Mirko Bonné
Ob, wann, wo und wie
1
Sie schreibt dir früh, sie habe dich
lieb. Du wirst davon wach, erkennst
wieder: Bäckerei, das Licht. Rauchend
stehen Frauen in den Hauseingängen,
reden, lachen, und der Regen friert, es
schneit, es wächst dir dein Gesicht.
Die Nacht siehst du und verschwimmen
die Straße, die Lichter, einen Lösch-
zugeinsatz gegen sechs. Brennendes
Verlangen nach Talk Talk im Morgen-
dröhnen. Nach Zimmerwind. Und dass
der neue Tag mit ihrer Stimme beginnt.
2
In den Fenstern siehst du Lichter
oder Leute, vereinzelt, fremd, die
sich fit halten, da unbeirrt glauben
an Instandhaltung, die Haltbarkeit.
Das Mädchen mit dem Dutt nimmt
die Brüste in die Hände und hüpft;
mit den beiden Huskys streicht der
Maharadscha vorbei. Der Schnee,
verharscht. Zum 55. Mal 21. Februar.
Die Stadt sinkt in die Stille ein, die
Tatenlosigkeit. In Nachtfrost. Warte
auf kein Wunder mehr. Lass sein.
3
Was der Harsch meint: Da liegen
Schneereste auf den Lichtungen.
Was die Hand des Nachbarjungen
in den Schnee schreibt auf deiner
Motorhaube: Thanks Mister Winter.
Was du wissen solltest: Unlenkbar
alles Glück. Es kommt, es geht vorbei.
Bei Flockentreiben bleibt innen die
Stimme, die immer schon zu dir sagt:
Hast du noch Lieder, dann sing sie
wem vor. Horch auf das Ticken im aus-
kühlenden Motor: Sei Ticken und Ohr.
4
Fern: das Dorf im Luberon, das alte
Haus mit den blauesten Fenstern,
mitten im Ort, unter dem Kirchlein,
mit Blick von der Terrasse ins Tal,
mitten im Feigenduften. Manchmal
scheucht der Mistral das Nichtfest-
genagelte die Straße hinunter. Nah:
Kinder, Geister, unermüdlich Spiel.
Im Licht versteckt sich die Eidechse,
der Parkplatzoleander schneit. Näher
als nah: sie und ihr Löwinnenverstehen
aller Zweifel, ob, wann, wo und wie.
*
18. Juni 2022 00:18Mirko Bonné
Kein Lied
Wohin unterwegs du warst
– unbekannt. Ich kenne
deinen Tagesbefehl
nicht, nur den Tag,
kein Lied, das
du gesungen hast,
vielleicht sogar gegrölt
aus vollem Hals und vor
lauter Heldenshit. Ich weiß
von keinem Schimmer Licht,
in dem du lagst. Froh? War da
ein Duft? Stiller Augenblick. So.
Licht. Ferne Geräusche, fremd.
Hat dich wer liebgehabt? Wer
war das? Eh die Geschosse
kamen, und immer näher,
bevor es die Granate
zerriss, die Stille
zersplitterte
und du
mit.
*
28. April 2022 12:45Mirko Bonné
Bresche
Kunst tauge nicht zu Propagandazwecken, sondern gehöre zur „Gegenwehr der Menschen gegen den Krieg. Deshalb kann auch die Behinderung von Kunst oder Künstlern kein Akt gegen den Krieg sein“, schrieb Alexander Kluge am 13. April in der Süddeutschen. „Kunst ist kein Richter. Kunst trainiert Wahrnehmung. Die Kriegssituation ist eine Welt der Algorithmen. Die Kunst ist der Anwalt der Gegenalgorithmen.“ Es sind dies die vielleicht einzigen Sätze, die ich während der völkerrechtswidrigen und durch nichts zu rechtfertigenden russischen Invasion in der Ukraine gelesen habe, die mich trösten können. Sie könnten, würden wir ihn hören können – denn er ist nicht gestorben –, ebenso von Oscar Wilde stammen – der den Krieg einer ganzen von Dünkel und Vorurteilen gelenkten Gesellschaft gegen einen Einzelnen am eigenen Leib erfahren musste. Wladimir Putins Europa aufoktroyierter Krieg ist ein Angriff auch auf die Werte, für deren Einsetzung und Erhaltung unzählige Künstlerinnen und Künstler seit Jahrhunderten gestritten haben. Man lese nur George Orwells Visionen „1984“ und „Animal Farm“, lese sie, anstatt sie abzutun als allzu bekannt und Schullektüre. Theater, Dichtung, Tanz, Fotografie, Ballett, Video und Malerei und Zeichnung und Plastik – und Musik! – und Übersetzung – reichen tiefer und drücken tastend oder schreiend, laut oder leise, mehr aus, als dass sie instrumentalisiert oder funktionalisiert werden könnten selbst in Zeiten extremster menschlicher Auseinandersetzungen. Was uns dazu führt, andere zu überfallen, abzuschlachten, zu vergewaltigen und auf offener Straße hinzurichten, den Zusammenbruch des Minimums an menschlichem Miteinander, alles, jede Freude und jedes Gräuel, jeder echte Austausch und jede Untat, wird stets – seit Jahrhunderten und -tausenden – thematisiert in den Künsten, die frei sind, sich freigerungen haben von Staat und Kirche, jedweder Inquisition, gerade deshalb. Kunst hat keine Funktion, nicht mal eine Aufgabe, so wenig, wie ein Kind sie hat. Sie ist Ausdruck von Lebendigkeit und damit Unterschiedlichkeit, wie jedes Kind. Nein, ich bin kein politischer Mensch. Ich misstraue jedem, jedem Axiom, das nicht, wie Keats sagt, am Puls überprüft wurde. Der Zweifel an aller politischen Äußerung ist mein Terrain. Und so wäre es auch unter einer Tyrannei wie jener Putins. Doch ich glaube fest, ja unverbrüchlich an einige wenige menschliche Werte, und es ist kein Zufall, dass ich sie in nur zwei dichterischen Texten der letzten achtzig Jahre ausgedrückt finde, Gedichte, die sich jeder Vereinnahmung zu entziehen vermochten: Ezra Pound wurde in einem Käfig gefangengehalten, weil er sich für Mussolini einsetzte, und schrieb dennoch den Abschluss des Canto LXXXI: „What thou lovest well remains, / the rest is dross.“ W. H. Auden drückte seine Bestürzung über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in seinem Gedicht „September 1, 1939“ aus und fand darin zu einem Vers von nahezu galaktischer Bedeutsamkeit: „We must love one another or die.“ Man lese es nach, es steht ja alles im Netz.
*
22. April 2022 21:57Mirko Bonné
Fragment eines Kriegstagebuchs
Dieselben Sternbilder am Nachthimmel
wie letzten Winter. Ich bin entsetzt
beim Anblick des Bahnsteigs
voll Tausender, die auf die Gleise,
dann auf der anderen Seite herumströmen
um den viel zu kurzen Zug. Das Foto lässt sich
großzoomen, und da erscheinen vor allem Frauen,
Kinder, Alte, wie auf allen Kriegsdarstellungen,
die ich kenne. Frau mit roter Kapuze,
Kind auf dem Arm. Was hast du,
frage ich mich, von Kriegen
wirklich miterlebt. Jedenfalls Angst.
Drohungen. Bedrohungen. Die Zeit wie
angehalten in diesen Tagen. Was soll da erst
die Frau mit roter Mütze sagen. Freiheit wird siegen.
Du musst dich begnügen. Auf der A5 öfter schweres Militär,
Armeetransporter, und einmal die blaugelbe Fahne
im Seitenfenster eines vorbeiziehenden Horch.
Und die Gespräche Schein. Und die Attacken
unsichtbar. Einen Nachmittag lang hinaufgewandert in
das felsige Bergland, auf dem Schotterpfad weiße Splitter,
vorbei an den Grotten, an Olivengärten, schon gehen
die Augen wieder auf, schon möchte ich überall
am Körper Augen haben. In der Luft zu hören
die Dohlen, seltsam aufgeweckte Raben,
auf dem Smartphone der Einschlag
einer Rakete in Cherson und der Staub
im rasselnden Laub. Ich bin aufgewacht
nach wochenlangem Albtraum im eigenen
Leben, andere schwer vorstellbar, zu schwach
für großstädtische Barmherzigkeit, es tut mir leid.
Wir fahren durch die Nacht. Heim von der Crêperie
in Forcalquier. Die Kids auf den Rücksitzen zählen sie:
die Toten durch die Pest, die Toten durch Corona, die Toten
im Krieg in der Ukraine. Welche Sprache spricht man da?
Die Sternbilder wie immer. Das große W – Kassiopeia.
Orion. Der kleine Bär. Vorm Nachthimmel steht
die Roche amère. Polen bittet die USA,
eigene MIG-21-Düsenjägerbestände
an die Ukraine zu überstellen. Und du
fühlst dich wie? Am vierzehnten Tag nach
dem russischen Angriff auf die Ukraine erklärt
der russische Außenminister Lawrow, Russland
habe die Ukraine gar nicht angegriffen. Was
kann wirklich sein in einer Wirklichkeit,
wo die Lüge sich ins Recht setzt.
Ein Kinderkrankenhaus beschossen.
Mariupol. Wöchnerinnen im Raketenfeuer.
Fünftausend russische Soldaten gefallen, gefallen,
gefallen, gefallen, gefallen, gefallen in nur zwei
Wochen. Ihre schneebedeckten Panzer mit
grillofenähnlichen Gerüsten auf dem Turm,
langsam dahinschepperndes Gerät, abgeladen
irgendwo in Belarus und über die Grenze gerollt, um
die erste nächtliche Kanonade abzufeuern, hinein
ins Vorland von Lwiw. Ich denke an Claude
Simons Schilderungen des Krieges als
das menschliche Nichts, Schlamm,
Matsch, Unrat, Plunder, Müll,
in Fetzen geschossen, das Vieh
halb eingesunken in den Sumpf aus
Stumpfsinn, Angst, Abfall. Simon beschreibt
in „Die Schlacht bei Pharsalos“ die Fassungslosigkeit
der Söldner, erfahren im Kampf Mann gegen Mann,
angesichts der Enge, kaum Raum und kaum Zeit,
auf dem durchstrukturierten Schlachtfeld. Ich
suche auf Google Maps Grodek, scrolle
durch Fotos meines Freundes Farhad
aus Czernowitz vom letzten Sommer, ich
lese, wo Berdytschiw liegt, der Geburtsort
Józef Konrad Korzeniowskis, womit ich Joseph
Conrad meine. Ich war noch nicht in der Ukraine.
Es ist der 11. März. Nächste Nacht erwartet
Odessa die Einkesselung, und ich denke
an meinen Freund Jürgen, der im Mai
mit dem Rad an Kiew vorbei bis
ans Schwarze Meer wollte,
einen Blick werfen auf die Krim,
und denke an meinen Freund Steffen,
den Kosmonauten aus Leipzig, Gagarin2.
Woran erinnere ich mich von seinen Bildern
aus dem Niemandsland um Tschernobyl:
das Grün. Auf der anderen Seite ist
das Gras immer grüner. Tam
choroscho, gde nas njet. „Keiner
hört mich. Ich lalle und meine Hände
sind immerfort in Bewegung, denn
die Liebe ist unsterblich und lebt
weiter in Träumen und Gesichten“,
schreibt Emma Lew in dem Gedicht
„Tschernobyl: Smalltalk“. Krieg heißt
für die, die ihn erleben müssen, die
Unwirklichkeit zeigt ihr zerrissenes
Gesicht. Sie will das Wirkliche sein
und frisst es doch auf. Der Erzähler
Sergei Gerasimow schildert den Luft-
angriff auf Charkiw und beschreibt die
Geräusche erster Raketen und erster
Einschläge, ein nie zuvor gehörtes
Sirren und Gejaul, vermengt mit
ungeheuerlicher Stille, mit der
der Erwartung, mit dem Schweigen
zwischen Einsetzen der Furcht und
Eintreten des Befürchteten. Der Krieg
ist der Riss im Blick, in sieben Sinnen
quer durch dich, aber was weiß davon
ich. „es gibt viele häuser die stehen aber
es gibt keine mitte es gibt viele wege die
führen doch sie führen zu keiner mitte“,
dichtet Tadeusz Różewicz in derselben
Welt. CNN Grodek. Gekappt. Ende
vom Glauben ans Glück, alle elende
Utopie. Heute stand ich auf einer 2025
Jahre alten Brücke und fühlte mich wie?
*
28. März 2022 12:43Mirko Bonné
Die Kanonen von Sewastopol
Christian Saalberg
aus: DIE KANONEN VON SEWASTOPOL (I – X)
II
Angesichts dieser Verlockungen kann ich euch nur empfehlen,
Hut und Mantel zu nehmen, den Kragen hochzuschlagen
und rechtzeitig von dieser Erde zu verschwinden, die sich
schon auf dem Rost ihrer Vulkane vor Schmerzen krümmt.
Schießscharten erwachen mit fröhlichem Gezwitscher.
Überall wandernde Türme auf der Suche nach einem
Unterschlupf, selbst in Turin, einer Stadt hinter Glas,
Die dem Himmel näher ist, seit ihre Uhren ausgelaufen sind.
Ich würde gern wissen, welches Panorama die Pyrenäen
auf der Promenade von Pau bieten, falls sie der
Wind nicht längst fortgeblasen hat.
Und wo ist das anmutige Toben der Blumen geblieben,
das Rauschen der Wellen an einem Strand mit
leichtem Geröll?
Wo früher die Heide ein- und ausging, kreuzen sich
jetzt die Wagenspuren vieler Völker, die umherirren,
bis sie spurlos verschwunden sind.
*
Aus: Christian Saalberg, Offenes Gewässer, zu Klampen Verlag, Springe 2005
und: Christian Saalberg, In der dritten Minute der Morgenröte, Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von Mirko Bonné und Viola Rusche, Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2019
*
3. März 2022 20:24Mirko Bonné
Die Kanonen von Sewastopol
Christian Saalberg
Aus: DIE KANONEN VON SEWASTOPOL (I – X)
I
Es ist wieder so weit.
Die Augen der Kanonen von Sewastopol schauen
uns an und der Tod hüpft von Ast zu Ast.
Auf den Wegen unruhige Steine, schmelzende Sonnen und
eine Zitadelle, die die weiße Fahne hißt.
Selbst die Karyatiden knicken zusammen, obwohl sie
nichts mehr zu tragen haben, nur die leichte Last
Der Wolken und die Erinnerung an das Licht, sein
zärtliches Fingerspiel.
Am Abend öffnet sich eine Muschel und zeigt ihre
Perlennacht, die mit einem Seufzer die
Beseelten Ruinen verlässt.
Unterirdische Zwiegespräche und ein großer Durst
nach Farben, bis ein langandauernder Regen die
Leere füllt, das große Loch zwischen den zwei Welten.
*
Aus: Christian Saalberg, Offenes Gewässer, zu Klampen Verlag, Springe 2005
und: Christian Saalberg, In der dritten Minute der Morgenröte, Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von Mirko Bonné und Viola Rusche, Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2019
*
27. Februar 2022 13:00Mirko Bonné
Kondopoga
Anfang Oktober Winterbeginn,
Birkenmoore. Birkenmoore
im Dunst der Zellulosefabrik,
Girlies auf Glitzerpumps
stöckeln über Schlaglöcher
zu einer Rostlaube im Garten.
Da lehnen Männer an dem Wolga
und kippen einem Schäferhund
vor der Baracke Wodka ins Maul.
Alle zehntausend Seen sind grau.
Groß wie ein Meer ist der Onega
und Murmansk einen Tag entfernt.
Bei der Holzkirche am Wasserfall
tosten zu Parteizeiten Baumstämme
wie Breschnews Panzer die Suna flussab,
wo jetzt der Ministerialbau steht,
wuchsen Hagebutten und Heckenrosen,
so war es. Aber jetzt ist es anders.
Eine Elchkuh ertrinkt, dazu fiepen
elektronische Autotürverriegelungen,
und vorbei wankt blau ein Trolleybus.
*
22. Februar 2022 21:20Mirko Bonné
Zerlegung des Zerberus
Entsorgen wollen sie mich, meine Lieben,
wie ihre Mutter unseren Hund – nein, das
weiß nur noch ich. Ein gelber Collie-Mix,
der so treu war, dass er mir des Öfteren
zu weinen schien. Jetzt verstehe ich ihn.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.
Natürlich, seinen Vater soll man zerstören.
Meiner, der schlug einmal meinem Hund
fluchend mit der flachen Hand aufs Maul,
weswegen ich nie wieder ein Wort mit ihm
sprach. Er ist tot, und ich gebe nicht nach.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.
Innigkeit fällt uns nicht zu, sie hat triftige
Gründe, aber einen Anspruch auf Liebe
niemand. Doch ist jeder ihrer wert, jeder
Hund, der treu war, nicht bissig, nur nicht
beliebt. Gut, wenn es ihn nicht mehr gibt.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.
*
27. Januar 2022 21:36Mirko Bonné
Tegernsee. Reprise
Die einzige Hostie deines Lebens schmolz
auf deiner Zunge in dieser Bauernkirche.
Deine Jüngste bestaunt die Einritzungen
im Geländer der Empore: Gleichaltrige
schickten ihr Nachrichten, vom Juli 1759.
Tölz, Isarhochwasser, und das Spaßbad,
du hast da schwimmen gelernt, abgerissen.
Regenfälle, als versuchten die Berghänge
flüssig zu werden. Es schwemmt sie weg,
deine Wurzeln, und: Du hast eh nichts mehr
zu suchen hier, du Spross einer Gegend.
Hirschwirtkind. Du Umbruchsohn. Du Leser
leerer Schatten, von singbarem Schwund.
Und jedes Und ein Grund zur Versöhnung.
*
19. Januar 2022 18:03