Mirko Bonné

Sander Tannen

Zwischen den Plattenbauten von Nettelnburg
umhergaloppieren, und weiter durch den Frost
des frühen Morgens am S-Bahndamm entlang.
Die klirrende Luft. Ich könnte nachsehen, wann
ein Bus zur Schule abfährt, aber zockele lieber
vorbei am Billwerder Billdeich. Dort steht blass,
rot im Dunst, der Giebel eines Vierländer Hofs,
wo vor vierzig Jahren ein Schulfreund wohnte.
Wo bist du, Hakan Akalin! Kahle Äste; Elstern;
grauer Laubschlamm in Grünanlagen. Sander
Tannen — so hieß die Schule meiner Freundin
in der Zeit, als ich mir tags den Kopf zerbrach
über Schreiben, Musik, mich. Tender sun. Adri.
Am Telefon eine mir unbekannte Welt, hoffe ich
Dich zu finden, heißt es bei Sun Kil Moon. Früh
am Abend kachelte ich dann mit der Guilietta
zu Alten in Boberg und Lohbrügge. Eine Blinde
sah immer noch vor sich, wie hell es 1921 war,
und in einer Mansarde lebte eine, die hatte ich
lieb, die konnte nur liegen und rief mich: „Pony!“
Ich rede an der Schule, die längst anders heißt,
mit Schülern, jünger als mein Sohn, über Trakl,
Trakls Schwester, Tabus. Und ich trabe zurück,
durchs Laub, zum Bahnhof. Die Elstern lachen;
und der Nachmittag, so war er immer, ist grau.

Für Mark Kozelek

*

17. Dezember 2016 00:19










Mirko Bonné

Das Kind Kalifornien

An den Wänden die Bilder von dem Kind,
das größer geworden ist als Kalifornien.
Du siehst sein Gesicht wachsen auf
blassen Fotografien und erkennst
das Kind an seinen Ohren, dem Blick,
der Sehnsucht nach dem Ende der Enge.
Das Kind Kalifornien schrieb nie einen Brief.
Es rief keinen an. Es ging fort und blieb
in der Ferne. Von den Wänden dort,
wo du schläfst, manchmal träumst,
blickt es dich an und doch nicht dich.
Rätsel, Zweifel, wildes Wollen, wonach
sucht so ein Kind, und wonach sucht es
nicht? In jeder Regung, jeder Bewegung,
jeder Entgegnung hat das Kind ein Gesicht,
das mahnt: Trau der Festigkeit der Dinge.
Da, die Gelächterschönheit. Glaub mir,
sagt das Kind an der Wand des Hauses,
das dir Asyl gewährt. Im Zweifel Zweifelnder.
Sei selber dein Sehnen. Wenn nötig ein Land.
Wenn nötig ein fernes. Wenn nötig Kalifornien.

*

1. Dezember 2016 12:01










Mirko Bonné

Umzug mit Apollinaire

1
Annie

Im Grau der Westküste des Finistère,
zwischen Brest und Le Trez-Hir, gibt es
einen Palmengarten mit einer alten Rose,
ja dort wächst etwas völlig Ausgeflipptes,
Apollinaires Gehstock, lebendige Rose.

Annie ging in ihrem kleinen Vorortpark
gedankenversunken täglich spazieren,
und folgte ihr einer beim Promenieren,
dann fuhr es ihm durch Bein und Mark.

Was, wenn wir alle nicht wirklich glauben,
blüht dann etwas, ist ein Knopf Verschluss?
Wenn einer wie ich alles neu erleben muss,
würde mir Annie sie zu küssen erlauben?

2
Umzug mit Apollinaire

Den Rosenstock, den die Tochter von Annie
im Morgendunkel in dem Garten bei Brest
ausgrub, fuhren sie und ich mit dem Rest
Möbel ihrer toten Eltern durch Normandie,

Picardie und Wallonie nordwärts. Dinge,
die wir nicht vergessen können, sind die,
welche uns verloren erscheinen lassen, sie
bleiben, sind ungerührt. Sie gräbt, ich singe,

stehe in der Küche ihrer Kindheit, koche Tee
und versuche, mir sie auszumalen in dem Haus,
ein Kind in einem Garten. Bloß weg, Rose, raus,
ins weite Licht! Ferne. Autoroute! Himmel. See.

*

17. November 2016 21:30










Mirko Bonné

Das trabende Gras

Es stimmt, auch ich
war mal im glücklichen Garten.
Nur bin ich mir nicht sicher, wo das war
und ob meine Großeltern mir so ersparten,
Schrecken zu sehen,
vielleicht für ein Jahr.

Es war der Sommer,
als ich auf den Bäumen las.
Ich kletterte in die Wipfel, fühlte mich frei,
und wenn es leuchtete, im trabenden Gras,
mein Lieblingsgesicht,
war mir alles einerlei.

Für Nadja Küchenmeister

*

12. Oktober 2016 22:51










Mirko Bonné

Bojendorf

Das Dreieck Garten,
Bug im knisternden Laub,
ein Erlenschoner vorm Wind.
Halt Kurs, auf die Inselränder!
Dein Schiff, die alte Trübsal,
hat fünfzig Birnenkanonen,
Mauersegler folgen ihr,
Seemöwen melden: Herz!
Land! Schwalben schießen
durch die Scheune aus Bläue,
in der nachts die Fehmarner
die Sonne wegsperren.

Ein blasser Klüver
wächst aus dem Rasen:
die Stockrose. Wer meutert?
Lass die Korsarenerinnerungen.
Wieso will keiner tanzen?
Es gibt Wogen, die
sind tiefer und wilder
als alles zu Beweinende.
Vorm Gartenbug eine Stoppeldünung,
Füchse und einundfünfzig Sommer. Schau,
die Pracht, das Silber, das Schäumen
auf dem himmelgrünen Gras.

Für Hendrik Rost

*

14. September 2016 12:04










Mirko Bonné

Oboe

Schließ den Mund über der Oboe,
die weißen Töne strahlen
die Luftröhre hinunter
auf dein nacktes Herz.
Frühmorgens, am Tisch
die Milchjahre, eingetauscht
gegen die Angst der Hand vorm Papier,
Einen im Rücken, nah, dass er jede
Silbe zwischen den Zeilen errät.
Wortmulm, Eroberungen des Maulwurfs.
Wo denn ein Land finden, wie zwei Schritt weit
folgen einem Gedanken, da zurückmündet
in die Schuhspitzen der Meridian.
Schließ sie über der Oboe,
deine Lippen. Milch
fließt durch die Röhre, und
wir bilden einen Gesangkreis. Ich
tausche die Bissstellen
im Tisch gegen eine
geheime Musik ein, und du
komm, du komm einmal um die Welt.

*

12. August 2016 10:22










Mirko Bonné

Aus den Notizen zu einem Selbstbildnis

Haare aufsammeln, rotbraunes Schimmern,
aus Ordnungswut, einer Liebe und der Angst,
um alles, was von ihr stirbt, zu bewahren
vorm Hygienewahn der Hinfälligkeit.

Romantische Bekümmerung, klar.
Bahndammschotter, Wacholderdrosseln,
unbändiges Gras. Wenn schon, denn schon
Begehren, Aufbegehren, Zweifel ganz und gar.

Zu Tränen gerührt vom Rauschen der Eschen
und ins Knie brechen in Eisenbahnergärten,
ich mit meinen Besserwisserallüren und
innigen Wünschen für jeden Dreck.

Die tot sind, gaukeln, die leben, träumen.
Also bin ich gestorben und lebe, wann ich mag!
Ich verlange zu lieben, fliege durchs Versäumen
in Jahren, Sommern, an einem Nachmittag.

*

28. Juli 2016 21:57










Mirko Bonné

Einhelligkeit der Dohlen

Fast haben wir es gesehen, das Licht,
ein Licht, wie es den Blitzen vorausgeht,
fast war es ein leuchtendes Stocken, oben
am Himmel, über den es da so zuckte,
mit seinem magnetischen Laub
fast ein elektrisches Geäst.
Als die Stille und die Ruhe dann
fast wiedergekehrt waren, haben wir sie
gehört, nahezu alle, die Vögel, die Dohlen,
fast glaubte ich, es werden Krähen sein,
nur wenn, dann wie zersprengte, denn
fast wirkten sie einzelgängerisch,
wie sie in Pulks, so als wäre
oben in kühler Luft ihr Schwarm
fast zerrieben worden, herabtrudelten
ins Tal mit dem Gasthof zum grünen Baum,
fast als hofften sie bei uns Zuflucht zu finden,
ja als meinten sie uns! Wir blickten einander
wie Liebende in die Augen. Ergreifend war,
fast zu schön, die Innigkeit mit den Dohlen,
Einhelligkeit mit ihrem schwarzen Blitzen,
das zerplatzt war jenseits der Blicke,
fast aber war es Reden mit uns,
das Licht, die Stille, der lange Tag.
Fast war er zu Ende, und es war gut,
zum Schluss beinahe glücklich,
fast ein glücklicher Tag.

*

1. Juli 2016 12:42










Mirko Bonné

Von Norden ins Dorf

Regenprasseln. Das Himmelsgeld!
Kommt wer von Norden ins Dorf,
hört man es: So klingt der Verzicht
auf das Zugrunderichten der Welt.

Kommst du von Norden ins Dorf,
trinken alle kalten Johannisbeertee
und erfinden im Glas Fische aus Licht,
damit es, ohne Bogen, Regenforellen gibt.

Wer noch Fragen hat und Antworten liebt,
öffnet Briefe im Freien, blickt versunken
auf seine Faust: Muster aus Schorf.
Wir liegen im Feld. Und lesen:

Einer ist hier gewesen,
der ist in einem fernen Meer ertrunken,
lebte davor aber lange in dem grünen Haus am See.
Komm mit! Wir laufen nach Norden, und später zurück ins Dorf.

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13. April 2016 09:29










Mirko Bonné

Die Fasane bei Gryphius

Auf den Hecken wildes Schimmern,
Raureif. Und die Sternen gehen unter,
gehen wandern und leuchten auf fernen
Bahnen, den Zeilen am Himmel. Fasane.
Greif hörte ihr Rufen, aber bei Gryphius
verstecken sie sich zwischen Bildern.

*

25. Februar 2016 12:59