Mirko Bonné

Bilanz nach fünfzig Sommern

Der Pott, der einläuft und nur kurz
den Horizont zum Schaukeln brachte,
er spült das Geröll aus Heraklits Fluss,
toten Plunder ans Ufer: eine Matratze,
auf der Zwei schliefen und am Morgen
sich liebten, um weiterzuschlafen; die
Knochen einer Möwe, so leicht, dass
der Wind sie wegträgt. Putain, sagt
der Wind, putain, vachement! Wir
werden alles wiedersehen, denn
nichts geht je wirklich verloren, ja
könnte überhaupt je verlorengehen.
Und flüchten wir zu Schattenkabinetten,
in die Pulsflaute, zur allerletzten Adresse,
die sie nicht mehr ändern, nur löschen, es
bleibt ein Versuch, dieses Löschen, das
Tilgen und Verschwinden, denn alles
bleibt, auch das Ausradieren; aber
genauso bleibt stets das Bleiben.

*

Schlagzeile der GERALD TRIBUNE vom 29. Mai 2017:

The Most Beautiful Hombre With the Longest Nose on Earth and the Hugest Heart – Today Is His Birthday! Let’s Celebrate the End of Our Agony and Let’s Dance Thru Space Up to Saturn.

*

30. Mai 2017 10:27










Mirko Bonné

Schulz in Catania

Man besah sich mit spitzem Augenwinkel den Dom.
Frauenquote auch ziemlich unermesslich.
Jede Autostrada führte aufs Meer,
und von da nach Rom.
Im Spiegel der Ätna, eine Katze, er.
Man weinte um die Wette mit Möwen. Unvergesslich.

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13. Mai 2017 09:51










Mirko Bonné

Lass die Enttäuschung

Solche Tage nehmen deinem Leben
   Jahre. Mülltonne Tag. Ewigkeiten
Nieselregen, in denen du die dunkle
   Wohnung durchquerst. Du starrst
ins Innenhofgrau, blickst über deine
   Straße hinüber zum Goldbarren der
letzten Bäckerei der Welt, deren Licht
   am Mittag erlischt. Pourtant, lass sie,
diese Enttäuschung, nicht so ein Herz
   in der Brust zu haben, wie sie sagen,
jeder müsste es. Also bist du schlecht?
   Bah, du kennst Eine, die geht täglich
an den schlimmsten Gräben spazieren,
   während du, ja, einkaufst, skrupellos
lachst du hinauf in Krankenhausfenster,
   wo die Alten sitzen und dich ansehen.
Schlapper Rebell! Du müsstest, und so
   müssten wir, aber was? Überall sein.
Lieben, was uns zu lieben ist geblieben.
   Könnte ich eine Wahrheit formulieren,
Getrommel, dass sie durchs Blut pochte,
   vielem gerecht wäre und übrigem etwa
etwas Zuspruch verschaffte. Was soll es,
   am Ende ein Könner zu sein auf einem
winzigen, anderen gar nicht mitteilbaren
   Gebiet? Auch darüber, lass sie, deine
Enttäuschung. Widerstand, ja vielleicht
   muss er unformulierbar sein, Gedicht,
während er in deiner wilden Liebe lebt.

*

26. April 2017 00:03










Mirko Bonné

An einem grauen Stuttgarter Mittag

endlos die Treppen vom Olgaeck
hinauf zur Zimmermannstraße.

Bestimmt war das früher mal ein
Weinberg, und Weinbergpferde

trotteten hier so wie jetzt wir.
Es ist Liebe hatte jemand dünn

an eine Betonwand gesprüht. Da,
ein weißer Engel, der beugte sich

über einen Brunnen ohne Wasser.
Asia-Imbiss und Nagelstudio. Felder

mit wilden Birnbäumen voller Disteln
lagen hier mal. Schiller im Gras. Und

der junge Hölderlin mit blonder Mähne
bis sonstwo. Diese silbernen Sommer.

Aber wohl kaum schöner, wie auch.
Das Gras war dasselbe. Das Grau

oben am Himmel. Die Zärtlichkeit,
die fehlt, bis du sie spürst, bis du

spürst, du lebst, sie war dieselbe,
die Abgestorbenheit ist nur Gerede.

*

26. März 2017 00:50










Mirko Bonné

Nach Tallaght

Four Courts! Museum!
Liffey! Heuston! James’s!
Fatima! Rialto!
Grand Canal! Suir Road!
Goldenbridge!
Drimnagh! Blackhorse!
Bluebell! Kylemore! Red Cow!
Kingswood! Belgard!
Cookstown!
Hospital! Tallaght!

*

23. März 2017 21:42










Mirko Bonné

Ajgi,

ich weiß
dich und die
Schneewehen
überall dort in

Tschuwaschien.
Ajgi, ich weiß, du
bist gestorben, nur
was heißt das denn,

weiß ich dich doch da,
beim Schach im Park,
oder wie du schreibst:
Samoskworetschje.

Du weißt, entgegen-
kommend dir halte ich
ein Leben lang Ausschau
nach allem, ja nach allem.

*

6. März 2017 00:10










Mirko Bonné

Doppelhaushälfte

Die Eltern selbst fanden ihr Totes
im nördlichen Weilerfeld,
keine Rufweite vor den Gehöften.
Man stellte die Füchse im Hohlweg
unweit der alten Sägemühle,
zwei Geschwister,
und erschlug sie sofort.

Die Kindseltern sind in die Großstadt,
in eine Doppelhaushälfte gezogen.
Eine Adresskarte kam.
Zwischen Haus und Carport
der schöne Brennholzstapel,
von dort sprangen sie in den Boden.
Kaum dass sie den Bau noch verließen.
Die Füchse waren eingerichtet.

*

8. Februar 2017 16:47










Mirko Bonné

Sauerstofflösung

Terrasse. Die Nacht, der Tabak und
Sturm seit Tagen, wieso auch nicht.
Warum ist man traurig nach einem
Zahnarztbesuch? Fischreiherbesuch.
Ich rauche, du schläfst. Töchterlein.
Dennoch wahrlich vorbei die Trauer,
die troglodytische Zeit. Schlank bist
worden, du Freund mit dem Schnabel.

*

6. Februar 2017 21:43










Mirko Bonné

Portrait d’une baraque

Nach Ezra Pound

Nur dich im Kopf, dich mein Sargassomeer,
so sandte dir mein Hafen über Jahre Schiffe
und tat sich groß vor dir mit allem Möglichen:
Ideen, Klatsch, dem Ramsch der Neuigkeiten,
von denen ich dir jede als fantastisch unterjubelte.
Ein Blödmann war ich – kein andrer suchte dich.
Du warst von Anfang an das Letzte. Tragisch?
Nein. Denn du wolltest einen so wie mich,
Typ düstrer Spund, blauäugig, abgestumpft,
Hirn Durchschnitt – jährlich zwei Karrieren futsch.
Oh ja, du warst geduldig, jahrelang, Jahrzehnte
standst du, wo was vorübertreiben hätte können.
Da kam ich, wollte was. Und du gabst reichlich.
Du hattest mich interessiert, ich schlich zu dir
und kriegte ja auch wunder was dafür:
vom Wind Gefischtes, sonderbare Winke,
Tatsachendachpappe, ein, zwei Geschichten,
die mieften wie Alraunen, was auch immer
noch nützlich an dir schien, nur es nie war
und nirgends Platz und keinen Nutzen hatte,
zu keiner Stunde im Verhau der Tage, lediglich
ein morscher, bunter, wundersamer Schrott.
Figuren, Schmierfett und Emaillereklamen,
das war dein Schatz, sein Höker du. Und doch,
das ganze Wrack bloß aus dem Laub der Dinge,
aus halb durchweichtem Holz und ollem Talmi:
Im müden Fließen von mal Licht, mal Tiefe,
nein, da war nichts, in diesem Kehricht
nichts, was ganz dein war.
                                 Aber das warst du.

*

30. Januar 2017 12:53










Mirko Bonné

Broadway-Melodie von 2008

singing may wash away the blood of the lamb
Grace Paley

1
Es gibt dich nicht, überirdisches Licht
New Yorks, nur Himmelsweite, See und
die steinern überbaute Zunge der Insel.
Der Sturm vorm schwarzen Fenster greint –
es ist spät Herbst geworden in Manhattan.
Die paar Platanen am Broadway färben sich
rot und gelb, und immer noch jaulen beflaggt
mit Sternenbannern Löschzüge, klirren mit der
Totenfahne Ambulanzen durch die abendliche
Menge in den Thermopylen aus Boutiquen.
  Davongetragen letzte Reste Wärme,
    ist der Sommer ausverkauft.

2
Von allem getrennt, das du liebhast,
bleiben Lieder. Sie ziehen sich zurück –
einer singt vom New York State of Mind –
in ihre Sanftmut, ganz als legte sich ein
Lamm mitten auf dem Broadway nieder.
Eine Abendmaschine kreist über Queens.
Starenschwärme teilen sich und fliegen
aufs Meer. Durch seinen Regen irrst du
tiefer in Geschäfte für Bilder, für Sirenen
sinnlos verloren, ratlos mit einem Blick
  telefonierend, täglich intangibler,
    unberührbar dein Gesicht.

3
In den Sinn gebunden eines der Lieder –
ein kleines Kind im Lift nach oben weint –
lauschst du über den Wipfeln im 7. Stock
am Fenster deines regengrauen Turms.
Und du spürst, wie dir durch die Glieder
Blut hinrennt zum müden Herzen eines
Dobermanns, der träumt. Howard Hughes
verkauft Gedichte. Breakdancer tanzen zu
In the Mood. Einer sprüht an eine Wand
in Blumen immer wieder Gottes Namen.
  Mädchen summen jiddische Reime …
    Laub und Regen, Raub und Segen.

*

19. Januar 2017 16:54