Christian Lorenz Müller
Vier Jahre lang
war ein Leben immerhin
eine Handgranate wert,
eine Fassbombe oder zumindest
ein paar Kugeln, nun kostet es
nicht mehr als den Griff
nach einem Brocken Beton,
nach einer Baustahlstange.
Ein preisgegebenes Versteck
verringert die Summe der Schläge
mit dem Elektrokabel.
Drei verheimlichte Namen
haben den Gegenwert
von drei ausgerissenen Fingernägeln.
Wer nach Gerechtigkeit verlangt
bezahlt mit seiner Zunge.
Dann ist Schweigen, ist Stille
auf dem Basar.
15. Dezember 2016 12:05
Gerald Koll
14. Dezember 2015, ein Montag
Die Sache mit der Krankenversicherung sieht nicht gut aus. Es zeichnet sich ab, dass ein Fluch über meiner 1996 getroffenen Entscheidung liegt, mich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen. Das rächt sich jahraus, jahrein, es wird sich ewig rächen. Entsprechend übel war mein Schlaf und waren die Träume. J., der wildeste Aikidoka unseres Dojos, tauchte darin auf als unbarmherziger Verfolger, vor dem wir – oder nur ich? – flüchteten, einen Turm hinauf, voller Angst, er würde uns – mich? – finden und molchen. Weitere Träume mit Verfolgern: Tiere, seltsam gefräßige Biber, die zuschnappten.
Mit Zaudern trat ich heute morgen ins Café, ahnend, jener Dame mit blauem Turban zu begegnen, deren Kontaktlust mein Lektürebedürfnis vereiteln würde. Sie war tatsächlich da, ich fügte mich und duze sie seit heute. 1980 zog sie von Hamburg nach Berlin und bewohnt seit 16 Jahren in Weissensee ein Künstler-Atelier, das der Senat bezuschusst. Sie arbeitet bevorzugt mit Fahrradschläuchen und gebrauchter Seife. Die Fahrradschläuche werden mittels Kabelbindern zu Figuren geformt und bilden an den Wänden dreidimensionale Zeichnungen.
14. Dezember 2016 17:43
Christian Lorenz Müller
Am Ende bleibt jedes Gedicht
für sich allein.
Vor dieser Erkenntnis
steht seine Sehnsucht
nach einer Seitenzahl,
die Sehnsucht nach einer Bindung
an achtzig, neunzig Andere.
Die Sehnsucht, einmal Augen
auf sich zu spüren, einen Blick
der nicht nur kurz verweilt.
Nicht wenige Gedichte
senken dann die Lider,
verziehen das Gesicht
oder schauen böse drein,
und doch verzehren sie sich
nach diesem Blick, verzehren sich
und ahnen schon den Spott voraus
und die Häme, oder, schlimmer noch,
das Schulterzucken oder laues Lob
oder hündische Loyalität
und peinliche Bewunderung.
Ja, ein Gedicht bleibt am Ende
immer für sich allein.
Es vereinsamt zwischen den Seiten
oder es dehydriert
in einem elektronischen Archiv
zu ein paar Kilobytes.
So wie dieses hier.
13. Dezember 2016 11:51
Gerald Koll
13. Dezember 2015, ein Sonntag
Frau S. hatte Geburtstag. Liquidrom, Japanischessen, Sopranosgucken, Aikido, Lachen. Und Staunen über meine neuen Augen, die aus dem Winkel misstrauisch auf die alten Augen in der Schatulle in der Schublade des Schranks im alten Speicher blicken, in die alten zum Sprung bereiten Augen, die auf Höhe mit den Augen der Anderen sind, die sich die Augen reiben.
13. Dezember 2016 11:19
Tobias Schoofs
langsam gehen die lichter aus
und die markthallen verkleinern sich
oder werden sie größer? zwischen
fetzen von geschmack und sport
artikeln zwischen desinteressierten
verkäuferinnen und müder logistik
zwischen rückenschmerz und waren
wirtschaft weckt eine werbung für
mundwasser vielleicht oder tabak
noch einmal eine hoffnung damit
die unerfüllbarkeit auch morgen als
überraschung in dein leben tritt
12. Dezember 2016 00:13
Markus Stegmann
Absence steht im Gesicht der Wörter.
10. Dezember 2016 11:28
Hendrik Rost
Ein Ort, den es schon gar nicht mehr gibt und den ich nie vergessen kann, ist der Arbeitshühnerstall von Rutger Kopland. Hier in diesem Verschlag in seinem Garten, einem langen und schmalen halb verwilderten Stück der Niederlande, saß er in einem vollständig durchgesessenen Ledersessel. Es gab einen öligen Schreibtisch, Bücher an den Wänden und Zeitschriften, die nach einem komplexen Chaosprinzip aufgeschlagen auf jeder freien Fläche lagen. Drei große Fenster zeigten nach Westen, Norden und Osten. Ein uralter Holzofen bollerte halb übellaunig, halb gutmütig. Kopland sprach immer mit Bedenkzeit – er hörte schlecht, aber er wusste auch, dass es wichtig ist, sich jede Antwort kurz durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn er von anderen Autoren sprach, dann aus Bewunderung. Wenn nicht Bewunderung, dann Respekt – vor den Hühnern, die früher hier gegackert haben, dem Bahndamm hinterm Haus, auf dem die Menschen dahinreisen, dem Abdruck eines zwiespältigen Gedichts in Ausgabe XX der Literaturzeitschrift von 1987. Für den professionellen Traumforscher ist es selbstverständlich ein Stilprinzip, die calvinistische Vernunft und die nächtlichen, mitunter bedrohlichen Gespinste, eigene und die anderer, wertzuschätzen. Dieses lebenslange Lesen und Schreiben so vor sich hin ist sicher eine Remedium gegen den allgemeinen Hang zur Ablehnung. Ich hatte die ganze Zeit das seltsame Gefühl, eine lange und tiefgreifende Kränkung zu erleben, die mit dem Leben zusammenhängt und seinen Anforderungen, Fehlschlägen und literarischen Hackordnungen. Und diese Kränkung war allmählich zu einem Teil des Erfolgs geworden, zu zahllosen eigenen Büchern und zu einer Grundhaltung, die aus einem alten, sterbenden Dichter einen bewundernswerten Schelm macht.
9. Dezember 2016 14:25
Gerald Koll
7. Dezember 2015, ein Montag
Am Sonnabend nachmittag kam Frau S. aus Frankreich zurück. Abend und Nacht verliefen traulichinniglieblich, doch wie wühlt alles in meinem Kopf, wenn ich das Fotoalbum öffne – wie eine Flasche, aus der die Dschinnis der Vergangenheit strömen.
7. Dezember 2016 12:34
Hendrik Rost
Deine Freunde schreiben dir Wolken
aus den Ländern, in denen sie vielleicht
wohnen. Dem Regenland und dem Land
der Physik. Sie schicken in Tropfenform
kleine Gemeinsamkeiten: das Wasser,
das den Weg allen Wassers geht.
Sie schreiben dir, das Ende endet nie.
Es beginnt an einem beliebigen Punkt
in den Luftbriefen oder den Kapillaren
der Bäume. Du kannst uns ja lesen,
schreiben sie in Kumuli. Lies bitte,
was wir über die Wiese hinterm Haus
wissen. Lies auch den Angstwald
zwischen den Schulterblättern. Schreib
zurück von deiner Suche mit dem Gesicht.
Deinen zweifelnden, wissenden Augen,
denen wir trauen. Hier, das Liebeswürdige.
Deine Freunde schreiben dir Leben,
schreiben, weil es dich gibt. Ameisenähnlich
prickelt’s dich im Fuß – dein Herz,
es erhebe sich. Sie schicken dir Zuversicht
ohne Grund, diese Freunde. Diese Luft,
in ihr findest du Wetter, Briefe und Physik.
Du kannst ja lesen. Du kannst ja, wissen Wolken.
6. Dezember 2016 13:29
Gerald Koll
4. Dezember 2015, ein Freitag
Interview mit einer Drehbuchautorin eines offenbar satt budgetierten Spielfilms über Franz Osten und seinen 1925 gedrehten Die Leuchte Asiens. Mein eigener Dokumentarfilm darüber liegt knapp 15 Jahre zurück. Wissens-Rausverkauf. Zuvor ein galliges Erwachen mit jenem chronisch fiesen Nebenhöhlen-Druck, der mir das Liegen verleidet. Laut HNO-Arzt eine Nasenscheidewandkrümmung, laut HNO-Arzt operabel, leider, denn zu so einer Operation habe ich keine Lust; lieber wäre mir der Bescheid, dagegen sei die Medizin leider machtlos.
Dazu eine mitrauschende Unruhe, die ich auf das Digitalisieren von Familienfotos zurückführe. Sie lösen mehr aus, als von bewusster Erinnerung registriert werden könnte. Diese Bilder verströmen kleinste Erinnerungspartikel an Pullover, an Momentgefühle, an Gummispielzeuggeruch, an Angst vor Schmalzbrot, an Strumpfhosenkratzen, an damals nicht nennbare und denkbare Zwänge, an lauter Sekrete, die das Gift des Lebens bilden. Gerade höre ich die Sinfonie von Edgar Elgar. Furchtbar. Plötzlich steht die eigene Sterbestunde vor Augen, und der letzte Wunsch (…).
4. Dezember 2016 13:00