Gerald Koll
6. November 2015, ein Freitag
Gestern Abend vertrat ich im Aikido T.B. als Lehrer, die Stunde war alles andere als ein Glanzstück. Ich ging zu schnell durch suwari waza und shomen uchi, führte einige Techniken präzise aus und ließ sie nicht lang genug studieren.
Heute wieder als Schüler auf der Matte. Völlige Erschöpfung während der ersten Stunde. Geradenach übel wurde mir, als ich mich Ja sagen hörte, meine Reflexantwort auf senseis Frage, ob ich zur zweiten Stunde bliebe. Das hieß: zwischen der ersten und zweiten Trainingseinheit zunächst eine halbe Stunde meditieren, in einem klatschnassen, auskühlenden Anzug. Die zweite Stunde wurde recht gemächlich, aber ich bekam Krämpfe.
6. November 2016 09:45
Gerald Koll
5. November 2015, ein Donnerstag
Wie sehr ich sie doch mag, diese neue Wohnung mit ihren Seltsamkeiten. Im Bad ein Waschbeckchen, das eigentlich zu einer Puppenstube gehört; hingegen ein Balkon von kapitalen Maßen. Dazu eine perfekte Aussicht vom Schreibtisch: direkt durch zwei eingelassene Türfenster in die wohnliche Küche mit Truffaut in Goldrahmen.
Neu und anders als im Prenzlauer Berg, nämlich ungewöhnlich berlinerisch, lebt es sich in Weissensee am Weissensee. Man trifft hier zum Beispiel auf die unfreundlichsten Fleischfachverkäuferinnen der Welt. Sie haben Format. Was Fleischnichtesser da versäumen! Gleich daneben lokalisieren „Woolworth“, „Ein-Euro-Shop“ und „McGeiz“. Kürzlich erstand ich dort einen Eiskratzer mit vorzüglich gummiertem Griff für 10 Cent. Hingegen rar sind Hutgeschäfte.
Weissensee ist nicht ganz ungefährlich. In der Mitte der hauptsträßlichen Berliner Allee verläuft der Schienenstrang der Tram. Wer glaubt, schnell die Straßenseite wechseln und auf die Ampel verzichten zu können, unterschätzt, wie rege, rasant und rabiat Autos und Schienenfahrzeuge verkehren und wie eng der Zwischenraum zwischen Straße und Schiene ist. Schnell ist man eingekeilt zwischen Tram und Laster. Dann wird’s eng, gebremst wird nicht. Weissenseer mit Lebenswille verzichten daher oft ein Leben lang auf das Wechseln der Straßenseite. Man lebt hüben oder drüben. Der Bau der Schiene hat manche Familie zerrissen. Manchmal winkt man einander zu. Man tauscht Grüße. Es gibt ja auch Briefverkehr. Die Wirtschaft hat sich entsprechend eingerichtet. Geschäfte ähnlichen Sortiments sind spiegelbildlich angeordnet: zwei Apotheken, zwei Nagelstudios, zwei Friseure. Sogar Polstermöbelläden sind doppelt vorhanden. Zunächst hielt ich es für Konkurrenzdenken, doch die Duplizität entspringt stadtplanerischer Vor- und Umsicht. Indes scheint es nicht immer geholfen zu haben, manche Weissenseer scheinen die Teilung noch immer nicht begreifen zu können oder zu wollen. Konjunktur haben Bestattungsinstitute. Seit 1887 floriert das Bestattungsinstitut Kadach, und gleich nebenan – nein, nicht gegenüber, sondern auf dergleichen Straßenseite – wirbt Konkurrenz mit farbenfrohen Schaufenstern.
5. November 2016 09:35
Gerald Koll
4. November 2015, ein Mittwoch
Direkt nach dem Training: ein Abend mit Frau S., der kessen und cleveren Frau S., in die ich mich recht gern verlieben würde. Ich bin nur zu sehr in den Kitty-Körper vernarrt, als dass ich mich ohne weiteres umstellen mag auf den S-Körper, der völlig anders ist. Ein Graus ist das. Frau S. macht wenig Hehl aus ihrer Neigung. Im Gegenzug lasse ich’s mir gefallen und kann doch nicht recht einschwenken. Dabei könnte alles so nett sein: Frau S. holt fix vom Asiaten allerlei Lukullisches, es ist Sekt im Haus, die Kerzen brennen, und Frau S. hat Lust auf meine geliebte Serie Extras, sieht Folge für Folge, neun Folgen lang bis weit, sehr weit nach Mitternacht. Geht es denn paradiesischer? Es wird so spät, dass Frau S. glaubhaft macht, bei mir übernachten zu müssen – die Kulturtasche hat sie bereits mitgebracht. Ich richte das Sofa her und denke: flexibel ist sie und immer wieder imposant souverän.
Obwohl: Sie beendet Sätze erschreckend oft mit dem ins Ungefähre zielenden „also“. Als müsse man sich Ungesagtes – ja: Weiterführendes – noch dazudenken. Und überhaupt: Nicht auszudenken, bei der nächsten Gelegenheit die Zügel schießen zu lassen. Dass da bloß nichts Schlimmes geschieht.
Heute morgen: doch recht müde. Mein privates Familienalbum ergänzt um die Jahrgänge 1990 bis 2000. Bilder von abgeliebten Lieben. Melancholie auch angesichts eigener Alterungsspuren, die in den letzten Jahren besonders deutlich sind – totale Ergrauung, Aushärtung des Gesichts, Verlust alles Weichen und Vollen, nicht zu vergessen die rapide zunehmende Abhängigkeit von der Sehhilfe, die mich inzwischen, ohne dass ich es zugegeben hätte, zum Brillenträger gemacht hat, obwohl ich mich seit jeher als Nicht-Brillenträger verstehe – so wie jemand, der sich den Titel des Rauchers verbittet, obwohl er täglich raucht. Es setzt schon verstärkt 2007 ein, ungefähr mit Berlin, dieser Stadt des sichtbaren Siechtums.
4. November 2016 13:53
Hendrik Rost
Jetzt kurz vor der US-Wahl schrieb ich meiner Gastmutter von 1987/88, dass ich mich noch gut erinnere an mein Jahr in Washington, D.C., wo ich im Schatten des Kapitols in einem alten, halb fertigen Haus zweier Regierungsangestellter lebte. Nachts flackerten die Suchscheinwerfer der Helikopter durch die Gassen auf der Suche nach Einbrechern. Bush Senior löste Reagan ab. Ich spielte abends auf dem Asphalthof einer Schule in der Nachbarschaft Basketball mit denen, die gerade da waren, bis meine Gasteltern es mir verboten, wegen der offensichtlichen Gefahr, als einziger Weißer da rumzulungern. Also lag ich auf dem Bett in meinem Zimmer und lauschte die Grillen, die seit 17 Jahren zum ersten Mal wieder aus der Erde gestiegen waren. Pausenlos zirpten sie lauthals in den Wipfeln der Alleebäume, im Fensterrahmen rotierte ein Ventilator. Ich schrieb ihr, wie es ihr damit ginge, dass ein Hallodri (a rogue) Präsident werden könne. Sie antwortete postwendend, berichtete, schon vorab gewählt zu haben, und hoffte, ebenfalls einmal in einem progressiven Land (wie Deutschland) leben zu können, in dem eine Frau die Regierung führe. Sie lebt allein mit ihrer Tochter im jetzt fertigen Haus. Zwei Ehen mit Alkoholikern sind Geschichte. Mein Gastvater seinerzeit war glühender Anhänger der Todestrafe, sein Sohn, mit dem ich das Zimmer geteilt habe, war tiefgehend verunsichert, antwortete auf Fragen immer mit Minuten Verzögerung und hatte mir zu Ehren vor meiner Ankunft den Münsteraner Dom aus Streichhölzern in beachtlicher Größe nachgebaut. Sein bester und einziger Freund war Manni, ein Vietnamveteran, der in einer Vorort-Mall einen Laden für Militärmodelle betrieb. Meine Gastschwester hatte sich in einem kunstvoll vermüllten Zimmer verschanzt; in der Mitte ein Plattenspieler, auf dem immer wieder Fugazi rotierte. Im Stockwerk darunter schrien sich meine Gasteltern an, der Fernseher lief, eine amerikanische Debatte.
4. November 2016 12:55
Hendrik Rost
Vor dreißig Jahren habe ich zum ersten Mal ein Gedicht geschrieben; im Bus auf dem Weg zur Schule. Aufgehoben habe ich es nicht, aber es war wohl wie alles, was ich bis vor zehn Jahren geschrieben habe, im Wesentlichen Mumpitz. Mit nichts habe ich mich so ausgiebig und lange beschäftigt wie mit fremden und eigenen Gedichten. Und trotzdem könnte ich kaum etwas dazu darlegen. Außer: Relative Erfolglosigkeit und die Scham über den ständigen Verrat der allgemeinen Geheimnisse ergeben einen seltsamen kreativen Schub. In einer Welt, in der es entweder Wackelpeter und Konzinnität gibt oder kluge Stacheldrahtgeflechte suche ich nach Gedichten, die aus der Zeit in die Zeit gefallen sind.
„Es ist das Gegenwort, es ist das Wort, das den Draht zerreißt …“ Ihr wisst schon. Dreißig Jahre eine Kladde auf den Knien, irgendetwas kritzelnd – so gesehen ist es eine lange Zeit. Andererseits reicht sie für die Vorbereitung auf das Unheimliche kaum aus. Aber da will ich hin: jwd.
Für Sylvia Geist
2. November 2016 09:01
Gerald Koll
2. November 2015, ein Montag
Heute war es das zweite Mal (nach dem 17. Juli, damals noch mit Weißgurt), dass Sensei mich nach vorn rief, um als Uke herzuhalten. Erwartungsgemäß war meine Vorstellung einigermaßen peinlich, weil ich beim Kaiten-Nage sofort den Kontakt verlor. Eine seltsame Gemengelage zwischen Stolz und Scham. Öffentliches Scheitern. Aber zu scheitern ist besser, als nicht scheitern zu dürfen. Immer wieder scheitern, wieder und wieder. Und wieder. Und dann noch mal. Aikido ist Kalligrafie. Ueshiba ist Hokusai.
2. November 2016 00:35
Gerald Koll
31. Oktober 2015, ein Sonnabend
9 Uhr, gleich geht’s ins Freie Training. Gestern war Hochzeitsfeier: M+C heirateten nach zwanzig Jahren wilder Ehe. Unsre Aikido-Gruppe schwang sich zu einer kreativen Verzweiflungstat auf und veranstaltete ein halb- bis dreiviertelpeinliches Schwert-Gewürge, verabfolgt von einem Spalier und Überreichung eines Rollbildes. Schön war das Rollbild, erträglich das Spalier, unterirdisch die Performance, das mit Abstand Schlechteste, was wir jemals vorgeführt haben, und es ist nicht schönzureden. Dirk und ich hatten uns schon im Vorfeld ausgeklinkt und uns damit ein wenig zu Spielverderbern gestempelt. Eine sehr stinkige I. hatte mich gestern während des Trainings daher ignoriert.
Gleichzeitig ungezügelte Freude an unserer Gruppenseligkeit auf der Tanzfläche mit lauter Albereien, tolldreisten Tänzchen, seltsamen Sangeseinlagen, ungezügelten Hochs auf das „geile Leben“, die sofort um sich griffen und wir alle gemeinsam heiser und halbbetrunken skandierten.
17 Uhr. Zwischen 9 Uhr und jetzt liegt das Freie Training, und die Welt sieht anders aus. Ich erfuhr, wie schräg die Schwert-Performance-Absage angekommen ist. Ich erfuhr, dass Dirk und ich es waren, die damals beim gemeinsamen Ideensammeln hinsichtlich einer Hochzeits-Einlage geradezu federführend waren – ein Umstand, den ich völlig verdrängt hatte, aber E. wusste es genau. Wie hatten wir so töricht sein können, da in der Pizzeria das Feuer zu schüren?
31. Oktober 2016 11:30
Konstantin Ames
Jemandem das fluchse glück
(wie der fucks im märchen den

trauben ihr hochsein) neiden; nein, aber
jähen fall mit mit
leid überdecken, wo man selbst
schwer gewartet hat;
bojen waren nicht, eulen minder;
wie ein wenig urschleim zu kredenzen, wie; auf dem egal wäre
franziskustee noch aus stankt erkältungen gestanden
geschneide und miniatnuten
[vverb!] auf pastaritzenglitz
ehern rotz phlegma ins kloo
von der latte (methodenset) tropft macchiato
ist das ein* zentänz ein neuton
ist ein ei in liz taylors harren
passiert fairer prozess würde
das *e nicht wenn wer
den leuten sagt sie seien schön
(nerds« um 2008)
26. Oktober 2016 17:58
Gerald Koll
26. Oktober 2015, ein Montag
Was für eine rabiat miese Woche das war mit dieser knochendicken Erkältung. Aber doch so weit genesen, dass ich am Sonnabend gefahrlos den Hamburger Besuch, Ex M. mit Sohn J., empfangen konnte. Für J. ins Mitmachmuseum in den Prenzlauer Berg, wo in einer Art Fabrikgebäude ein Spielplatz installiert ist, der spielerisch all das Wissenswerte platziert, was urbaner Nachwuchs wissen muss (Straßenverkehr, Müll, Strom …). Man hopst und fährt, es hopsen und fahren Väter, deren Kinder längst müde sind. Heute Mittag gingen wir ins Planetarium, ein hervorragender Platz zum Schlafen. Lustigerweise habe ich für nachher, 17 Uhr, Freund D. einbestellt: vordergründig dazu, eine Duschstange zu montieren, hintergründig dazu, um D. mit M. zu verkuppeln, wobei jeder von beiden eingeweiht ist, allerdings ohne zu wissen, dass es der jeweils andere weiß. Eine womöglich etwas törichte Veranstaltung.
Insbesondere die gerahmten japanischen Fotografien an der Wand des Wohnzimmers sind ausnehmend schön.
26. Oktober 2016 10:47
Andreas Louis Seyerlein
MELDUNG. Nahe Brindisi, beihnahe zeitgleich, sind Menschen [ 128 Personen ] von hellblauer Haut wie aus dem Nichts heraus an Land gekommen. Man ist fiebrig, aber freundlich wie immer. – stop
> particles
23. Oktober 2016 20:46