Christian Lorenz Müller

ANZENTAL (PASTORALER ABEND)

Spätes Licht flaumt über den Hügeln,
feines Unterkleid des Tages,
Dörfer brüten, schnabeln sich
mit ihren Kirchtürmen zu.
Hangabwärts gehend quere ich Gerupftes,
ein Stoppelfeld, gleich daneben flattert Mais
nervös in einem Windstoß,
setzt sich wieder zurück ins Dunkle,
und im aufgehackten Ei des Mondes
dottert ein Rest Geheimnis,
tropft ins Bachtal, wo die Erlen
sich schwarzfedrig sammeln zur Nacht.

1. August 2024 09:52










Christian Lorenz Müller

WILDROSE

Monatelang struppt Gestachel,
in sich selbst Verwirrtes Wildbogiges,
einwärts Gekralltes,
das in einem trockenen Winkel dauert,
nur für den existiert
der mit dem Ärmel daran hängenbliebt,
kein Fluch ist scharf genug
für ihre Dornen, und dann
im Juni, verhundertfacht sie sich
von heute auf morgen,
schutzlos ungefülltes, duftleichtes Rot,
alle Blicke sind Bienen,
bestäubt von zwei Wochen Schönheit
die hagebutten vergeht.

2. Juli 2024 09:54










Christian Lorenz Müller

VERÄNDERUNG IST IN JEDEM FLÜGELSCHLAG

Aber noch immer gibt es Augenblicke,
in denen ist alles anders, jener Moment,
in dem die Zahl der Eintagsfliegen
mit dem der Photonen übereinstimmt,
das Licht sich in den Abend erhebt
statt aufs Wasser zu fallen,
in Wellengestalt flussaufwärts zieht,
Teilchen neben Teilchen, Veränderung
ist in jedem Flügelschlag,
in jedem kurzen, filigranen, vergeblichen Leben.

19. Juni 2024 09:10










Christian Lorenz Müller

KLETTERROSE

Schläft im geschützten Winkel
bis die Nachtfröste vorbei sind,
streckt sich, schwänzelt ein wenig
an der Mauer entlang,
lässt sich Weichtriebiges
von der Sonne streicheln,
dann ein plötzlicher Sprung ins Blaue,
in den Himmel getriebene Krallen,
beim Zurückschneiden
faucht sie dir über die Haut,
sie striemt dich,
bis du die Finger von ihr lässt,
mit einem einzigen Satz
ist sie über dem Zaun
und fängt alle Blicke,
sie beißt dem Moment ins Genick
bis er duftend rot
als Blüte am Boden liegt.

24. Mai 2024 08:41










Christian Lorenz Müller

DU FÄLLST NICHT

Gleich neben dem Schreib-
tisch fenstert etwas. Beug dich
hinaus ins Blaue.

Der Wein fasst nach den
halb geöffneten Läden,
hakt sie an die Wand.

Lehn dich viel zu weit
aus dem Fenster. Du fällst nicht,
du schreibst ein Gedicht.

14. Mai 2024 09:57










Christian Lorenz Müller

STAHLFARBENE IRIS, TIEF GELOCHTE PUPILLE
(Israel 1994)

Auszug aus einem Zyklus

III

Einmal, im Westjordanland,
verwirrte ich einen Soldaten
mit der Frage nach Obdach, er saß vor einem Zaun
mit schwerer Stacheldrahtkrone,
ich hatte gerade Jerusalem hinter mir,
Golgatha, die Via Dolorosa, die Klagemauer,
diese Krone zerzackte den Abendhimmel,
als der Soldat telefonierte,
bald fuhr ein bärtiger Siedler herbei,
sein Schnellfeuergewehr saß sorgfältig angeschnallt
auf dem Beifahrersitz, er prüfte meinen Pass,
blickte mich an lange an, nickte,
ich rollte durch das Tor, rollte durch Baracken,
durch eine staubige graue Stille,
die vor der Synagoge endete,
dort gab es einen Flecken Gras,
ein künstlich lautes Grün,
auf dem ich schlafen durfte.

Seit fünf Wochen war ich unterwegs,
Italien, Griechenland, Zypern,
kaum dass ich mich irgendwo niederließ,
lachten Kinder rund um mich herum,
fragten nach dem Woher, dem Wohin,
hier waren nur zwei Erwachsene
von sechs und acht Jahren, Brüder
auf deren Kippas ich hinunterblickte
wie auf Spitzendeckchen, man hatte
etwas Heißes auf ihren Köpfen abgestellt,
Minztee vielleicht, der ihre Zungen,
mit heiligem Ernst verbrühte,
als sie, die Rechte auf den Herzen,
mit der Linken gen Westen zeigen,
Jeruschalajim, Jeruschalajim, und ihre Augen
quarzten hart, vier Kiesel, aufgelesen
von Abrahams uraltem Grund.

Der Grasfleck endete an einer Kante,
geländerlos stürzte der Abend ins Dunkle,
hinunter in ein tief zerschluchtetes Land,
erste Lichter blinzelten herauf,
this is Jericho, sagten die Soldaten,
die neben der Synagoge saßen,
fuck it‘s autonomy, später legten sie Fleisch
auf einen Grill, der ein Bein zu wenig hatte,
sie klemmten eine Uzi unter Blech und lachten
über den heißen Lauf, luden mich ein,
fuck Jericho, fuck sitting here, sie hatten mein Alter,
verwünschten den Wehrdienst, we want to travel,
to travel like you
, wir aßen, wir tranken,
dann rollte ich meinen Schlafsack ins Gras,
Einschusslöcher glänzten anstelle der Sterne.

6. Dezember 2023 10:10










Christian Lorenz Müller

4000 MAUSOLEEN
(Wladimir Wladimirowitsch erzählt seinem
Generalstabschef von einem Traum)

Ich war Postbote in Burjatien, Waleri Wassiljewitsch,
ich steckte in blauer Uniform,
hatte eine Tasche voller Briefe,
auf jedem Umschlag der russische Adler in Gold,
er erhob sich immer dann vom Papier,
wenn ich ein Schriftstück übergeben wollte,
flog Schatten über die Gesichter
der Mütter, Väter, Ehefrauen,
flog Finsternis über die Isbas der Dörfer,
die Chrustschowkas in Ulan-Ude, Waleri Wassiljewitsch,
als ich dort an Lenins Kopf vorbeikam
befand ich mich plötzlich wieder in Moskau,
ich wollte über den Roten Platz zurück in den Kreml,
aber sein weites Pflaster gab es nicht mehr,
es gab 4000 Mausoleen grünlicher Verwesung,
allein 4000 sollen vor Awdjejewka geblieben sein,
stimmt das, Waleri Wassiljewitsch,
4000 Leichen lagen im gläsernen Gestank
meines Traums, und vor jedem Mausoleum standen
die Mütter, Väter, Brüder Schlange,
und Flügelfinsterns fiel auf die Stadt,
denn die Adler kreisten ohne Zahl.

(Den zentralen Platz von Ulan-Ude, der Hauptstadt der russischen
Teilrepublik Burjatien, ziert ein 42 Tonnen schwerer Lenin-Kopf.)

28. November 2023 12:12










Christian Lorenz Müller

DER BORRETSCH BLAUT KEINE ANTWORT

Langgestreckt auf den Hügel gegiebeltes Haus,
sägerau sparrt sich das Dach gen Himmel,
Raumhöhe, wo früher der Heuboden war,
wo blankzinkige Gabeln
die duftende Ernte des Sommers bewachten,
kubikmeterweise Fischluft
anstelle der knarzigen Enge der Gesindekammern,
frisch geputztes Panoramaglas,
wo einst die dumpfe, kleinfenstrige Dämmernis
der Stube sich befand,
wir können nicht zurück, wir haben die Stalltüren,
durch die die Schwalben zuckten,
durch Garagentore ersetzt, brauchen wir denn
eine neue Romantik, ein neues Waldhornirren
am Rand des Penzberger Gewerbegebiets,
ist denn die Entität des Loisachflusses eine juristische Person,
angetan mit einer Dirndlschürze aus Wasser,
das über ein Wehr stürzt,
wir haben die Fragen, der Borretsch
im Nantesbucher Garten blaut keine Antwort,
die tausendsternigen Astern wissen nichts
vom leeren, kalten Firmament,
von notorisch verdächtigen Wörtern
wie Schönheit und Liebe
,
vielleicht genügt es, wenn sich der Rationalismus
für ein Stündchen in die Herbstsonne lehnt
und mit gesunder Gesichtsfarbe,
doch ohne tiefe Indigenenbräune
zurückkehrt an den Verhandlungstisch.

 

Im oberbayerischen Nantesbuch fand Anfang Oktober ein
Symposium zum Thema „Quo vadis Nature Writing?“ statt,
ausgerichtet von der Stiftung Kunst und Natur sowie
dem Literaturhaus München.  

24. Oktober 2023 08:25










Christian Lorenz Müller

EIN SOLASTALGISCHER REIGEN (Auszug)

Die alte Esche der Kindheit
wurzelte tief in der Unendlichkeit der großen Ferien,
ihr gefiederter Schatten
saß auf meiner Schulter, wenn ich selbstvergessen
in meiner Baumschule stand,
in einem fernen Kanada
aus Ahornen, ich hatte auch Eichen,
hatte Buchen, nur Eschen zog ich nie,
sie trieben überall entlang der Gehsteigkante,
zogen sich zäh aus Schotter und Schutt,
wuchsen mir in zwei, drei Jahren
spielend über den Kopf,
steilten stets hinauf zur Sonne,
wo andere Bäume sich breiteten,
aus Esche schnitzte ich mir meine Speere,
aus Esche war der Bogen, mit dem ich
einen Schwarzbären erlegte,
der eigentlich eine Mülltonne war,
ich wusste, dass die Wurzel
eines Eschenschösslings
so lang ist wie sein Stamm,
dass die Esche das Obere im Unteren spiegelt,
dass die Wurzeln Geheimnisse
von der Erde erwerben, die Zweige von der Luft,
ich wurde groß unter Yggdrasil,
all meine Erinnerungen sind vom
Falschen Weißen Stängelbecherchen befallen,
all die elastischen Triebe glücklicher Tage
stehen laublos und starr, die Wurzel
meines Maßbaums ist infiziert, Nekrosen
fressen sich bis ins Kernholz
einer längst vergangenen Zeit.

2. Oktober 2023 17:21










Christian Lorenz Müller

MAUERSEGLER

Schwärzere Sicheln, schneiden sie Mückenähren
unter abendlichem Gewittergewölk.

Wie bäurisch du noch immer denkst,
wo doch allein die Luft
ihre Scholle ist, als Scheune
haben sie nur ihren Magen, und doch
brüten sie jedes Jahr
auf dem gleichen Mauervorsprung,
jedes Jahr nehmen sie die halbe Welt
unter die Flügel,
ziehen tausende von Kilometern
für zwanzig Quadratzentimeter
Gestein, Ziegel, Beton.

Schwärzere Sicheln, schärfen sie sich
mit ihrem Schrei, fahren durch den
Gewitterhimmel, der ihrer Leichtigkeit grollt,
dem ferneren Blau, durch das sie bald schon
schneiden werden.

30. August 2023 09:13