Christian Lorenz Müller

Dass es genügt (Krajina, 1995)

Gelb war ihr Besen, sie wimperte geduldig
Staub von den Pflastersteinen.
Die Rosen in den Rabatten
längs der Einfahrt
verbargen ihre Stacheln
unter gehäufeltem Stroh.

Noch zwei Tage bis Weihnachten
und keine Spur von Schnee.
Auf dem Asphalt vor dem Nachbarhaus
glitzerten zerscherbte Sterne.

In Zagreb hatten wir erfahren,
dass es genügt, in der Küche
die Gasflasche aufzudrehen
und nach ein paar Minuten
durch ein Fenster zu schießen.
Rußkajal umzog den Rahmen
der Terrassentür, im Moment der Explosion
ein weit aufgerissenes Auge.

Wind kam auf, schleierte Asche
aus dem verkohlten Dachstuhl.
Sie staubte vor den gelben Besen
und wir hörten ein Seufzen,
als wir ratlos ein paar Schritte machten,
die zerscherbten Sterne zerknirschend.

22. Dezember 2014 11:17










Christian Lorenz Müller

Bei Debrecen

Zwei Wassertürme steigen auf,
Heißluftballons an Stahlseilen,
an der Schnur eines Kindes,
das im Maisfeld steht.
Die Welt hat kein Gewicht
bis die Schule wieder anfängt,
bis das rosa Kleid in den Dreck fällt
oder der Vater betrunken zuschlägt;
die Welt hat kein Gewicht,
sieh nur, wie der Mais
dem Himmelsblau entgegenwächst.

14. September 2014 12:01










Christian Lorenz Müller

Selbstgespräch mit Gewissenskomission

Nein, keine Waffen, auch nicht für Verzweifelte.
Es wundert uns, dass gerade Sie
an unsere Menschlichkeit appellieren, gerade Sie,
der Sie exakt vor zwanzig Jahren
den Wehrdienst verweigert haben,
unsre Frage fürchtend, was Sie machen würden
wenn ein Vergewaltiger Ihre Schwester, Ihre Freundin …

Aber lassen wir das, keine Waffen!
Wir stellen gerne Zelte, Decken, wir schaffen
Lebensmittel und Medikamente rasch vor Ort.
Kampfhubschrauber, das wissen wir aus Erfahrung,
schießen der Demokratie den Weg nicht frei,
und wer die Menschenrechte hochhält
kann nicht gleichzeitig zum Joystick greifen
und Lenkwaffen von den Tragflächen
einer Drohne lösen.

Wie, das sehen Sie ein und fühlen sich
dennoch zum Handeln verpflichtet?
Wir verstehen Ihre Reaktion, trotz allem,
glauben Sie uns, wir empfinden
im Grunde genauso wie Sie, gerade jetzt,
wo ISIS selbst Alte und Kinder massakriert.

Sie wären damals eher ins Gefängnis gegangen
als eine Waffe in die Hand zu nehmen, nicht wahr?
Wie halten Sie es heute?
Greifen Sie zur Kalaschnikow, zur Handgranate
oder überlassen Sie das doch nicht lieber anderen?

Wollen wir eine Pause machen? Noch Kaffee?
Oder lassen wir es gut sein für heute
und suchen einen weiteren Termin?

11. August 2014 10:58










Christian Lorenz Müller

Was die Stunden wogen

Mittagsstille steht auf einer Leiter
die im Kirschbaum lehnt.
Plötzlich das Verlangen
hinauf ins Geäst zu klettern,
die schorfige Glätte der Rinde
unter den nackten Füßen;
das Verlangen, ganz oben
in einer Gabel zu sitzen
und die Kerne weit hinaus
auf den Wiesenhang zu spucken;
der Wunsch nach einem Eimer
und die wiederkehrende Lust
sich verboten weit
ins Blaue hinauszurecken,
zwei, drei Sekunden für jede Frucht.

Ich wusste, was die Stunden wogen
wenn ich zurückging zum Haus
wo in dämmernder Schattenkühle
die gefüllten Körbe standen.

28. Juli 2014 11:37










Christian Lorenz Müller

Fernsehbilder aus Aleppo (10. Juni 2013)

Ihr ererbter Name, Michail Timofejewitsch,
gilt in tausend Sprachen gleichviel
wie die Wörter Aufstand und Unterdrückung,
er lässt die Augen junger Männer glänzen
und die Augen jener, die in einer Nacht
zu Greisen wurden, vor Schreck sich weiten.
Der radikalisierte Koranschüler in Pakistan
spricht ihn aus und der Kindersoldat im Kongo,
der Bodyguard des syrischen Präsidenten
und der kolumbianische Drogenbaron.

Früher, Michail Timofejewitsch,
war von der Braut des Soldaten die Rede,
heute hat der Rebell oder der Scherge des Diktators
eine Hure in Händen, die es von beiden Seiten
mit sich machen lässt, eine geliebte Hure,
die in Augenblicken namenloser Angst
an die Brust gedrückt wird, nacktes Eisen
an einem nackten Herzen.
Michail Timofejewitsch, erkannten Sie sich irgendwann
als jener Lude, der dem Sensenmann
das Sichelmagazin erfand?

Die Brust mit Orden beklimpert,
schelten Sie die Händler, schelten Sie die Politik
und scheinen dennoch stolz auf Ihr Werk,
stolz auf Ihren Namen, den schon Ihr Vater trug,
ein Bauer, ein einfacher Mann,
den kaum jemand kannte.

24. Juni 2014 19:16










Christian Lorenz Müller

Aus einer adriatischen Muschelkiste

Einer jener seltenen Tage
an denen das An- und Ausziehen
nicht nötig war. Das Salz
spannte auf unserer Haut
und die Wellen haschten beim Anlanden
nach unseren Knöcheln.
Mittags nur schlugen wir uns den Schatten
eines aufgespannten Leintuchs um die Schultern.
Mit unseren T-Shirts tunkten wir
das Spritzwasser vom Boden unserer Kajaks,
Badehosen und Bikinis flappten
als Piratenflaggen im Wind.

Abends zogen Containerschiffe nach Norden,
voll mit Hemden, Krawatten, Hosen vielleicht.

16. Juni 2014 11:35










Christian Lorenz Müller

Wer weiß schon

Der See buchtet sein Braun
in die Wälder, gründelndes Sonnenlicht
in moorigem Geheimnis.
Du hast dir die Hände
mit Henna gefärbt,
Torfflaum rötelt dir die Schultern.
Komm, legen wir uns auf den Rücken,
ruhen wir schwebstoffleicht
im abendlichen Wasser.

Wer weiß schon, ob sich der Sommer
noch einmal so ruhig und tragend
ausstreckt unter uns.

12. Juni 2014 18:40