Hendrik Rost

Frei Schnauze

Vergiss bitte nicht, alles ist erfunden,
das Aufwachen, die eigene Familie, Tiere,
das Wetter, wenn es regnet, die Zeit.

Die eigene Sprache – so was von erfunden,
sie ist ein Gespinst und die Sprache anderer
in ihr, sie ist von vorn bis hinten Fiktion.

Die Fähigkeiten sind bis ins Detail erfunden,
das Lernen erster Laute bis zu letzten Worten,
die das ganze Leben Lügen strafen –

sich selbst so lange zu zügeln, bis aus Wut
und Angst und all dem Ausgedachten
Liebe wird, die der Vorstellung entspringt.

Oder vergiss es und erfinde es wieder.
Wenn du eben noch dachtest, jetzt ist es gut,
dann wird es das, was du verachtest.

8. März 2014 20:44











Hendrik Rost

Nach dem Kindergeburtstag

„Dann mach ich etwas ganz Böses. Dann schreib ich ganz böse Gedichte, die sich gar nicht reimen.“ – Pumuckl

Das Gedicht, dieses und jenes, kommt nie aus dem Verstand. Wenn ich nachdenke und etwas verfassen will, dann wird daraus nichts. Sprödes und Ödes. Wenn ich abends aber lese, eigentlich schon zu müde, und dabei auf etwas stoße, das nicht nur ausgedacht, nicht nur empfunden ist, dann fällt mir oft ein Name ein – vielleicht ein Titel oder eine Phrase – und die wirkt dann über Nacht und wächst. Am Morgen brauche ich oft nur noch zu notieren, was daraus geworden ist. Der klare, kalte Verstand hat dabei kein Recht. Die Unterscheidung in „Mag ich – mag ich nicht“ ist gut für Kinder. Wenn sie aber gelernt haben, ihre Angst vor Neuem zu verstehen und vielleicht sogar die Bedrohung und die Einsamkeit dahinter zu genießen, sind sie plötzlich reif, wie viele Erwachsene es nie werden konnten. Das Neue ist das, was bleibt, wenn ich nicht über andere urteilen muss, nicht beeindrucken will.

27. Januar 2014 09:38










Hendrik Rost

Omen

1. Auf dem Gehweg am Johannes-Brahms-Platz steht ein ausgebranntes Fahrzeug einer Sicherheitsfirma im leichten Schneefall.

2. Eine Idee, in die ich immer mehr Aufwand investiere, wird nicht zwangsläufig immer besser – sie gewinnt nur an Masse, wird träger und ist irgendwann nur schwer wieder aufzuhalten.

3. Die Idee selbst war perfekt.

4. „I don’t have the drugs to sort ist out“ – The National

23. Januar 2014 09:15










Hendrik Rost

Nutzlose Erinnerungen an eine nutzlose Kindheit

50 Pfennige versprach die Großmutter auf Besuch, wenn ich es schaffte, eine halbe Stunde Mittagsruhe zu halten. Ich lag auf dem Bett und verfolgte den gelähmten Zeiger des Weckers. 50 Pfennig für ein Leben, das sich seitdem in zwei Teilen misst, der Zeit vor der Zeit, in der es nur Unruhe gab und Bewegung und auch Müdigkeit ohne Maß, und die Zeit, die sich auf Dauer nicht lohnt.

Aus Wut darüber, das Zimmer aufräumen zu müssen, kam mir die Idee, die Fische aus dem Aquarium zu saugen. Erst als der Staubsauger hinten Schaum ausspuckte und stotterte und dann aussetzte, kam mir der Gedanke, dass ich keinen der Fische erwischte, bevor mir eine glaubwürdige Erklärung für den Zustand des Saugers einfiele. Überrascht sah ich in den Augen meines Vaters bei der erwarteten Bestrafung Erleichterung darüber, dass weder mir noch den Fischen etwas passiert war, und eine Art heimlicher Verbrüderung unter Tunichtguten.

Als jüngster einer Reihe von Brüdern war meine einzige Reaktion auf meine Mutter, immerzu „Hunger!“ zu brüllen, wenn ich sie sah. Immer wieder „Hunger!“, um etwas abzubekommen und ihrer Aufmerksamkeit keine Gelegenheit zu geben, sich abzuwenden. Hunger als Oberbegriff aller Bedürfnisse, die ich gar nicht kannte. Hunger noch, als ich mich als Jugendlicher längst auf Astralmaße abgeschmolzen hatte, der nicht gestillt wird. Nicht von euch. So nicht. Vielleicht im zigtausendsten Gedicht.

27. Dezember 2013 09:40










Hendrik Rost

Disorder (Joy Division; für Mirko)

I’ve been waiting for a guide to come and take me by the hand,
Could these sensations make me feel the pleasures of a normal man?
These sensations barely interest me for another day,
I’ve got the spirit, lose the feeling, take the shock away.

It’s getting faster, moving faster now, it’s getting out of hand,
On the tenth floor, down the back stairs, it’s a no man’s land,
Lights are flashing, cars are crashing, getting frequent now,
I’ve got the spirit, lose the feeling, let it out somehow.

What means to you, what means to me, and we will meet again,
I’m watching you, I’m watching her, I’ll take no pity from you friends,
Who is right, who can tell, and who gives a damn right now,
Until the spirit new sensation takes hold, then you know,
Until the spirit new sensation takes hold, then you know,
Until the spirit new sensation takes hold, then you know,
I’ve got the spirit, but lose the feeling,
I’ve got the spirit, but lose the feeling,
Feeling, feeling, feeling, feeling, feeling, feeling, feeling.

PS: Wer kann und mag, lese noch „Nie mehr Nacht“ und erlebe selbst ein großes Buch über einen nicht normalen Mann und seine Geschichte.

24. September 2013 09:46










Hendrik Rost

Essen auf Rädern

Wie ich mit angehaltenem
Atem in diese eine Wohnung stürmte,
den lauen Schmaus in die Küche
stellte, mit Augen verfolgt wurde
von jemandem, der nichts wollte,
außer vielleicht Hilfe und Nähe,
und wie ich beim Ausatmen
„Schönen Tag“ hervorpresste,
nur einmal nicht anders konnte,
als demjenigen wieder in den Sessel
zu helfen und dabei ganz tief
inhalieren musste: Ableben
und Festhalten. Das geht
nie mehr raus.

3. September 2013 16:22










Hendrik Rost

Kettenreaktion

Ich hab vergessen, die Alten
zu fragen, was das Geheimnis ist.
Jetzt sind sie weg
und ich trage es in mir.
Frag mich.

17. Juni 2013 12:38










Hendrik Rost

Aus den Reichen

Evolution I

Meine Tochter ist stolz, dass sie schwimmt. Sie sagt: „Ich kann schon tauchen.“ Ihr kleiner Bruder ist noch stolzer. Er behauptet überzeugend: „Ich kann schon unter Wasser atmen.“

Evolution II

Jede Geschichte hat
einen Anfang,
aber sie beginnt nicht,
dafür haben wir sie schon
zu oft gehört.

31. Mai 2013 12:11










Hendrik Rost

Die Hölle sind und waren nie die anderen. Die Hölle ist man immer selbst.

Immer häufiger sehe ich Menschen, die ihre Augen verdrehen. Ein Telefon klingelt im Zug: Einer verdreht die Augen. Die Verkäuferin versteht die Frage der Kundin nicht: Sie verdreht die Augen. Ich trete versehentlich auf den Radweg: Der Radfahrer verdreht die Augen. Ein Kind wird laut: Augen werden verdreht. Es hat eine seltsame Wirkung, dies Verdrehen. Die Selbstbeherrschung ist perfekt bis auf die Augäpfel, die sich in den Höhlen verwinden. Ungefragt nimmt sich der Verdreher das Recht, sein Missfallen oder seine Überforderung abschätzig mitzuteilen, eigentlich subtil, aber überdeutlich und immer unangemessen. Es ist für die, die das Verdrehen mitansehen müssen, nicht schön, den anderen derart leiden zu sehen. Ist es so schlimm? Ist das alles wirklich so schlimm?

27. Februar 2013 10:18










Hendrik Rost

Assessment

Der Bettler mit der Krücke, den ich täglich auf dem Gänsemarkt stehen sehe und dem ich öfters schon etwas Geld gegeben habe, obwohl er es für Branntwein ausgibt, lief heute aufrecht und beschwingt über den Platz. Entgegen kam ihm eine Frau an zwei Krücken mit einem amputierten Unterschenkel. Er sah aufmerksam zu ihr und betrachtete das fehlende Bein. Womöglich kam ihm der Gedanke, dass, egal, was man auch tut und aufbietet, es gibt immer noch jemanden, der besser ist. Das ist nicht nur eine Tatsache, sondern auch ein Trost, denn ich kann ihm Geld geben, ohne wissen zu müssen, was er dafür leistet oder ist. Vielleicht kommt ja heute sogar niemand zu mir und verlangt zu wissen, ob ich mein Geld wert bin. Ich tu, was ich kann. Aber noch ist alles dran.

20. Februar 2013 15:32