Mirko Bonné
Die Stühle sind angekommen!
In Reihen stehen sie im Licht
des Saals, als könnten sie sich
unauffällig geben und davon-
laufen, sobald jemand vergisst,
die Tür zu schließen. Genauso
wartet das Licht. Es sinkt auf die
Stühle. Wer später darauf sitzt,
weiß das dunkle Holz ebenso gut
(ebenso wenig) wie irgendeiner
sonst. Aber das ist ja zum Glück
auch überhaupt nicht die Frage,
du Stuhlforscher! Ahnen die Stühle,
wer auf ihnen Platz nehmen wird?
Ahnt es irgendeiner? Wer denn? Wo
ist der Weg, der Steg aus Licht quer
durch den Saal der ganzen Ignoranz?
*
10. Januar 2018 21:17
Mirko Bonné
Von den binnen Wochen erbauten Wolken-
kratzern hängt das Grün aus dem Himmel
in die Straßen hinunter. Alte mit einem Eisberg
aus Styropor fahren vorbei, und in den Augen
der Kinder liegt die Tiefe der konfuzianischen
Zeit. Kummer ist eine Art schwerer Zweifel.
Eine Reklame, groß wie eine Schule, bunter als
die Nacht unter Vögeln: Betrink dich im Bezirk
Wulin! Spür den Wind dort! Die schlaflose Stadt
ist das Paradies! Im selbstfahrenden Bus nach
Wulin. Der eingeschlafene Fahrer, dem ich den
Anorak über die schlotternden Beine breite.
Kanalbaumuseum, Schiffbaumuseum, Vögel-
museum, Scherenmuseum, Messermuseum,
Wundenmuseum, Schießpulvermuseum, Katzen-
museum, Tannenbaummuseum, Regenschirm-
museum, Regentropfenmuseum, Tränenmuseum.
Komm nach Wulin! Bleib in Wulin! Für immer!
*
29. Dezember 2017 17:00
Mirko Bonné
Jede Nacht zwischen halb
vier und halb fünf wachte er
auf und trat ans Fenster, und
stets war er da auch draußen
unterwegs auf der Straße,
als Hund vielleicht,
oder
er schwankte als welkende
Stockrose an einem Zaun durch
das Dunkel. Er lag im Bett. Er
schlief und war zugleich
unterwegs unter
Bäumen.
Lange stand
er im Zimmer am Fenster,
war ruhelos und lief so müde
wie unermüdlich, ob in seiner Stadt
oder einer anderen, zugleich
durch das schlaflose
Hereinbranden,
das Herein-
branden und -branden des Lichts
der Sterne. Das Sternenlicht.
Jede Nacht die Sterne.
*
17. Dezember 2017 12:13
Mirko Bonné
Nur erfolglose Vertreter und mittel-
mäßige Autoren bringt man so unter,
zumindest in Berlin. Die Hauptstadt?
Nicht deine. Deine Hauptstadt ist eine
unsichtbare, umso hörbarere dafür. Dort
rauschen die Bäume, braust der Regen,
sind die Tiere freie Bürger, ist verkappter
Selbsthass unbekannt. Im Sargzimmer
der deutschen Hauptstadt weißt du es
wieder, du bist nicht besser als jeder
ausrangierte Güterwaggon, abgestellt
an einem Feldrand an der polnischen
Grenze oder tief in Belgien irgendwo.
Niemandszüge rattern vorüber, und
einer wird kommen, dich anzukoppeln,
wart’s nur ab, zwei, drei Jahre noch, und
Schluss! Du horchst. Von Wand zu Wand
sind es anderthalb Meter. Träum schön.
*
6. Dezember 2017 16:44
Mirko Bonné
wer wüsste mehr von trennen und gelingen
zugleich? die feinen zähne des piranha,
der schlanke griff – und schimmern wie die klinge,
die zwischen sigurd und der keuschen bryn-
hild ruhte, bis die morgensonne
durchs fenster auf das bettuch rieselte.
und plötzlich kehrt der duft der sägespäne
zurück, jener moment im zirkuszelt,
in dem die jungfrau lächelnd in zwei teilen
sich wiederfand, der große zambonini
den hut abnahm, um ihn just dort zu wedeln,
wo beides wahr schien, zwischen rumpf und beinen
im trommelschwellen, im wirbel des lichts
nicht etwas da war, aber auch nicht nichts.
Jan Wagner
Herzlichsten Glückwunsch, Jan, Du großer Zambonini!
*
28. Oktober 2017 12:54
Mirko Bonné
avenidas
avenidas y flores
flores
flores y mujeres
avenidas
avenidas y mujeres
avenidas y flores y mujeres y
un admirador
Eugen Gomringer
boulevards
boulevards u. blumen
blumen
blumen u. frauen
boulevards
boulevards u. frauen
boulevards u. blumen u. frauen u.
ein bewunderer
1953 / 2017
6. September 2017 20:32
Mirko Bonné
Dürer auf Durchreise
stieg in Bamberg immer
in seinem Lieblingskrug
Zum Wilden Mann ab, dann
eilte er sofort, rannte
mit wehenden Locken,
in denen der Wind
knisterte, hinaus an
die Regnitz, seinen Herz-
fluss, um am Ufer zu zeichnen.
Zeichnen die Pferde, die
über die Felder zogen
zwischen Nürnbergs
Waldungen, am Himmel
die Schwärme der Stare,
der Schwalben, der Krähen
und der Tauben. Zeichnen
im grünen Wasser den Fisch,
der dastand, still, zwischen
den lang behaarten Steinen
am Grund der Schilfbänke.
Die Köche zeichnen, jungen
Mägde, die Alten wie Geister
in den Augärten Kleinvenedigs.
Kleine schwarze Rose, gestochen
mit Tinte auf den Handteller, sein
Bamberger Blümla. Zeichnen Julie
und zeichnen Juliens Busch.
Den Hasen. Den Hohlweg.
Tout s’était passé
d’une manière révoltante,
sagte auf der Unteren Brücke
ein Franzose, und Dürer war heftiger
Widerspruch peinlich. Die Zeichen
im Zeichenbuch wuchsen. Wolken-
vielfältig Bambergs Abende.
Am nächsten Mittag der kalte
Regen von Franken, die Weinberge,
Würzburg, wozu immer weiter, weiter,
weiter in die nördlichen Regengebiete.
Das Licht war ein Puls, langsam,
beständig langsamer, beinahe
glaubte man, es hört auf.
*
4. September 2017 17:13
Mirko Bonné
1
Wallenstein in Bamberg träumte von Schweden,
und hier ging Wollschläger und hatte im Kopf
den Fluss, den Fluss. Vom Hexenbrenner,
dem Fuchs von Dornheim, was blieb
von den gierigen Hasspredigern
gegen Küsse, Brüste, Lust und
den Rausch, zum Glück zu leben?
Totengeflatter. Mauern. Wer weiß, wo
der Ausgang ist. Womöglich am Eingang.
Der Erlöser mit den schönen Augenbrauen
wartet im Regen, du im Café Graupner.
2
Wider die Tausendzüngigkeit
der Freien! Den Kot ihrer alles,
jeden hinnehmenden Gelassenheit!
Gegen die Liebe, gegen die Leichtigkeit,
und eingemauert die Zuneigung! Widerstrebt
gleichgesinnt randständigen Elementen. Gegen
das Offene, die sich lebendig schimpfende
Verharmlosung der Moral des einzigen
Gottes! Gegen ihre Liebesssucht,
steht auf gegen die Widerrede-
sucht. Sie lügen! Verratet!
3
Obere Pfarrkirche, Mauer
Unserer Lieben Frau. Die Tauben
kommen zurück. Sie landen und finden
aufgeplustert Platz auf den nackten Armen
des Herrn. Und sie warten. Worauf,
dass alles endlich fliegen lernt,
abhebt und die Weite sucht?
Worauf warten, hm, Messias?
Kinder fliegen vorbei. Sie segeln
in die Gasse, die Eisgrube, stehen rum,
blödeln in der Sonne. Sie lachen und sind jung.
*
23. August 2017 00:09
Mirko Bonné
In diesen Minuten ist die zweite Schlagzeile der bundesdeutschen Presse: „Liu Xiaobo ist tot“, die erste darüber lautet: „Deutschland und Frankreich wollen gemeinsamen Kampfjet entwickeln“.
Bis zu seinem Krebstod ist der chinesische Autor und Dissident Liu Xiaobo seinen Drangsalierern nicht entkommen, selbst eine Behandlung im Ausland wurde ihm verweigert. Liu hat jedoch noch mit seinem Tod ein Zeichen gesetzt: Das chinesische Regime ist ein verächtliches, dem das Leben und die Ansichten des einzelnen Menschen nicht von geringsten Wert sind.
Der goldene Fisch hat vor einigen Jahren auf seine stille, den Fischen angemessene Weise auf Lius Schicksal und das seiner Frau aufmerksam gemacht. Man kann die Beiträge nachlesen.
Good night, and good luck, Liu Xiaobo.
*
13. Juli 2017 16:03
Mirko Bonné
Nach der Lesung
grenzenloser Jubel.
Bamberg. Juni 2017.
*
15. Juni 2017 10:24