Mirko Bonné

Broadway-Melodie von 2008

singing may wash away the blood of the lamb
Grace Paley

1
Es gibt dich nicht, überirdisches Licht
New Yorks, nur Himmelsweite, See und
die steinern überbaute Zunge der Insel.
Der Sturm vorm schwarzen Fenster greint –
es ist spät Herbst geworden in Manhattan.
Die paar Platanen am Broadway färben sich
rot und gelb, und immer noch jaulen beflaggt
mit Sternenbannern Löschzüge, klirren mit der
Totenfahne Ambulanzen durch die abendliche
Menge in den Thermopylen aus Boutiquen.
  Davongetragen letzte Reste Wärme,
    ist der Sommer ausverkauft.

2
Von allem getrennt, das du liebhast,
bleiben Lieder. Sie ziehen sich zurück –
einer singt vom New York State of Mind –
in ihre Sanftmut, ganz als legte sich ein
Lamm mitten auf dem Broadway nieder.
Eine Abendmaschine kreist über Queens.
Starenschwärme teilen sich und fliegen
aufs Meer. Durch seinen Regen irrst du
tiefer in Geschäfte für Bilder, für Sirenen
sinnlos verloren, ratlos mit einem Blick
  telefonierend, täglich intangibler,
    unberührbar dein Gesicht.

3
In den Sinn gebunden eines der Lieder –
ein kleines Kind im Lift nach oben weint –
lauschst du über den Wipfeln im 7. Stock
am Fenster deines regengrauen Turms.
Und du spürst, wie dir durch die Glieder
Blut hinrennt zum müden Herzen eines
Dobermanns, der träumt. Howard Hughes
verkauft Gedichte. Breakdancer tanzen zu
In the Mood. Einer sprüht an eine Wand
in Blumen immer wieder Gottes Namen.
  Mädchen summen jiddische Reime …
    Laub und Regen, Raub und Segen.

*

19. Januar 2017 16:54










Mirko Bonné

Willkommen, Julia

Wie sprechen wir miteinander? Und fernab der ausgewälzten Diskurse: Wie sprechen dein und mein Körper miteinander? Schnittstellen, sind das mehr als Verletzungen?
Wo lassen sich in der Geschichte der Philosophie und der Überlieferung der Poesie Antworten auf derlei Fragen finden?
Julia Trompeters Gedichte stellen sich ohne Scheu, oft mit großem Witz und Humor, immer aber nachdenklich, immer auch dem Alltags-Sprech verbunden und nicht selten melancholisch den Fragen, die die Überlieferung unbeantwortet ließ – aus gutem Grund?

Herzlich willkommen im Goldenen Fisch, liebe Julia!

12. Januar 2017 23:27










Mirko Bonné

Reise der drei Waisen

this was all folly
T. S. Eliot

Waisen nannten sich die Drei, die mich mitnahmen.
„Hereinspaziert bei den Waisen vom Gutenmorgenland!“
Sie führten sich auf wie gerade noch davongekommen.

Die Wege waren aufgeweicht, „soft hands, das Wetter“,
meinte das Mädchen, das der Alte bloß Bunny nannte.

Sein Kollege saß vorn, im Mantel eines Katalanen,
dessen Leichnam jetzt in einer Benzinlache liege,
irgendwo in einer Kranwagenhalle. Der Stoff stank,
besonders nachts, wenn sie die Heizung aufdrehten.

Sie waren Blender, und ihnen gehörte nichts außer
dem Zeug, das sie am Körper trugen, und dem, was
sie grölten und ihnen kurz ihre Langeweile vertrieb.

„An was sich erinnern?“, fragte der Alte mal. „Alles
ist ein Film. Rückwärts läuft nichts.“ Nein, besser,
in einem kaputten Mitsubishi auf Schleichwegen
und hinein in Ortschaften fahren, wo der Trübsinn
an einem fraß wie Ruß am schmelzenden Schnee.

Bunny kreischte was, das aber niemand verstand.
Sie sprang raus und steckte vor einer Videothek
den Papp-Bond in Brand. Von dem Grünstreifen
zwischen zwei Parkbuchten flogen Spatzen auf,
als sie da tanzte, während ich fassungslos zusah.

Der Alte stieß die Fahrertür auf, sprang raus und
trat den brennenden Agenten wortlos zusammen.

Ich fing an zu brüllen wie sie, aber dozierte dabei
noch immer von „Passage zurück in die Geburt“,
schon lachte mich der ganze Klub still. Wir fuhren
durch leergefegte Nester in die Berge hinauf, feucht,
duftend nach Grün, knapp unterhalb der Schneegrenze.

Auf der Suche nach einer Tanke mischten die Drei jaulend
die Käffer auf, die den Katzen gehörten. Wir beschlossen
– oberste Regel: Sonnenbaden ist für Untote tabu! –,
tagsüber zu schlafen, in der Nähe von Wasser, und,
süß singende Stimmen im Ohr, nur nachts zu fahren.

„Ihre Haut ist so blass wie Gottes einzige Taube, Liebe,
wie eine schreiende Blume, Liebe, die stirbt jede Stunde.“

Sie sangen. Doch was sie sagten, hatte keine Bedeutung,
ihr Ziel war vielleicht eine Huldigung, möglich, aber kaum
die des göttlichen Kindes, eher die der Leere in ihnen.
War der Tank voll, „wie der Mond“, dann ging es weiter.

Kurz nach dem Festfressen der Kolben, kurz nachdem wir
den Hafen erreichten und im Schatten, den ein Frachter
durch das Nachmittagslicht auf die Mole warf, hielten,
fiel dem Alten hinterm Lenkrad plötzlich das Haus ein.

Für das Mädchen und Mantelmann war die Reise aus,
als sie Betten witterten. Das Land, endlich in Reichweite.

Ein Klepper leckte den Regen vom Zaun. Ich sah Vögel
auf kahlen Bäumen den Harsch von der Rinde hacken.

Als hätten wir die Wahl, schnitten wir uns Teller zurecht
und hörten wieder zu reden auf. Im Tausch mit den Bauern
gingen Schals weg, eine Posaune, und der Alte holte Lexika,
Tassen und Fotoalben aus dem Kofferraum, während Bunny
im Schneeanzug am Mittag am Campingtisch Pasta kochte.

Sie kam in mein Bett und sagte, sie mache alles, freiwillig,
wenn sie dafür meine Jacke bekäme. Ich gab sie ihr so,
und sie rannte runter, und ich hörte den Anlasser heulen.

Als ich wieder aufwachte, war es still. Das Licht stand
im Klappfenster. Im Garten des Nachbarhofs wuchsen
Blumen, die aussahen, als fotografierten sie das Gras.

Geborenwerden und Sterben sind manchmal dasselbe.
Ich wünschte mich nicht länger zurück. Ich lebte wieder.
Leben war mehr als Warten. Und so vergaß ich das Kind,
vergaß die drei Waisen und zuletzt das Gutenmorgenland.

6. Januar 2017 00:17










Mirko Bonné

Sander Tannen

Zwischen den Plattenbauten von Nettelnburg
umhergaloppieren, und weiter durch den Frost
des frühen Morgens am S-Bahndamm entlang.
Die klirrende Luft. Ich könnte nachsehen, wann
ein Bus zur Schule abfährt, aber zockele lieber
vorbei am Billwerder Billdeich. Dort steht blass,
rot im Dunst, der Giebel eines Vierländer Hofs,
wo vor vierzig Jahren ein Schulfreund wohnte.
Wo bist du, Hakan Akalin! Kahle Äste; Elstern;
grauer Laubschlamm in Grünanlagen. Sander
Tannen — so hieß die Schule meiner Freundin
in der Zeit, als ich mir tags den Kopf zerbrach
über Schreiben, Musik, mich. Tender sun. Adri.
Am Telefon eine mir unbekannte Welt, hoffe ich
Dich zu finden, heißt es bei Sun Kil Moon. Früh
am Abend kachelte ich dann mit der Guilietta
zu Alten in Boberg und Lohbrügge. Eine Blinde
sah immer noch vor sich, wie hell es 1921 war,
und in einer Mansarde lebte eine, die hatte ich
lieb, die konnte nur liegen und rief mich: „Pony!“
Ich rede an der Schule, die längst anders heißt,
mit Schülern, jünger als mein Sohn, über Trakl,
Trakls Schwester, Tabus. Und ich trabe zurück,
durchs Laub, zum Bahnhof. Die Elstern lachen;
und der Nachmittag, so war er immer, ist grau.

Für Mark Kozelek

*

17. Dezember 2016 00:19










Mirko Bonné

Das Kind Kalifornien

An den Wänden die Bilder von dem Kind,
das größer geworden ist als Kalifornien.
Du siehst sein Gesicht wachsen auf
blassen Fotografien und erkennst
das Kind an seinen Ohren, dem Blick,
der Sehnsucht nach dem Ende der Enge.
Das Kind Kalifornien schrieb nie einen Brief.
Es rief keinen an. Es ging fort und blieb
in der Ferne. Von den Wänden dort,
wo du schläfst, manchmal träumst,
blickt es dich an und doch nicht dich.
Rätsel, Zweifel, wildes Wollen, wonach
sucht so ein Kind, und wonach sucht es
nicht? In jeder Regung, jeder Bewegung,
jeder Entgegnung hat das Kind ein Gesicht,
das mahnt: Trau der Festigkeit der Dinge.
Da, die Gelächterschönheit. Glaub mir,
sagt das Kind an der Wand des Hauses,
das dir Asyl gewährt. Im Zweifel Zweifelnder.
Sei selber dein Sehnen. Wenn nötig ein Land.
Wenn nötig ein fernes. Wenn nötig Kalifornien.

*

1. Dezember 2016 12:01










Mirko Bonné

Umzug mit Apollinaire

1
Annie

Im Grau der Westküste des Finistère,
zwischen Brest und Le Trez-Hir, gibt es
einen Palmengarten mit einer alten Rose,
ja dort wächst etwas völlig Ausgeflipptes,
Apollinaires Gehstock, lebendige Rose.

Annie ging in ihrem kleinen Vorortpark
gedankenversunken täglich spazieren,
und folgte ihr einer beim Promenieren,
dann fuhr es ihm durch Bein und Mark.

Was, wenn wir alle nicht wirklich glauben,
blüht dann etwas, ist ein Knopf Verschluss?
Wenn einer wie ich alles neu erleben muss,
würde mir Annie sie zu küssen erlauben?

2
Umzug mit Apollinaire

Den Rosenstock, den die Tochter von Annie
im Morgendunkel in dem Garten bei Brest
ausgrub, fuhren sie und ich mit dem Rest
Möbel ihrer toten Eltern durch Normandie,

Picardie und Wallonie nordwärts. Dinge,
die wir nicht vergessen können, sind die,
welche uns verloren erscheinen lassen, sie
bleiben, sind ungerührt. Sie gräbt, ich singe,

stehe in der Küche ihrer Kindheit, koche Tee
und versuche, mir sie auszumalen in dem Haus,
ein Kind in einem Garten. Bloß weg, Rose, raus,
ins weite Licht! Ferne. Autoroute! Himmel. See.

*

17. November 2016 21:30










Mirko Bonné

Das trabende Gras

Es stimmt, auch ich
war mal im glücklichen Garten.
Nur bin ich mir nicht sicher, wo das war
und ob meine Großeltern mir so ersparten,
Schrecken zu sehen,
vielleicht für ein Jahr.

Es war der Sommer,
als ich auf den Bäumen las.
Ich kletterte in die Wipfel, fühlte mich frei,
und wenn es leuchtete, im trabenden Gras,
mein Lieblingsgesicht,
war mir alles einerlei.

Für Nadja Küchenmeister

*

12. Oktober 2016 22:51










Mirko Bonné

Bojendorf

Das Dreieck Garten,
Bug im knisternden Laub,
ein Erlenschoner vorm Wind.
Halt Kurs, auf die Inselränder!
Dein Schiff, die alte Trübsal,
hat fünfzig Birnenkanonen,
Mauersegler folgen ihr,
Seemöwen melden: Herz!
Land! Schwalben schießen
durch die Scheune aus Bläue,
in der nachts die Fehmarner
die Sonne wegsperren.

Ein blasser Klüver
wächst aus dem Rasen:
die Stockrose. Wer meutert?
Lass die Korsarenerinnerungen.
Wieso will keiner tanzen?
Es gibt Wogen, die
sind tiefer und wilder
als alles zu Beweinende.
Vorm Gartenbug eine Stoppeldünung,
Füchse und einundfünfzig Sommer. Schau,
die Pracht, das Silber, das Schäumen
auf dem himmelgrünen Gras.

Für Hendrik Rost

*

14. September 2016 12:04










Mirko Bonné

Oboe

Schließ den Mund über der Oboe,
die weißen Töne strahlen
die Luftröhre hinunter
auf dein nacktes Herz.
Frühmorgens, am Tisch
die Milchjahre, eingetauscht
gegen die Angst der Hand vorm Papier,
Einen im Rücken, nah, dass er jede
Silbe zwischen den Zeilen errät.
Wortmulm, Eroberungen des Maulwurfs.
Wo denn ein Land finden, wie zwei Schritt weit
folgen einem Gedanken, da zurückmündet
in die Schuhspitzen der Meridian.
Schließ sie über der Oboe,
deine Lippen. Milch
fließt durch die Röhre, und
wir bilden einen Gesangkreis. Ich
tausche die Bissstellen
im Tisch gegen eine
geheime Musik ein, und du
komm, du komm einmal um die Welt.

*

12. August 2016 10:22










Mirko Bonné

Aus den Notizen zu einem Selbstbildnis

Haare aufsammeln, rotbraunes Schimmern,
aus Ordnungswut, einer Liebe und der Angst,
um alles, was von ihr stirbt, zu bewahren
vorm Hygienewahn der Hinfälligkeit.

Romantische Bekümmerung, klar.
Bahndammschotter, Wacholderdrosseln,
unbändiges Gras. Wenn schon, denn schon
Begehren, Aufbegehren, Zweifel ganz und gar.

Zu Tränen gerührt vom Rauschen der Eschen
und ins Knie brechen in Eisenbahnergärten,
ich mit meinen Besserwisserallüren und
innigen Wünschen für jeden Dreck.

Die tot sind, gaukeln, die leben, träumen.
Also bin ich gestorben und lebe, wann ich mag!
Ich verlange zu lieben, fliege durchs Versäumen
in Jahren, Sommern, an einem Nachmittag.

*

28. Juli 2016 21:57