Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (86)

26. Oktober 2015, ein Montag

Was für eine rabiat miese Woche das war mit dieser knochendicken Erkältung. Aber doch so weit genesen, dass ich am Sonnabend gefahrlos den Hamburger Besuch, Ex M. mit Sohn J., empfangen konnte. Für J. ins Mitmachmuseum in den Prenzlauer Berg, wo in einer Art Fabrikgebäude ein Spielplatz installiert ist, der spielerisch all das Wissenswerte platziert, was urbaner Nachwuchs wissen muss (Straßenverkehr, Müll, Strom …). Man hopst und fährt, es hopsen und fahren Väter, deren Kinder längst müde sind. Heute Mittag gingen wir ins Planetarium, ein hervorragender Platz zum Schlafen. Lustigerweise habe ich für nachher, 17 Uhr, Freund D. einbestellt: vordergründig dazu, eine Duschstange zu montieren, hintergründig dazu, um D. mit M. zu verkuppeln, wobei jeder von beiden eingeweiht ist, allerdings ohne zu wissen, dass es der jeweils andere weiß. Eine womöglich etwas törichte Veranstaltung.

Insbesondere die gerahmten japanischen Fotografien an der Wand des Wohnzimmers sind ausnehmend schön.

26. Oktober 2016 10:47










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (85)

20. Oktober 2015, ein Dienstag

Tage des Umzugs. Es wurde mit der Krankheit tatsächlich immer schlimmer, am schlimmsten war der Sonnabend, der Umzugstag, ich war geradezu zerlöchert von der nasskalten Pestluft in der Sredzkistraße.

Freitag Baumarkt und IKEA, Arbeitsplatten rüber, Regale abschrauben, Reste verstauen. Sonnabend zu zehnt schleppen, laden, schleppen, schwach bei Stimme, aber innerlich froh, weil es keinen Regen und kaum Bruch gab. Zehn Uhr abends Einzugsfeier: ein Bad in der Wanne. Mal was anderes als die rumpelnde Dusche in der Sredzki-Küche. Ein Bad wie damals, als Kind: etwas zu heißes Wasser, kleiner Schmerz mit Prickelreiz. Dann im Liegen sanft den Hintern heben und auf den Moment lauern, wenn die Penisspitze die Oberfläche des Wassers durchstößt.

Sonntag: wie ein 25-Watt-Patient durch die Wohnung geschlurft, um nach Essbarem Ausschau zu halten: Raider (klein), Weingummi (zu wenig) … Schon besser am Montag: D. hilft bei Licht, Regalen und Zimmermannsdingen. Hilft auch heute. Werde wohnlich. Heilfroh, der TBC-Bude entronnen zu sein.

20. Oktober 2016 10:55










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (84)

15. Oktober 2015, ein Donnerstag

Meine Psychosomatik wird ja immer empfindlicher. Kaum steht etwas bevor, geht es mir schlechter denn je. (So lässt sich die Bewältigung des Bevorstehenden sehr viel glaubwürdiger glorifizieren.) Gestern, als ich mich nach Brandenburg aufmachte, um meinen Film auf der Archäomediale vorzustellen, begann schon beim Einsteigen ins Auto ein Ohrenreißen. Ich dachte erst, das sei Duschwasserrest, aber es wurde immer schlimmer. Dazu die Erkältung. Was für Schweißarten da zusammensickern. Gleich doch mal eine Propanolol einwerfen. Das reguliert denn doch enorm. Nur kann ich meine Außenwirkung dann nicht mehr gut einschätzen. Bei der Fragerunde hinterher stellt niemand eine Frage außer dem alten Film-Haudegen D., dessen langes Nuscheln in die spannende Frage nach dem Anlass des Films mündet. „Nein, kein Anlass“, kopfschüttle ich sediert und registriere dann aber doch die Außenwirkung einer so unhöflichen Antwort.

Dieser D.! Einer, der sich wirklich mit allen Hochetagen der Akademie und Politik anlegt und es sich mit ihnen verscherzt. Aber auch einer, der es schafft, für ein Festival ein Grußwort zu schreiben, in dem er nur für seinen eigenen Film wirbt. 76! Und erzählt mir mit seinen 76 Jahren von seinen zehn Tagen im Keller dort bei Brandenburg, in den ersten Mai-Tagen 1945. Ein seltsamer Mann: großes Herz, alte Schule, tollkühn und tolldreist.

Trotzdem miserable Nacht im Hotel. Zwischen halbdrei und vier Uhr wach gelegen und im Fernsehen Dokus über den Allgäu und die asiatischen Hochgebirge gesehen. Die Putzluft verbot, das Fenster zu schließen. Der Verkehr verbot, das Fenster offen zu lassen. Dazu diese Rotzbeutel in den Naseninnenhöhlen, die immer zu jener Seite schwappen, auf der ich liege. Grässlich. Morgens Frühstück. Da ist man ja leider nie allein, sondern sofort mit den Anderen vom Festival zusammen. 10:15 Uhr zuhause.

Auf mp3 gehört: Hubert Fichte. Auch so einer. Schaurige Stimme mit seiner Hamburger Plättung. Aber dann ein Satz wie „Mach doch mal das Licht an, das iss so dämmsig!“ Außerdem ein Vorbild in Sachen Reisebeschreibung, Angstbeschreibung, Magiebeschreibung – manischer, konsequenter, abenteuerlicher, sammelwütiger, als ich es je sein könnte.

Den ganzen Tag gepackt, geschraubt, demontiert. So weit gut vorbereitet für den Umzug. Fast schon beruhigend, dass jetzt, am Abend, die Stimme ziemlich weg ist und auch das Ohr sich zuweilen meldet – nicht alle körperlichen Symptome kündigen von Lampenfieber vor sozialen Auftritten.

Und gleichzeitig natürlich zum Kotzen: Nur weil die Genossenschaft fahrlässig (wenn nicht schlimmer) geschlampt hat, ging der Umzug nicht vor zwei Wochen bei herrlichem Sonnenschein und bester Gesundheit zügig über die Bühne, sondern jetzt, bei Dauerregen, Kälte und Erkältung. Wer besorgt mir einen tüchtigen amerikanischen Anwalt?

15. Oktober 2016 12:36










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (82/83)

7. Oktober 2015, ein Mittwoch

Heute um 15 Uhr Schlüsselübergabe Pistoriusstraße 147. Umzug am Sonnabend, dem 17.

13. Oktober, ein Dienstag

Köstliche Momente vor dem Einschlafen vor dem Fernseher: entspannteste und gespannteste Aufmerksamkeit auf die Vorgänge im Film, inneres Eindicken, Wärme.

Morgen Filmpräsentation von Ein Metjen nahmens Preetzen auf dem Archäologie-Festival. Spannend, ich kenne meinen Film inzwischen selbst nicht mehr. Eine Erkältung bahnt sich an. Die Raumtemperatur beträgt 13°C, nasskaltes Wetter. Es ist keine Kohle mehr da. Die habe ich längst verschenkt, als ich noch dachte, der Umzug fände rechtzeitig statt. Hoffentlich ein Umzug ohne Regen.

11. Oktober 2016 12:00










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (80/81)

3. Oktober 2015, ein Sonnabend

Mein Schadenbegrenzungsleben ist um zwei Schäden ärmer: Gestern simste mir ein mir gänzlich unbekannter Danilo, er habe am Donnerstag meine EC-Karte im U-Bahn-Automaten gefunden. Außerdem unterschrieb ich den Mietververtrag für die Zwischenumsetzwohnung.

Die aikideske Zeremonie für den Jubilar K. unter dem Decknamen Aktion Butterfly: eine kollektive Liebesspende aus Wohlgeruch (wieso eigentlich nicht Myrrhe?), Shiatsu, Violine und Poesie, eine geschmeidige Gewichtsverlagerung zwischen Wohlfühlmeditation und amouröser Beschwörung.

In derselben Nacht, also am Freitag, erhalte ich Kurznachricht von Meg, die Kontakt erwünscht. Verwirrend. Kitty antwortet auf meine SMS nicht, ich wiederum ignoriere das Werben der Frau S. Und nun ist da Meg, die Champions-League-Lady. Und auch noch die plötzlich zurückgemeldete M.: die will mich besuchen mit Nacht-Aufenthalt.

5. Oktober, ein Montag

Träumte, neben mir nähme Opa Platz. Er sieht nicht aus wie Opa, aber es ist klar, dass nur er es sein kann. Nach kürzester Frist geht er schon wieder, und ich rufe aus: „Du willst schon wieder gehen?“ – und schon ist er weg. Beklommen erwacht.

Neue Wendung auf der Party des Jubilars K. am Sonnabend: Nach konsequentem Sektverzehr und Tanz kommt es zu ein wenig kabarettistischen Avancen von Frau S., deren Kussattacke eins und zwei ich ausweiche und abwehre. Zu beidseitiger Abkühlung geht man nach oben vor die Tür, als pubertiere man. Das Leben: eine Demütigung. Frau S. trägt sie nach ersten Tränen mit erfreulich robust restaurierter Würde.

Schreckhafter flashback: der 1. Oktober vor 30 Jahren, 1985 an einem Dienstag. Da ereignete sich der traurige Einzug in die Kaserne in Hamburg-Wentorf. Ein furchtbares Zeitloch, gefüllt mit Drangsal, Verblödung, Derbheit und Ausbildung schlechter Eigenschaften.

10. Oktober 2016 22:51










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (78/79)

25. September 2015, ein Freitag

Gestern Morgen von Ahrenshoop zurück nach Berlin. Ein desolater Urlaub bei allem Bemühen. Das Bemühen machte alles vielleicht noch schlimmer, noch verzweifelter. Die Bösartigkeiten und Feindseligkeiten schmieden sich in die eiserne Kette dieses Jahres.

Gestern noch alle Umzugsvorbereitungen zurückgefahren.

01. Oktober, ein Donnerstag

Mit Hellmuth Karasek starb gestern wieder mal ein virtueller Begleiter des literarischen Lebens. Gestern auch schloss ich Nietzsches Also sprach Zarathustra ab – eine Erleichterung nach diesem irgendwie ja schrecklichen Buch. Endlich wieder Proust.

Da hole ich gestern mein Fahrrad von der Reparaturwerkstatt, und auf der ersten Tour kriegt es einen Platten (genau dasselbe passierte nach der Reparatur im August, und da frage ich mich doch, ob „ostrad“ wirklich so eine empfehlenswerte Werkstatt ist). Das geschah auf der Rückfahrt vom Dojo etwa in Höhe Jannowitzbrücke. Ich schob das Rad unschlüssig eine Weile hin und her, bis ich endlich entschied, es abzuschließen und mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. (Mist: Im Fahrkartenautomaten ließ ich meine EC-Karte stecken.) In der U-Bahn bekam ich eine SMS von I., ich möge ihr den geliehenen Memory-Stick bitte persönlich geben und nicht ins Dojo legen – wo ich ihn allerdings bereits deponiert hatte … also nach Hause, ins Auto, mit dem Auto ins Dojo, Memory Stick einsammeln, mit dem Auto zur Jannowitzbrücke, Fahrrad in den Kofferraum wuchten, mit offener Heckklappe (genau wie im August) durch die Stadt zur Werkstatt, Rad anketten und mit dem Auto nach Hause.

Mein neues Hobby: der Geburtstag des Aikidoka K. Heute Abend steigt zu seinen Ehren unsere dojo-interne Ultrawohlfühl-Zeremonie, und weil ich wenig Besseres zu tun hatte (der Artikel ist längst abgeschickt, aber die FAZ meldet sich nicht), schrieb ich ein Huldigungs-Gedicht. Ich bin ein hoffnungsloser Hineinsteiger, in alles muss ich mich immer hineinsteigern, in jedes Projekt, jede Schrulle, jede Liebe, jede Feindschaft, jeden Berg muss ich mich hineinsteigern und klettere dort, wo andere nicht mehr mitwollen. Apropos: Gestalt angenommen haben Pläne für einen größeren Trekking-Urlaub in Peru: also die Anden. Sehr schöne Touren gibt es da. Mal prüfen, ob ich die Höhen aushalte.

Ansonsten ist gerade der Alpen-Galopp fertig, eine Foto-Film-Montage zur Alpenwanderung mit dem musikalischen ‚Schnellzugs-Galopp‘ der Ersten Fränkischen Bauernkapelle.

Leider macht die Montage nicht so viel Spaß. Die Außentemperatur sinkt. Die 18°C sind nicht gerade Frost, aber kuschelig sind sie auch nicht, wenn man nur am Schreibtisch sitzt und keine Kohlen mehr für den Ofen hat. Elektronische Nachfragen bei der Genossenschaft bezüglich der Wohnung werden nicht beantwortet. Und da ist B., der Irre aus dem 1. Stock, den vorgestern vor der Haustür die Idee überkam, er und ich könnten uns doch eine Wohnung teilen – er selbst sei ja dauernd in Barcelona. Dieser Wahnsinnige! Allein diese Idee in die Welt zu setzen, lässt mir den Angstschweiß auf die Stirn treten. Nicht auszudenken, er fixt die Genossenschaft mit diesem Irrsinn an.

Ich bin gespannt, was passiert, wenn diese dauernde Anspannung durch Umzug und Krankenkassenwechsel abfällt. Wahrscheinlich werde ich sofort krank. Die Familie scheint, so weit ich höre, derzeit nicht bei bester Gesundheit zu sein: Schwester U. soll in der Firma einen Nervenzusammenbruch gehabt haben – also dasselbe wie vor einem Jahr. Ihren lädierten Knien geht es langsam besser. Den Knien der Schwester S. eher nicht. Und Neffe M. hat am After einen ätzenden Abszess, der in zwei Schritten weggeschnitten werden muss. Das Koll-Genom ist eine Selbstzerstörungsanlage.

Mutti erzählte mir am Telefon von der Gettorferin Frau H., die während Muttis aktiver Zeit als Gymnastik-Lehrerin keine besonders freundliche Rolle gespielt habe und kürzlich den Begräbniswald aufsuchte, wo ja auch die Kolls ihr Bäumchen reserviert haben. Dort hat man einen schönen Blick aufs Meer. Ihn genoss auch Frau H., stürzte allerdings dabei von der Steilküste zu Tode.

Draußen vor der Espresso-Bar hörte ich einen Passanten telefonieren: „Ja … Töpfe hab‘ ick … ja, Formalin och, den Leichenüberweisungsschein och … hab ick, alles klar!“

7. Oktober 2016 02:46










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (75/76/77)

19. September 2015, ein Sonnabend

Still Alice hinterließ in mir eine satte Angst vor Krankheiten, die mich rettungslos verblöden lassen. Reizvoll aber doch: als biologische Konsequenz sozialer Schwundstufe.

Die Nachricht der Baugenossenschaft, ich möge bitte nächsten Freitag den Untermietvertrag mitbringen, lässt aufhorchen. Wenn sie wieder Steine in den Weg legen und der Umzug verschoben werden muss, ist die Hölle los. Mal sehen, was der Kungelverein da wieder ausheckt.

21. September, ein Montag

In Ahrenshoop mit Mutti und Vati – schreibt man wohl besser „mit den Eltern“, wenn man 49 ist, obwohl man doch weiß, dass man in deren Gegenwart immer Kind bleibt?

Zwei Verluste, seltsam ähnlich gelagert und erstaunlich zeitgleich, nämlich gerade heute wieder: Zu J.M. brach ich den Kontakt, seit er unsere kostbaren Musik-Funde der Universität zuschrieb, die sie fälschlich für sich reklamierte. Ein Anderer, A.S., verschmäht Kontakt zu mir, seit ich seinen Film nicht präsentierte. Beide Fälle sind ähnlich, der Vorwurf zielt auf Unterschlagung und Verrat. Beide Fälle sind mit Entschuldigungen nicht zu lösen. Bedrückend.

23. September, ein Mittwoch

Immer noch in Ahrenshoop, im kurzen Eltern-Sohn-Urlaub. Man geht spazieren, man geht essen (Hafen-Restaurant), man spielt Karten (Canasta), durch den Daseinsnebel schimmern die Konturen der prekären Lage. Dann nehmen sie Gestalt an, als die Nachricht der Genossenschaft eintrifft: der Termin zur Unterzeichnung des Mietvertrags platze, der Umzugstermin sei zu verschieben, man bitte um Berücksichtigung. Nun wird’s chaotisch, und die seltsam begütigende Heiterkeit, die ich den Eltern vorgaukle, wird fadenscheinig. Wegen Anbieter-Wechsel habe ich derzeit keine funktionierende sim-card, empfange also keine Anrufe, während Anrufer dennoch gebeten werden, ihre Nachrichten auf Band zu sprechen – das ist alles sehr dumm und legt sich als Schatten auf diese kurzen Eltern-Tage.

Telefonate mit der Mieterberatung ergeben, dass erstens die Baugenossenschaft mit mir keinen Mietvertrag schließen will und mich offenbar am langen Arm verhungern lässt und dass zweitens die Mieterberatung ein Mandat für mich nur unter der Bedingung hat, dass ich Teil der Baugenossenschafts-Konstellation bin. Ich stecke in einer miserablen Mangel dieser Spießgesellen. Emails und Telefonate absolviere ich in der Mittagspause (mit dem geliehenen Handy der Mutter!), während die Eltern Mittagschlaf halten, nachdem wir in einem zwanghaft sanierten Zingst auf dem Deich spazierten und bevor wir zu Abendessen und Canasta übergehen.

Doch ich werde gereizt. Gereizt, wenn sie durch lautes Kartenspielen die Pensionsgäste aus dem Saal vertreiben, die dort lesen und entspannen möchten; gereizt, wenn mein Vater bei einer Kellnerin, die eine männliche Stimme hat, die Bestellung mit betont tiefem Bass aufgibt, weil er das humorvoll findet; gereizt, wenn in Gegenwart anderer Menschen Gefrotzel in Zänkisches umschlägt; gereizt, wenn der Vater bei offener Tür äußert, er müsse jetzt pupsen; irgendwie sind sie immer wieder öffentlich peinlich, so dass ich mich frage, wie man mit solchen Eltern jemals gesellschaftsfähig werden soll. Da ich sie und mich nicht vor ihnen schützen kann, bin ich mir dauernd selbst peinlich. Und da lese ich doch tatsächlich die in den Pensionsregalen ausliegende Biografie von Philipp Lahm.

6. Oktober 2016 12:51










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (72/73/74)

5. September 2015, ein Sonnabend

Neues Aikido-Gefühl: so fest eingepackt um die Hüfte, so allseits sichtbar graduiert, so elegant kaschiert. Ich habe das Glück über den Hakama so wenig fassen können, dass ich bis nach halb fünf Uhr morgens nicht habe einschlafen können. Danach träumte ich, ich sei auf einer Party und säße auf einem Stuhl oder Sessel, und eine junge schöne Frau – zwar nicht Kitty, aber wohl ähnlich – setzte sich mir gegenüber auf eine höher gelegene Kante, vielleicht auf ein Fensterbrett, jedenfalls so, dass ihr Fuß zwischen meinen Beinen Platz fand, und, während sie sich unterhielt, ihren Fuß bewegte und eine erquickende Pollution auslöste. Ich erwachte und blickte auf die Uhr. Es war zehn vor fünf, keine fünfzehn Minuten hatte ich geschlafen.

Abends mit Frau S. in Fellinis erster eigener Regiearbeit Der weiße Scheich. Diese Frau S.!

8. September, ein Dienstag

Heute Hausversammlung: Zwecks Demonstration eigener Teamkompatibilität und Projektanpassung habe ich schonend sanft jenen Konflikt zwischen Genossenschafts-Vorstand und mir zur Sprache gebracht. Rundherum pikiertes und duldendes Schweigen der Liebküsschen-Nachbarn. Der Vorstand revanchiert sich mit routinierter Leutseligkeit. Eigentlich ist das Ganze zum Schreien.

Pedal the World gesehen: eine Selbst-Dokumentation über einen Radfahrer, der ein Jahr lang mit dem Rad die Welt erkundet hat. Er hat sie aber nicht „erkundet“. Der Filmemacher ist ein eitler Gockel, der kein anderes Wort als „geil“ oder „scheiße“ für Dinge findet, die ihm gefallen oder nicht. Schade. Ich hatte lange auf diesen Film hingefiebert.

12. September, ein Sonnabend

Der Hauptmieter, der ja mein Vermieter ist, schickt mir immer wieder Mietverträge zur Unterschrift, die lediglich die Mietkosten nach oben regulieren, aber keine Mietdauergarantie einräumen, obwohl wir das telefonisch vereinbart haben. Meine Hinweise darauf ignoriert er. Er ist Jurist und macht sich einen juristischen Sport aus der Sache, indem er mich jetzt unter Druck setzen zu können glaubt, weil ich ohne seinen Vertrag keine Zwischenumsetzwohnung bekomme. Aber er weiß nicht, dass ich bereits eine zugesichert bekommen habe.

Sonnabendglück. Training, Frühstück, Ausstellung früher japanischer Fotografie, schließlich noch chinesisch Essen mit Frau S., die sich ein wenig festkrallt, was mir Sorgen bereitet. Ach, was für ein Unsinn aber auch.

5. Oktober 2016 10:02










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (69/70/71)

2. September 2015, ein Mittwoch

Köstliche, trostreiche Wetteransage des Deutschen Alpenvereins: Über Nacht vom Sommer in den Herbst, die Wetterlage in Tirols Bergen stellt sich um. Eine Kaltfront bringt schlechte Sicht durch mehrschichtige Bewölkung und Nebel in den Gipfelbereichen. Dazu immer wieder Regen bis zum Abend, Schnee fällt im Hochgebirge ab knapp 3000m. An der Alpensüdseite sind die teils kräftigen Regenschauer auch von Gewittern begleitet. Temperatur in 2000m: 7 Grad. Temperatur in 3000m: 2 Grad. Höhenwind: meist schwacher bis mäßiger Wind aus West bis Südwest.

In Berlin: 20 Grad, windloser, sternloser Stadtnachthimmel. Eben saß ich unten vor dem Haus Sredzki 44 neben die Nachbarn H. und B., die wie immer einvernehmlich monologisierten. Sehr lauschig, geradezu ein Henscheid-Abend. Doch das täuscht, denn B. ist bekennend jähzornig und H. jederzeit bereit, zum Zweck der wohnlichen Eigennutzes mir eine Keule in den Kopf zu rammen. Ich spendiere ihnen Lebkuchen, der ist zur Zeit gerade frisch.

3. September, ein Donnerstag

Das erste Training mit Schwarzgurt bei sendatsu T.B. Die Muskulatur steht noch völlig im Bann der Wanderung, ich bin kaum kontakt-kompatibel. Hinterher ins Tire Bouchon mit T.B. und J.K. sowie als Damen K. und Frau S., mit der ich mich für Samstag ins Kino verabrede, ohne zu wissen, in welche Film es denn gehen soll. Nun, nun, was geschieht denn da? Jedenfalls ein barbarisch lustiger Abend, in dem – eine Novität – drei Runden Zwetschgen-Schnaps kreisten und jede Menge lästerlicher Maliziosen ausgetauscht wurden – so ausgelassen waren wir lange nicht. Und so auf unser Profil bedacht.

Schon zuvor die Wohnungsbesichtigung war gut: die Pistoriusstraße 147 sieht hübsch aus, auch wenn sie nach vorn raus etwas laut sein wird. Aber ich werde mich bewerben. Und dann mal sehen.

4. September, ein Freitag

Ein Glückstag. Er beginnt mit einem argen Kopfweh nach dem gestrigen Zwetschgenschnaps. Kaum war an Aufstehen zu denken. Doch dann erledigte sich tatsächlich die zügige Abgabe der Bewerbung auf die Wohnung in der Pistoriusstraße, auf die ich einige Hoffnungen setze, nachdem die Mieterberatung ihre Finger ins Spiel bringt und sich geltend macht gegen die beharrlichen Widerstände und Blockaden der mir abspenstigen Baugenossenschaft … dann ein recht munteres Ausräumen des Kellers und der Verklappung des Zeugs in den Container, wobei sogar nachbarschaftliche Hilfe mit den sosehrgeliebten Nachbarn D. und H. praktiziert wird … dann erfreuliches Allerlei am Computer …

… und schließlich der Augenblick beim ersten Training, als der sensei auf mich zeigt: „Ich habe einen Hakama für dich, brauchst du einen?“ Ein Hakama vom sensei, das ist hübsch, so eine Ehrung sitzt.

4. Oktober 2016 13:10










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (68)

1. September 2015, ein Dienstag

Abbruch.

3. Oktober 2016 18:26