Christian Lorenz Müller
Baum Beugt sich über Baum
am Abend.
Ein Blatt fällt einem Blatt entgegen.
Du schaust dir beim Betrachten zu,
blickst auf die Brücke,
die sich doppelt Schwung gibt.
Ein Angler fischt nach sich selbst.
Langsam schwindet die Schnur,
schwindet das Licht.
Schatten huschen übers Wehr.
13. November 2015 19:10
Christian Lorenz Müller
Morgens wimpert Gras
um die Kastanienaugen.
Tautränen trocknen.
4. Oktober 2015 21:08
Christian Lorenz Müller
Anspruch auf ein Einzelzimmer,
ruhig, mit Blick auf den Park
Feldbetten, ausgelegter Karton,
eine Tiefgarage für tausend Menschen
vor dem OP-Termin
ein Gespräch mit dem Primar
Rotkreuzhelfer versorgen
eine schlecht verheilte Wunde
das Wachstum ihres Kindes
wird durch die Titanplättchen
nicht weiter behindert
Bombensplitter? Nein, mein Junge
hat sich den Schenkel
an Stacheldraht zerrissen
so begradigen wir die Stellung
der Knie, für Schmerzfreiheit
selbst noch in hohem Alter
er wollte unbedingt
als erster unten durch
es wird ein bisschen wehtun
das wird schon wieder
du musst bis Freitag hierbleiben
wir wollen schnellstens weiter
du wirst bald ganz gesund sein
zu Fuß, wenn es sein muss
gute Nacht, ich komme morgen wieder
schlaf, mein Junge, schlaf ein.
18. September 2015 13:35
Christian Lorenz Müller
Rote Striche auf Beton:
Normgröße für vier Räder,
vier Feldbetten, Isomatten
oder auch zehn Decken
auf einer Lage Karton.
Gestern noch aufgeblendete Scheinwerfer,
heute das weiße Glosen
der Augen; erschöpftes Gewisper
anstelle summender Motoren.
Nur die Schranke ist offen:
Exit, Ausgang, Notausgang
in den Nieselregen
der diesseits und jenseits
der Grenze fällt.
14. September 2015 17:01
Christian Lorenz Müller
Als ich aufwachte, nachts,
weich bedeckt, die Matratze
warm unterm Hintern,
dachte ich an die, die gingen,
40 Kilometer gingen, Marathon, ich dachte:
Wo schläft der Rollstuhlfahrer,
den du im Fernsehen sahst,
wo der junge Mann an Krücken,
der nach Schweden wollte?
Deckt sie der Tau?
Drückt eine Plastikflasche
als Kissen ihr Gesicht?
Hier rauscht der Regen,
dort die Autobahn,
und Wien ist weit, so weit.
So dachte ich
und konnte nicht mehr schlafen.
5. September 2015 10:07
Christian Lorenz Müller
Es ist so leicht. Es ist ein zweigeteilter Vers, nicht mehr.
Der Imam spricht ihn vor, du sprichst ihn nach.
Dann gratulieren dir die Brüder,
Ahmed umarmt und küsst dich, und er lacht:
Nun heißt du Hassan, Hassan Al-Almani,
und du verstehst: Die Suren, sie sind Blumen,
sie sind wie leuchtend roter Mohn
der nicht verwelkt. Sei ihnen Vase,
lass das Wort aus deinem Munde blühn.
Der Duft des Glaubens
kommt aus Allahs Garten.
Denk nicht zurück. Denk an die Huris,
an das Blütenblatt in ihrem Schoß,
an deinen Platz am kühlen Bach.
Fruchtbar grünt das Land
wenn ein Regen aus Patronen fällt.
Sag dir die Sure vor, sei ihr Vase –
es ist ein Vers, nicht mehr. Es ist so leicht.
27. Juli 2015 18:03
Christian Lorenz Müller
Für zwei Wochen blind.
Ihr ungläubiges Blinzeln
als die Hitze bricht.
10. Juli 2015 12:44
Christian Lorenz Müller
Anfangs nur ein grüner Schatten
den der Sommer an die Wand warf.
Drei Jahre später saß er breit
auf dem Verputz, auf einer Sandbank
und äugte mit ersten Beeren
zu mir herüber. Zum Kaiman geworden,
glitt er fortan die Fassade hinauf,
schnappte das Licht von den Fenstern
und zog die Laterne ins Dunkel.
Ich nahm die Gartenschere,
schnitt ihm Kämme vom Leib,
doch er schwänzelte ungerührt
bis hinauf in den Dachstuhl
und plünderte das Weiß
der Satellitenschüssel.
So griff ich zur Axt. Sein Leder
lag noch für Monate
grünschimmernd im Garten;
die Krallenspur
geht noch heute übers Haus.
4. Juni 2015 16:56
Christian Lorenz Müller
Gegenwind
Der Motor hat zu wenig Öl.
Er hört die Welle hitzig werden,
hört es ganz allein.
Wo ist die Insel?
Künden Vögel nicht von nahem Land?
Er wünscht sich Möwen,
doch da ist nur Gischt, die fliegt.
Noch fünf, noch zehn Minuten
und die ersten Lagerkugeln brechen.
Er muss zum Heck,
er bittet, fleht, gebraucht die Fäuste,
die Flüche hört er kaum.
Sie stehen eng an eng,
sie stehen wie Soldaten,
sie wissen, dieses Fischerboot
balanciert auf schmalem Kiel.
Geh nicht. Du bist der Beste.
Du hörst, wozu wir Augen brauchen.
Am Außenborder sitzt ein Nigerianer.
Oil? Er deutet unters Dollbord.
Ein Kanister, mit Benzin.
Noch drei, noch vier Minuten.
Wo ist die Insel? Sie ist klein,
ist selber nur ein Boot,
umschwärmt von Gischt.
Das gute Öl für gute Kunden,
das schlechte ist für Leute,
die du nicht leiden kannst.
Ein Gellen, das der Nigerianer
nur als Sirren hört. Die Welle
frisst die Lager, frisst sich fest.
Und keine Möwen, keine Insel.
Gegenwind.
20. April 2015 20:06
Christian Lorenz Müller
die Magnolie auf der Verkehrsinsel
ihre Blüten öffnet, Nester fürs Licht;
wenn die Ampel frühjahrsfarben leuchtet
und niemand Anstalten macht,
die Straße zu überqueren;
wenn die Marmelade
auf einem Frühstücksteller im Café
rot aufblüht und die Fliege
des Kellners zu summen beginnt;
wenn die Sonne die Gleise
so blank und glatt geleuchtet hat,
dass der Zug nicht abfahren kann
und der Schaffner
eine zwitschernde Amsel im Mund hat;
wenn der schwarze Eiszapfen
des alten Romamusikers
zu Klarinettentönen zertropft
und die Zymbalklöppel springen
wie zu früh geschlüpfte Heuschrecken;
wenn der Poet vergisst,
dass Euphorie und Ideen allein
eigentlich noch kein gutes Gedicht machen;
wenn
13. April 2015 14:21