haselnussschnaps.

1. Oktober 2016 07:36










Andreas H. Drescher

HYPOKRITISCHE AKADEMIE

So bedank ich mich denn un
artig bei UNICEF auch PLAN
bei VERDI und AMNESTY pp
dass sie mir noch am letzten
Sommertag Hallo Huuhuuuh
Gutmenschen – Koberer auf
den Hals schickten ganz doll
liebe versteht sich mit Mooo
mentchen nur immer neu auf
gestellter Begeisterung mich
mich und Oh ja gerade mich
hier anzutr – effen schiefgel
egter Kopf Hai Gib doch erst
mal die Hand – um mich in
dieses konvexe Strahlen ein
zufassen wenn ich sie bloß
weiterreden lasse und selbst
verständlich hinter einfarbig
familiären T – Shirts diesen
Dauerauftrag unterschreibe

Einmal Mäuschen sein in ih
rer hypokritischen Akademie

1. Oktober 2016 08:39










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (68)

1. September 2015, ein Dienstag

Abbruch.

3. Oktober 2016 18:26










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (69/70/71)

2. September 2015, ein Mittwoch

Köstliche, trostreiche Wetteransage des Deutschen Alpenvereins: Über Nacht vom Sommer in den Herbst, die Wetterlage in Tirols Bergen stellt sich um. Eine Kaltfront bringt schlechte Sicht durch mehrschichtige Bewölkung und Nebel in den Gipfelbereichen. Dazu immer wieder Regen bis zum Abend, Schnee fällt im Hochgebirge ab knapp 3000m. An der Alpensüdseite sind die teils kräftigen Regenschauer auch von Gewittern begleitet. Temperatur in 2000m: 7 Grad. Temperatur in 3000m: 2 Grad. Höhenwind: meist schwacher bis mäßiger Wind aus West bis Südwest.

In Berlin: 20 Grad, windloser, sternloser Stadtnachthimmel. Eben saß ich unten vor dem Haus Sredzki 44 neben die Nachbarn H. und B., die wie immer einvernehmlich monologisierten. Sehr lauschig, geradezu ein Henscheid-Abend. Doch das täuscht, denn B. ist bekennend jähzornig und H. jederzeit bereit, zum Zweck der wohnlichen Eigennutzes mir eine Keule in den Kopf zu rammen. Ich spendiere ihnen Lebkuchen, der ist zur Zeit gerade frisch.

3. September, ein Donnerstag

Das erste Training mit Schwarzgurt bei sendatsu T.B. Die Muskulatur steht noch völlig im Bann der Wanderung, ich bin kaum kontakt-kompatibel. Hinterher ins Tire Bouchon mit T.B. und J.K. sowie als Damen K. und Frau S., mit der ich mich für Samstag ins Kino verabrede, ohne zu wissen, in welche Film es denn gehen soll. Nun, nun, was geschieht denn da? Jedenfalls ein barbarisch lustiger Abend, in dem – eine Novität – drei Runden Zwetschgen-Schnaps kreisten und jede Menge lästerlicher Maliziosen ausgetauscht wurden – so ausgelassen waren wir lange nicht. Und so auf unser Profil bedacht.

Schon zuvor die Wohnungsbesichtigung war gut: die Pistoriusstraße 147 sieht hübsch aus, auch wenn sie nach vorn raus etwas laut sein wird. Aber ich werde mich bewerben. Und dann mal sehen.

4. September, ein Freitag

Ein Glückstag. Er beginnt mit einem argen Kopfweh nach dem gestrigen Zwetschgenschnaps. Kaum war an Aufstehen zu denken. Doch dann erledigte sich tatsächlich die zügige Abgabe der Bewerbung auf die Wohnung in der Pistoriusstraße, auf die ich einige Hoffnungen setze, nachdem die Mieterberatung ihre Finger ins Spiel bringt und sich geltend macht gegen die beharrlichen Widerstände und Blockaden der mir abspenstigen Baugenossenschaft … dann ein recht munteres Ausräumen des Kellers und der Verklappung des Zeugs in den Container, wobei sogar nachbarschaftliche Hilfe mit den sosehrgeliebten Nachbarn D. und H. praktiziert wird … dann erfreuliches Allerlei am Computer …

… und schließlich der Augenblick beim ersten Training, als der sensei auf mich zeigt: „Ich habe einen Hakama für dich, brauchst du einen?“ Ein Hakama vom sensei, das ist hübsch, so eine Ehrung sitzt.

4. Oktober 2016 13:10










Andreas H. Drescher

GAMER

Weiter im Offenen Sprech
blasen sprich Blasen süß
ester Eat-Art belassen aus(s)
er Blässe und gelassen üb
er diesem Klick des Faden
Avatars Wut hernach her
vor das Inventar hängt im²
er noch ionisch verschmitzt
er Meister aus dem Off in
Level 2 bis tief ins Level 4
2 Zum Frühstück ein Eier-
Köpfe-Ei objektorientiert
er Programmierung Vitamin
C++ erhöht die Performance

5. Oktober 2016 07:20










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (72/73/74)

5. September 2015, ein Sonnabend

Neues Aikido-Gefühl: so fest eingepackt um die Hüfte, so allseits sichtbar graduiert, so elegant kaschiert. Ich habe das Glück über den Hakama so wenig fassen können, dass ich bis nach halb fünf Uhr morgens nicht habe einschlafen können. Danach träumte ich, ich sei auf einer Party und säße auf einem Stuhl oder Sessel, und eine junge schöne Frau – zwar nicht Kitty, aber wohl ähnlich – setzte sich mir gegenüber auf eine höher gelegene Kante, vielleicht auf ein Fensterbrett, jedenfalls so, dass ihr Fuß zwischen meinen Beinen Platz fand, und, während sie sich unterhielt, ihren Fuß bewegte und eine erquickende Pollution auslöste. Ich erwachte und blickte auf die Uhr. Es war zehn vor fünf, keine fünfzehn Minuten hatte ich geschlafen.

Abends mit Frau S. in Fellinis erster eigener Regiearbeit Der weiße Scheich. Diese Frau S.!

8. September, ein Dienstag

Heute Hausversammlung: Zwecks Demonstration eigener Teamkompatibilität und Projektanpassung habe ich schonend sanft jenen Konflikt zwischen Genossenschafts-Vorstand und mir zur Sprache gebracht. Rundherum pikiertes und duldendes Schweigen der Liebküsschen-Nachbarn. Der Vorstand revanchiert sich mit routinierter Leutseligkeit. Eigentlich ist das Ganze zum Schreien.

Pedal the World gesehen: eine Selbst-Dokumentation über einen Radfahrer, der ein Jahr lang mit dem Rad die Welt erkundet hat. Er hat sie aber nicht „erkundet“. Der Filmemacher ist ein eitler Gockel, der kein anderes Wort als „geil“ oder „scheiße“ für Dinge findet, die ihm gefallen oder nicht. Schade. Ich hatte lange auf diesen Film hingefiebert.

12. September, ein Sonnabend

Der Hauptmieter, der ja mein Vermieter ist, schickt mir immer wieder Mietverträge zur Unterschrift, die lediglich die Mietkosten nach oben regulieren, aber keine Mietdauergarantie einräumen, obwohl wir das telefonisch vereinbart haben. Meine Hinweise darauf ignoriert er. Er ist Jurist und macht sich einen juristischen Sport aus der Sache, indem er mich jetzt unter Druck setzen zu können glaubt, weil ich ohne seinen Vertrag keine Zwischenumsetzwohnung bekomme. Aber er weiß nicht, dass ich bereits eine zugesichert bekommen habe.

Sonnabendglück. Training, Frühstück, Ausstellung früher japanischer Fotografie, schließlich noch chinesisch Essen mit Frau S., die sich ein wenig festkrallt, was mir Sorgen bereitet. Ach, was für ein Unsinn aber auch.

5. Oktober 2016 10:02










Hans Thill

Der fröhlichste Fisch

Zuß, der Wimpernknecht, wurde in Völklingen geboren, ungefähr zur selben Zeit wie Konstantin Ames, der sein Vater ist. Dieser lebt in Berlin und manchmal schwimmt er an uns vorbei. Er ist sehr mutig, ein sTIL.-Fuchs, »Jesuscowboy«. Er ist durchaus streitlustig und mitunter kann er ergreifend zärtlich sein: »E`rlich [sic!] bist die wunderbaustelle, qui j´embrasse«. Wir haben ihn lange vermißt! Herzlich willkommen, lieber Konstantin Ames, in unseren Teichen voller Tang!

5. Oktober 2016 11:00










Konstantin Ames

Viele Vögel schreiben Gedichte in die Nager mit ihren Schnäbeln. Viele
Vögeln, schreiben dann Gedichte, Lyrik.
Viele Hämmer schreiben Sicheln.
Bekanntmachungsnase am Canale sowieso, irendwo in Cannareggio
Viel versteht sich dicke von selbst.
Von einem Säbel wurde meine Nabelschnur durchtrennt, nicht von
Licht; bin die Auskunftei von euerm Brechtreizdarm. (Ab)
13. September ist immer ein guter Tag für Liszt.
Boah! Pardon wird nicht gegeben.

(nachts um zwei wird nachgestorben« 13.09.2016)

5. Oktober 2016 11:26










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (75/76/77)

19. September 2015, ein Sonnabend

Still Alice hinterließ in mir eine satte Angst vor Krankheiten, die mich rettungslos verblöden lassen. Reizvoll aber doch: als biologische Konsequenz sozialer Schwundstufe.

Die Nachricht der Baugenossenschaft, ich möge bitte nächsten Freitag den Untermietvertrag mitbringen, lässt aufhorchen. Wenn sie wieder Steine in den Weg legen und der Umzug verschoben werden muss, ist die Hölle los. Mal sehen, was der Kungelverein da wieder ausheckt.

21. September, ein Montag

In Ahrenshoop mit Mutti und Vati – schreibt man wohl besser „mit den Eltern“, wenn man 49 ist, obwohl man doch weiß, dass man in deren Gegenwart immer Kind bleibt?

Zwei Verluste, seltsam ähnlich gelagert und erstaunlich zeitgleich, nämlich gerade heute wieder: Zu J.M. brach ich den Kontakt, seit er unsere kostbaren Musik-Funde der Universität zuschrieb, die sie fälschlich für sich reklamierte. Ein Anderer, A.S., verschmäht Kontakt zu mir, seit ich seinen Film nicht präsentierte. Beide Fälle sind ähnlich, der Vorwurf zielt auf Unterschlagung und Verrat. Beide Fälle sind mit Entschuldigungen nicht zu lösen. Bedrückend.

23. September, ein Mittwoch

Immer noch in Ahrenshoop, im kurzen Eltern-Sohn-Urlaub. Man geht spazieren, man geht essen (Hafen-Restaurant), man spielt Karten (Canasta), durch den Daseinsnebel schimmern die Konturen der prekären Lage. Dann nehmen sie Gestalt an, als die Nachricht der Genossenschaft eintrifft: der Termin zur Unterzeichnung des Mietvertrags platze, der Umzugstermin sei zu verschieben, man bitte um Berücksichtigung. Nun wird’s chaotisch, und die seltsam begütigende Heiterkeit, die ich den Eltern vorgaukle, wird fadenscheinig. Wegen Anbieter-Wechsel habe ich derzeit keine funktionierende sim-card, empfange also keine Anrufe, während Anrufer dennoch gebeten werden, ihre Nachrichten auf Band zu sprechen – das ist alles sehr dumm und legt sich als Schatten auf diese kurzen Eltern-Tage.

Telefonate mit der Mieterberatung ergeben, dass erstens die Baugenossenschaft mit mir keinen Mietvertrag schließen will und mich offenbar am langen Arm verhungern lässt und dass zweitens die Mieterberatung ein Mandat für mich nur unter der Bedingung hat, dass ich Teil der Baugenossenschafts-Konstellation bin. Ich stecke in einer miserablen Mangel dieser Spießgesellen. Emails und Telefonate absolviere ich in der Mittagspause (mit dem geliehenen Handy der Mutter!), während die Eltern Mittagschlaf halten, nachdem wir in einem zwanghaft sanierten Zingst auf dem Deich spazierten und bevor wir zu Abendessen und Canasta übergehen.

Doch ich werde gereizt. Gereizt, wenn sie durch lautes Kartenspielen die Pensionsgäste aus dem Saal vertreiben, die dort lesen und entspannen möchten; gereizt, wenn mein Vater bei einer Kellnerin, die eine männliche Stimme hat, die Bestellung mit betont tiefem Bass aufgibt, weil er das humorvoll findet; gereizt, wenn in Gegenwart anderer Menschen Gefrotzel in Zänkisches umschlägt; gereizt, wenn der Vater bei offener Tür äußert, er müsse jetzt pupsen; irgendwie sind sie immer wieder öffentlich peinlich, so dass ich mich frage, wie man mit solchen Eltern jemals gesellschaftsfähig werden soll. Da ich sie und mich nicht vor ihnen schützen kann, bin ich mir dauernd selbst peinlich. Und da lese ich doch tatsächlich die in den Pensionsregalen ausliegende Biografie von Philipp Lahm.

6. Oktober 2016 12:51










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (78/79)

25. September 2015, ein Freitag

Gestern Morgen von Ahrenshoop zurück nach Berlin. Ein desolater Urlaub bei allem Bemühen. Das Bemühen machte alles vielleicht noch schlimmer, noch verzweifelter. Die Bösartigkeiten und Feindseligkeiten schmieden sich in die eiserne Kette dieses Jahres.

Gestern noch alle Umzugsvorbereitungen zurückgefahren.

01. Oktober, ein Donnerstag

Mit Hellmuth Karasek starb gestern wieder mal ein virtueller Begleiter des literarischen Lebens. Gestern auch schloss ich Nietzsches Also sprach Zarathustra ab – eine Erleichterung nach diesem irgendwie ja schrecklichen Buch. Endlich wieder Proust.

Da hole ich gestern mein Fahrrad von der Reparaturwerkstatt, und auf der ersten Tour kriegt es einen Platten (genau dasselbe passierte nach der Reparatur im August, und da frage ich mich doch, ob „ostrad“ wirklich so eine empfehlenswerte Werkstatt ist). Das geschah auf der Rückfahrt vom Dojo etwa in Höhe Jannowitzbrücke. Ich schob das Rad unschlüssig eine Weile hin und her, bis ich endlich entschied, es abzuschließen und mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. (Mist: Im Fahrkartenautomaten ließ ich meine EC-Karte stecken.) In der U-Bahn bekam ich eine SMS von I., ich möge ihr den geliehenen Memory-Stick bitte persönlich geben und nicht ins Dojo legen – wo ich ihn allerdings bereits deponiert hatte … also nach Hause, ins Auto, mit dem Auto ins Dojo, Memory Stick einsammeln, mit dem Auto zur Jannowitzbrücke, Fahrrad in den Kofferraum wuchten, mit offener Heckklappe (genau wie im August) durch die Stadt zur Werkstatt, Rad anketten und mit dem Auto nach Hause.

Mein neues Hobby: der Geburtstag des Aikidoka K. Heute Abend steigt zu seinen Ehren unsere dojo-interne Ultrawohlfühl-Zeremonie, und weil ich wenig Besseres zu tun hatte (der Artikel ist längst abgeschickt, aber die FAZ meldet sich nicht), schrieb ich ein Huldigungs-Gedicht. Ich bin ein hoffnungsloser Hineinsteiger, in alles muss ich mich immer hineinsteigern, in jedes Projekt, jede Schrulle, jede Liebe, jede Feindschaft, jeden Berg muss ich mich hineinsteigern und klettere dort, wo andere nicht mehr mitwollen. Apropos: Gestalt angenommen haben Pläne für einen größeren Trekking-Urlaub in Peru: also die Anden. Sehr schöne Touren gibt es da. Mal prüfen, ob ich die Höhen aushalte.

Ansonsten ist gerade der Alpen-Galopp fertig, eine Foto-Film-Montage zur Alpenwanderung mit dem musikalischen ‚Schnellzugs-Galopp‘ der Ersten Fränkischen Bauernkapelle.

Leider macht die Montage nicht so viel Spaß. Die Außentemperatur sinkt. Die 18°C sind nicht gerade Frost, aber kuschelig sind sie auch nicht, wenn man nur am Schreibtisch sitzt und keine Kohlen mehr für den Ofen hat. Elektronische Nachfragen bei der Genossenschaft bezüglich der Wohnung werden nicht beantwortet. Und da ist B., der Irre aus dem 1. Stock, den vorgestern vor der Haustür die Idee überkam, er und ich könnten uns doch eine Wohnung teilen – er selbst sei ja dauernd in Barcelona. Dieser Wahnsinnige! Allein diese Idee in die Welt zu setzen, lässt mir den Angstschweiß auf die Stirn treten. Nicht auszudenken, er fixt die Genossenschaft mit diesem Irrsinn an.

Ich bin gespannt, was passiert, wenn diese dauernde Anspannung durch Umzug und Krankenkassenwechsel abfällt. Wahrscheinlich werde ich sofort krank. Die Familie scheint, so weit ich höre, derzeit nicht bei bester Gesundheit zu sein: Schwester U. soll in der Firma einen Nervenzusammenbruch gehabt haben – also dasselbe wie vor einem Jahr. Ihren lädierten Knien geht es langsam besser. Den Knien der Schwester S. eher nicht. Und Neffe M. hat am After einen ätzenden Abszess, der in zwei Schritten weggeschnitten werden muss. Das Koll-Genom ist eine Selbstzerstörungsanlage.

Mutti erzählte mir am Telefon von der Gettorferin Frau H., die während Muttis aktiver Zeit als Gymnastik-Lehrerin keine besonders freundliche Rolle gespielt habe und kürzlich den Begräbniswald aufsuchte, wo ja auch die Kolls ihr Bäumchen reserviert haben. Dort hat man einen schönen Blick aufs Meer. Ihn genoss auch Frau H., stürzte allerdings dabei von der Steilküste zu Tode.

Draußen vor der Espresso-Bar hörte ich einen Passanten telefonieren: „Ja … Töpfe hab‘ ick … ja, Formalin och, den Leichenüberweisungsschein och … hab ick, alles klar!“

7. Oktober 2016 02:46










Konstantin Ames

Gegens Fenster schifft Regen.
Erste Gespenster
im dunklen Gang.. Er-
arbeitete freun sich
’nen zweiten Gartenschlauch
ins lodernde Bureau, schlapp
den längsten Fangzahn
zieren winzige Kommata… Er

gleicht darin dem kleinsten
Apfelgrün, apfelgrünen Bade-
wasser, Stücken Lauch darin
(Engl) inner Sandtigerhaisuppe, schnapp
beste in der Gegend….

(lavant« 20.12.2014)

in memoriam Fabjan Hafner

8. Oktober 2016 07:51










Tobias Schoofs

UNGESCHRIEBEN

ungeschrieben ist das gedicht
was du hier siehst ist nicht das
gedicht es ist nur der zwischen

raum zwischen den zeichen die
zu jenem gedicht gehören es ist
nur frage ohne antwort antwort

zu der du die frage nicht weißt
es ist ein wort ohne inhalt wie
sehnsucht das trotzdem wehtut

9. Oktober 2016 17:53










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (80/81)

3. Oktober 2015, ein Sonnabend

Mein Schadenbegrenzungsleben ist um zwei Schäden ärmer: Gestern simste mir ein mir gänzlich unbekannter Danilo, er habe am Donnerstag meine EC-Karte im U-Bahn-Automaten gefunden. Außerdem unterschrieb ich den Mietververtrag für die Zwischenumsetzwohnung.

Die aikideske Zeremonie für den Jubilar K. unter dem Decknamen Aktion Butterfly: eine kollektive Liebesspende aus Wohlgeruch (wieso eigentlich nicht Myrrhe?), Shiatsu, Violine und Poesie, eine geschmeidige Gewichtsverlagerung zwischen Wohlfühlmeditation und amouröser Beschwörung.

In derselben Nacht, also am Freitag, erhalte ich Kurznachricht von Meg, die Kontakt erwünscht. Verwirrend. Kitty antwortet auf meine SMS nicht, ich wiederum ignoriere das Werben der Frau S. Und nun ist da Meg, die Champions-League-Lady. Und auch noch die plötzlich zurückgemeldete M.: die will mich besuchen mit Nacht-Aufenthalt.

5. Oktober, ein Montag

Träumte, neben mir nähme Opa Platz. Er sieht nicht aus wie Opa, aber es ist klar, dass nur er es sein kann. Nach kürzester Frist geht er schon wieder, und ich rufe aus: „Du willst schon wieder gehen?“ – und schon ist er weg. Beklommen erwacht.

Neue Wendung auf der Party des Jubilars K. am Sonnabend: Nach konsequentem Sektverzehr und Tanz kommt es zu ein wenig kabarettistischen Avancen von Frau S., deren Kussattacke eins und zwei ich ausweiche und abwehre. Zu beidseitiger Abkühlung geht man nach oben vor die Tür, als pubertiere man. Das Leben: eine Demütigung. Frau S. trägt sie nach ersten Tränen mit erfreulich robust restaurierter Würde.

Schreckhafter flashback: der 1. Oktober vor 30 Jahren, 1985 an einem Dienstag. Da ereignete sich der traurige Einzug in die Kaserne in Hamburg-Wentorf. Ein furchtbares Zeitloch, gefüllt mit Drangsal, Verblödung, Derbheit und Ausbildung schlechter Eigenschaften.

10. Oktober 2016 22:51










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (82/83)

7. Oktober 2015, ein Mittwoch

Heute um 15 Uhr Schlüsselübergabe Pistoriusstraße 147. Umzug am Sonnabend, dem 17.

13. Oktober, ein Dienstag

Köstliche Momente vor dem Einschlafen vor dem Fernseher: entspannteste und gespannteste Aufmerksamkeit auf die Vorgänge im Film, inneres Eindicken, Wärme.

Morgen Filmpräsentation von Ein Metjen nahmens Preetzen auf dem Archäologie-Festival. Spannend, ich kenne meinen Film inzwischen selbst nicht mehr. Eine Erkältung bahnt sich an. Die Raumtemperatur beträgt 13°C, nasskaltes Wetter. Es ist keine Kohle mehr da. Die habe ich längst verschenkt, als ich noch dachte, der Umzug fände rechtzeitig statt. Hoffentlich ein Umzug ohne Regen.

11. Oktober 2016 12:00










Mirko Bonné

Das trabende Gras

Es stimmt, auch ich
war mal im glücklichen Garten.
Nur bin ich mir nicht sicher, wo das war
und ob meine Großeltern mir so ersparten,
Schrecken zu sehen,
vielleicht für ein Jahr.

Es war der Sommer,
als ich auf den Bäumen las.
Ich kletterte in die Wipfel, fühlte mich frei,
und wenn es leuchtete, im trabenden Gras,
mein Lieblingsgesicht,
war mir alles einerlei.

Für Nadja Küchenmeister

*

12. Oktober 2016 22:51










Hendrik Rost

Bob Dylan – aus: Blonde On Blonde

Then time will tell who has fell
And who’s been left behind
When you go your way and I go mine.

The judge, he holds a grudge
He’s gonna call on you
But he’s badly built
And he walks on stilts
Watch out he don’t fall on you.

13. Oktober 2016 12:41










Hans Thill

Mit Nasenbluten, Schluchzern, engem Aufgestöhn (long version)

der energischen Navajos, manche ganz englisch, also
aufgedonnerte Nannys, Angostura nippend in einer Schlucht,
aus der die Bäche kommen, schwerer als Wasser. Narrativ.
Blau die Nas von einem Schluri (war mal ein Ritter gewesen).

Bitterschokolade, plärrenden Augs. Fischarts
nauppengeheuerliche Softnutten, Leerschlag nach Leerschlag
schlittern die Eingebornen in enge Kostüme auf der Suche nach dem schrulligen
Nosferatu. Schaluppen mit Lippen wie ein Schuljunge

mit Nixlein. Öffentliche Austern. Bodenbluten, ebenfalls
öffentlich. Mit Brettersosse narrt man die zehrenden
Schaben. Man hat eine Tendenz zum Wespenlutscher,
man hätte einen Kolbenfresser auf dem

Schluchsee (Forêt noire), es wäre irre eng, ok, im
Aufzug. Die Sockenschlümpfe lernen von Artisten, die
noch in Notzelten einen Salto finden. Solobutter,
Schonzeit für Bullen, na prima. Tim und Mentzer

Nas und Nuppe, Totnsonntag auch für „seinen“
Johannes. Von der Milch her ein Hans sein,
schlurfender Nochspecht, ein Karneol aus
Lutherjahren, nenn ihn Stüber, aber schweig

von seinem geschmähten Glied. Diese Seufzerbrücke
kurz vor knapp. Schlimmer wären die Störenfriede des
Pontormo, mit Bulgur sogar, oder das rechte Bein gleich
neben einem toten Kamel. Sags ihr durchs Maul,

nimm das Übersee-Necessaire mit ins Nadelöhr,
pack dich voll mit Astor Filter. Schluchzende
Neubauten, enge Hängung, hier auf dem Boulevard
der Engadiner. Ist er ein Soldat, soll er die Trommel

frein, eine der vielen Bullrichnasen meiner Oma Scharlott,
in ihrem Gefolge auch so ein Fensterweiblein mit
contrainte. Fand in Kriegszeiten Verwendung als
Fischschwanz, normal oder normannisch,

Holz in den Kalk gezeichnet. Altes Rasierblut noch
von ten sixty six. Erfolgsgeschichte einer Muse namens
Klit, Johan Fischart, genannt Gargant. Paul und Paul
vom Ross gefallen, alle Apostel sonst auf dem Posten.

Das stornieren wir gleich. Tintenstrahl mit Fischgeschmack,
Prints für die Veganer vom Mars. Dortige Mäuse.
No Sir, energischer als Shakespeare schlug Störtebekker
die Hornissen tot: bellende Schnauzen nardische

Blutbuletten ausm Silo, saftiger als alles was der Butcher
(patientenenglisch) nach einem Absacker so auftischt.
Oder wenn er all die Schaunasen rotwelsch
untertitelt. Rust never sleeps.

Mitten im Bungabunga isst man halt Butterbrezeln,
schielt nach dem schönen Zettel, der anderswo
ein bottom wäre.

von seinem geschmähten Glied. Diese Seufzerbrücke
kurz vor knapp. Schlimmer wären die Störenfriede des
Pontormo, mit Bulgur sogar, oder das rechte Bein gleich
neben einem toten Kamel. Sags ihr durchs Maul,

nimm das Übersee-Necessaire mit ins Nadelöhr,
pack dich voll mit Astor Filter. Schluchzende
Neubauten, enge Hängung, hier auf dem Boulevard
der Engadiner. Ist er ein Soldat, soll er die Trommel

frein, eine der vielen Bullrichnasen meiner Oma Scharlott,
in ihrem Gefolge auch so ein Fensterweiblein mit
contrainte. Fand in Kriegszeiten Verwendung als
Fischschwanz, normal oder normannisch,

Holz in den Kalk gezeichnet. Altes Rasierblut noch
von ten sixty six. Erfolgsgeschichte einer Muse namens
Klit, Johan Fischart, genannt Gargant. Paul und Paul
vom Ross gefallen, alle Apostel sonst auf dem Posten.

Das stornieren wir gleich. Tintenstrahl mit Fischgeschmack,
Prints für die Veganer vom Mars. Dortige Mäuse.
No Sir, energischer als Shakespeare schlug Störtebekker
die Hornissen tot: bellende Schnauzen nardische

Blutbuletten ausm Silo, saftiger als alles was der Butcher
(patientenenglisch) nach einem Absacker so auftischt.
Oder wenn er all die Schaunasen rotwelsch
untertitelt. Rust never sleeps.

Mitten im Bungabunga isst man halt Butterbrezeln,
schielt nach dem schönen Zettel, der anderswo
ein bottom wäre.

für Paulus Böhmer

14. Oktober 2016 11:23










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (84)

15. Oktober 2015, ein Donnerstag

Meine Psychosomatik wird ja immer empfindlicher. Kaum steht etwas bevor, geht es mir schlechter denn je. (So lässt sich die Bewältigung des Bevorstehenden sehr viel glaubwürdiger glorifizieren.) Gestern, als ich mich nach Brandenburg aufmachte, um meinen Film auf der Archäomediale vorzustellen, begann schon beim Einsteigen ins Auto ein Ohrenreißen. Ich dachte erst, das sei Duschwasserrest, aber es wurde immer schlimmer. Dazu die Erkältung. Was für Schweißarten da zusammensickern. Gleich doch mal eine Propanolol einwerfen. Das reguliert denn doch enorm. Nur kann ich meine Außenwirkung dann nicht mehr gut einschätzen. Bei der Fragerunde hinterher stellt niemand eine Frage außer dem alten Film-Haudegen D., dessen langes Nuscheln in die spannende Frage nach dem Anlass des Films mündet. „Nein, kein Anlass“, kopfschüttle ich sediert und registriere dann aber doch die Außenwirkung einer so unhöflichen Antwort.

Dieser D.! Einer, der sich wirklich mit allen Hochetagen der Akademie und Politik anlegt und es sich mit ihnen verscherzt. Aber auch einer, der es schafft, für ein Festival ein Grußwort zu schreiben, in dem er nur für seinen eigenen Film wirbt. 76! Und erzählt mir mit seinen 76 Jahren von seinen zehn Tagen im Keller dort bei Brandenburg, in den ersten Mai-Tagen 1945. Ein seltsamer Mann: großes Herz, alte Schule, tollkühn und tolldreist.

Trotzdem miserable Nacht im Hotel. Zwischen halbdrei und vier Uhr wach gelegen und im Fernsehen Dokus über den Allgäu und die asiatischen Hochgebirge gesehen. Die Putzluft verbot, das Fenster zu schließen. Der Verkehr verbot, das Fenster offen zu lassen. Dazu diese Rotzbeutel in den Naseninnenhöhlen, die immer zu jener Seite schwappen, auf der ich liege. Grässlich. Morgens Frühstück. Da ist man ja leider nie allein, sondern sofort mit den Anderen vom Festival zusammen. 10:15 Uhr zuhause.

Auf mp3 gehört: Hubert Fichte. Auch so einer. Schaurige Stimme mit seiner Hamburger Plättung. Aber dann ein Satz wie „Mach doch mal das Licht an, das iss so dämmsig!“ Außerdem ein Vorbild in Sachen Reisebeschreibung, Angstbeschreibung, Magiebeschreibung – manischer, konsequenter, abenteuerlicher, sammelwütiger, als ich es je sein könnte.

Den ganzen Tag gepackt, geschraubt, demontiert. So weit gut vorbereitet für den Umzug. Fast schon beruhigend, dass jetzt, am Abend, die Stimme ziemlich weg ist und auch das Ohr sich zuweilen meldet – nicht alle körperlichen Symptome kündigen von Lampenfieber vor sozialen Auftritten.

Und gleichzeitig natürlich zum Kotzen: Nur weil die Genossenschaft fahrlässig (wenn nicht schlimmer) geschlampt hat, ging der Umzug nicht vor zwei Wochen bei herrlichem Sonnenschein und bester Gesundheit zügig über die Bühne, sondern jetzt, bei Dauerregen, Kälte und Erkältung. Wer besorgt mir einen tüchtigen amerikanischen Anwalt?

15. Oktober 2016 12:36










Christian Lorenz Müller

ZEHN APHORISMEN ZUR BUCHMESSE

Kein Bücher-Jahrmarkt ohne Stilgaukler.

Sein erstes Werk war ein Roman, gewaltig wie ein Gebirge.
Gleich nach dessen Erscheinen begannen die Mühen der
Ebene.

Glasklare Prosa muss nicht notwendigerweise
durchsichtig sein.

Die Produktion von heißer Luft kann durchaus
zu Höhenflügen führen. Es braucht nur jemanden,
der die passende Ballonhülle dafür bereitstellt.

Gegen gelegentliches Waten im seichten Wasser der
Unterhaltung ist nichts einzuwenden. Bedenklich wird
es bei Schwimmversuchen oder Sprüngen vom Rand.

Im medialen Zirkus gibt es Artistinnen, Dompteure,
Messerwerfer und Clowns, aber eine Direktorin oder
einen Direktor sucht man vergebens.

Selbst über ungelegte Eier, die aus Legebatterien kommen
werden, redet man viel und gerne.

Wenn Stil die Physiognomie des Geistes ist, warum
erschrecken wir dann nicht vor der allgemeinen
Fratzenschneiderei?

Das helle Strahlen seines Geistes blendete all jene, die
keine Sonnenbrillen in der Tasche hatten.

Wer sich ständig wiederholt, der hat gute Chancen, gehört zu werden.

17. Oktober 2016 09:09










Thorsten Krämer

Dieses Gedicht hat den Zug zur Buchmesse
verpasst. Nun steht es auf dem Bahnsteig und hat
Kaugummi unterm Schuh. Erdbeergeschmack.

19. Oktober 2016 13:06










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (85)

20. Oktober 2015, ein Dienstag

Tage des Umzugs. Es wurde mit der Krankheit tatsächlich immer schlimmer, am schlimmsten war der Sonnabend, der Umzugstag, ich war geradezu zerlöchert von der nasskalten Pestluft in der Sredzkistraße.

Freitag Baumarkt und IKEA, Arbeitsplatten rüber, Regale abschrauben, Reste verstauen. Sonnabend zu zehnt schleppen, laden, schleppen, schwach bei Stimme, aber innerlich froh, weil es keinen Regen und kaum Bruch gab. Zehn Uhr abends Einzugsfeier: ein Bad in der Wanne. Mal was anderes als die rumpelnde Dusche in der Sredzki-Küche. Ein Bad wie damals, als Kind: etwas zu heißes Wasser, kleiner Schmerz mit Prickelreiz. Dann im Liegen sanft den Hintern heben und auf den Moment lauern, wenn die Penisspitze die Oberfläche des Wassers durchstößt.

Sonntag: wie ein 25-Watt-Patient durch die Wohnung geschlurft, um nach Essbarem Ausschau zu halten: Raider (klein), Weingummi (zu wenig) … Schon besser am Montag: D. hilft bei Licht, Regalen und Zimmermannsdingen. Hilft auch heute. Werde wohnlich. Heilfroh, der TBC-Bude entronnen zu sein.

20. Oktober 2016 10:55










Christine Kappe

ZUR BUCHMESSE 2016

Der weißrussische Stand war der kleinste
Und verlassen
Jemand kam vom Nachbarstand und passte auf
Aber erst, als alles geplündert war
Wir kamen zu spät
hätten wir das gewusst, hätten wir die Bücher natürlich geklaut
weil sie so gut waren und uns wirklich etwas bedeuteten
Dieben konnten sie doch gar nicht so viel bedeuten, was sollte der Unsinn

Weil unsere Mikrophone auf derselben Frequenz funkten, wie irgendein anderer Veranstalter
hörten wir mitten in der Lesung, an der spannendsten Stelle, eine Mikrophonprobe
„Hallo Hallo, Test Test!“ als Erics Opa starb, rief er sozusagen aus dem Jenseits
das war irre, zumal er im Laufe der Geschichte immer jünger wurde

Auch am iranischen Stand nebenan gings zur Sache
eine Gruppe demonstrierte gegen die Todesstrafe
wir verstanden kein Wort, auch von unserer eigenen Lesung
sie wurden sanft abgeführt
Alle versuchten noch, die Plakate zu lesen
Wir versuchten noch, ohne Mikro, so eine Art Jahrmarktsgebet… Ich bin, trotz aller Umstände, total ruhig geworden, weil ich merkte
das ist total wichtig jetzt, was wir hier zusammentragen
Wir hatten so das Dreieck: Zweiter WK – Securitate – Träume

K. hatte einen unglaublich sympathischen Akzent
Ich glaube, wenn wir es schaffen, diese räumlichen, zeitlichen und sprachlichen Distanzen Differenzen zu überwinden verbinden
und das ganze non profit, ohne dabei vor die Hunde zu gehen

23. Oktober 2016 08:58










Tobias Schoofs

DER ALTE VOM RESTELO

die bombe am restelo gestern
ausrufezeichen gegen gezeiten

die ebbe heute trägt die flotte
fort und morgen bringt die flut
antwort bekenner war der alte

der ungehört blieb im gedräng
niedergeritten vom eifer der eil
fertigen & schallwellenbrecher

der knall der bombe in der luft
verebbt gemächlich im gehör

23. Oktober 2016 19:55










Andreas Louis Seyerlein

~

MELDUNG. Nahe Brin­di­si, beih­na­he zeit­gleich, sind Men­schen [ 128 Per­so­nen ] von hell­blau­er Haut wie aus dem Nichts her­aus an Land gekom­men. Man ist fieb­rig, aber freund­li­ch wie immer. – stop

> particles

23. Oktober 2016 20:46










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (86)

26. Oktober 2015, ein Montag

Was für eine rabiat miese Woche das war mit dieser knochendicken Erkältung. Aber doch so weit genesen, dass ich am Sonnabend gefahrlos den Hamburger Besuch, Ex M. mit Sohn J., empfangen konnte. Für J. ins Mitmachmuseum in den Prenzlauer Berg, wo in einer Art Fabrikgebäude ein Spielplatz installiert ist, der spielerisch all das Wissenswerte platziert, was urbaner Nachwuchs wissen muss (Straßenverkehr, Müll, Strom …). Man hopst und fährt, es hopsen und fahren Väter, deren Kinder längst müde sind. Heute Mittag gingen wir ins Planetarium, ein hervorragender Platz zum Schlafen. Lustigerweise habe ich für nachher, 17 Uhr, Freund D. einbestellt: vordergründig dazu, eine Duschstange zu montieren, hintergründig dazu, um D. mit M. zu verkuppeln, wobei jeder von beiden eingeweiht ist, allerdings ohne zu wissen, dass es der jeweils andere weiß. Eine womöglich etwas törichte Veranstaltung.

Insbesondere die gerahmten japanischen Fotografien an der Wand des Wohnzimmers sind ausnehmend schön.

26. Oktober 2016 10:47










Konstantin Ames

Jemandem das fluchse glück
(wie der fucks im märchen den

trauben ihr hochsein) neiden; nein, aber
jähen fall mit mit
leid überdecken, wo man selbst
schwer gewartet hat;

bojen waren nicht, eulen minder;

wie ein wenig urschleim zu kredenzen, wie; auf dem egal wäre
franziskustee noch aus stankt erkältungen gestanden

geschneide und miniatnuten
[vverb!] auf pastaritzenglitz
ehern rotz phlegma ins kloo
von der latte (methodenset) tropft macchiato
ist das ein* zentänz ein neuton
ist ein ei in liz taylors harren
passiert fairer prozess würde
das *e nicht wenn wer
den leuten sagt sie seien schön

(nerds« um 2008)

26. Oktober 2016 17:58










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (87)

31. Oktober 2015, ein Sonnabend

9 Uhr, gleich geht’s ins Freie Training. Gestern war Hochzeitsfeier: M+C heirateten nach zwanzig Jahren wilder Ehe. Unsre Aikido-Gruppe schwang sich zu einer kreativen Verzweiflungstat auf und veranstaltete ein halb- bis dreiviertelpeinliches Schwert-Gewürge, verabfolgt von einem Spalier und Überreichung eines Rollbildes. Schön war das Rollbild, erträglich das Spalier, unterirdisch die Performance, das mit Abstand Schlechteste, was wir jemals vorgeführt haben, und es ist nicht schönzureden. Dirk und ich hatten uns schon im Vorfeld ausgeklinkt und uns damit ein wenig zu Spielverderbern gestempelt. Eine sehr stinkige I. hatte mich gestern während des Trainings daher ignoriert.

Gleichzeitig  ungezügelte Freude an unserer Gruppenseligkeit auf der Tanzfläche mit lauter Albereien, tolldreisten Tänzchen, seltsamen Sangeseinlagen, ungezügelten Hochs auf das „geile Leben“, die sofort um sich griffen und wir alle gemeinsam heiser und halbbetrunken skandierten.

17 Uhr. Zwischen 9 Uhr und jetzt liegt das Freie Training, und die Welt sieht anders aus. Ich erfuhr, wie schräg die Schwert-Performance-Absage angekommen ist. Ich erfuhr, dass Dirk und ich es waren, die damals beim gemeinsamen Ideensammeln hinsichtlich einer Hochzeits-Einlage geradezu federführend waren – ein Umstand, den ich völlig verdrängt hatte, aber E. wusste es genau. Wie hatten wir so töricht sein können, da in der Pizzeria das Feuer zu schüren?

31. Oktober 2016 11:30